Hamburg. Luis Technology hatte 2015 nur zwei Mitarbeiter. Heute ist das Unternehmen Deutschlands Marktführer für Lkw-Abbiegeassistenten.

Erst vor Kurzem ist es in Hamburg wieder passiert: Der Fahrer eines Lkw übersieht beim Abbiegen nach rechts eine Radfahrerin, die sich von hinten nähert. Der 12-Tonnen-Transporter erfasst die junge Frau und überrollt sie, die 19-jährige stirbt noch an der Unfallstelle. Später stellt sich heraus, dass der erst im Frühjahr 2021 zugelassene Lkw nicht mit einem sogenannten Abbiegeassistenten ausgerüstet war, der den Fahrer hätte warnen können.

Die Technik um solche Schreckensszenarien zu verhindern, oder ihre Zahl wenigstens deutlich zu verringern, ist schon seit vielen Jahren auf dem Markt. Doch eingebaut ist sie bislang erst in einem Bruchteil der mehr als 830.000 Lkw über 3,5 Tonnen und Omnibusse hierzulande. Nach einer aktuellen Schätzung des Radfahrerverbands ADFC sind weiterhin gut 90 Prozent dieser Fahrzeuge ohne Abbiegeassistent auf Deutschlands Straßen unterwegs.

Unfälle: Firma stellt Kamera-Monitor-Systeme her

Und es gibt die Befürchtung, dass es nur langsam mehr werden. „Voraussichtlich dauert es bis zur Mitte des nächsten Jahrzehnts, bis die Systeme flächendeckend im Einsatz sind“, sagt Martin Groschke, einer der beiden geschäftsführenden Gesellschafter der Hamburger Firma Luis Technology.

Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als „einen der führenden Hersteller für Kamera-Monitor-Systeme und Fahrerassistenzsysteme in Europa“. Bei Abbiegeassistenten dürfte es mit großem Abstand Marktführer hierzulande sein. „Wir haben in den vergangenen Jahren neun der zehn größten städtischen Müllwagenflotten und mehrere große private Entsorgungsunternehmen ausgerüstet“, sagt Groschke. Insgesamt habe Luis zwischen 2019 und 2021 um die 25.000 dieser Assistenten verkauft.

Auch Stadtreinigung nutzt System von Luis

Ein Großteil davon wird als Nachrüstsystem für einen niedrigen vierstelligen Eurobetrag eingebaut. Die Lkw-Hersteller Scania, MAN und Volvo bieten das Luis-System als Sonderausstattung an. Es besteht aus einer oben rechts an der Fahrerkabine installierten Kamera, die erfasst, ob sich ein Radfahrer neben oder hinter dem schweren Fahrzeug in die gleiche Richtung bewegt. Das Bild wird auf einen Monitor auf dem Armaturenbrett übertragen. Droht eine gefährliche Situation, ertönt ein Warnton.

Es gibt ein Förderprogramm des Bundesverkehrsministeriums mit bis zu 1500 Euro Zuschuss für eine Nachrüstung Und Hamburg hat die städtischen Fahrzeuge von mehr als 3,5 Tonnen Gewicht freiwillig und sehr frühzeitig mit Abbiegeassistenten ausgerüstet. Die Stadtreinigung ließ das System von Luis einbauen. Dem ADFC gilt die Hansestadt damit jedoch als eine Ausnahme. Der Fahrradfahrerverband orderte dieser Tage eine EU-weite Nachrüstpflicht. Andernfalls würden noch viele Jahre lang hunderttausende schwere Fahrzeuge ohne Assistent in Deutschland unterwegs sein.

Abbiegeassistent für einige Fahrzeuge obligatorisch

Tatsächlich ist – seit Anfang Juli – ein Abbiegeassistent hierzulande bislang nur für sämtliche Lang-Lkw (mehr als 25,25 Meter) obligatorisch. Wenige Tage vor dem tragischen Tod der 19-jährigen am Poppenbüttler Weg trat eine EU-Regelung in Kraft, nach der ganz neue Fahrzeugtypen zwingend einen Assistenten haben müssen. Erst ab Mitte 2024 aber müssen dann auch sämtliche neu zugelassenen Lkw über 3,5 Tonnen und Busse mit neun und mehr Sitzplätzen mit einem Abbiegewarnsystem ausgerüstet sein.

Einstweilen bleibt eine Nachrüstung EU-weit freiwillig. Andernorts wird weniger Rücksicht genommen auf die Interessen der Logistikbranche. So müssen seit Ende 2020 bestimmte Fahrzeuge, die in den Großraum London einfahren, so ausgerüstet sein, dass ungeschützte Verkehrsteilnehmer wie Rad- und Scooterfahrer sowie Fußgänger mehr Sicherheit haben.

Jedes Jahr gibt es einige Abbiegeunfälle

Wie viele Radfahrer bei Abbiegeunfällen ums Leben kommen, dazu gibt es unterschiedliche Angaben. Die Tragödie am Poppenbüttler Weg war die erste dieser Art in Hamburg in diesem Jahr, 2021 hatte es zwei solcher Unglücke in der Hansestadt gegeben. Bundesweit waren es laut ADFC im vergangenen Jahr 20. Nach Erkenntnissen der Unfallforschung der Versicherer starben 18 Menschen bei solchen Unglücken.

„Dazu können auch Fußgänger gehört haben, die Statistiken sind da nicht eindeutig“, sagt Siegfried Brockmann, der Leiter der Unfallforschung der Branche. Wie auch immer: 2020 hatte es noch deutlich mehr solcher Todesfälle gegeben. Doch die positive Tendenz habe nichts mit der langsam wachsenden Verbreitung der Assistenzsysteme zu tun, ist Brockmann überzeugt: „Das ist eine Folge des geringeren Verkehrsaufkommens während der Pandemie.“

Fahrer genervt von Warnton

Und nach der Ausrüstungspflicht für alle Neufahrzeuge ab Mitte 2024 werde es noch viele Jahre dauern, bis annähernd die gesamte deutsche Flotte mit Assistenten ausgestattet ist, sagen auch der Unfallforscher und der Luis-Chef. „Ein Lkw hat in Deutschland eine durchschnittliche Einsatzdauer von gut zehn Jahren. Das heißt, dass pro Jahr etwa ein Zehntel der Flotte erneuert wird“, sagt Groschke.

Bei der Weiterentwicklung des Luis-Abbiegeassistenten setzten er und sein Kompagnon Matthias Feistel auf die Zusammenarbeit mit der Hamburger Stadtreinigung und die Expertise von deren Fahrern. „Bei einer neuen Version des Assistenten haben wir 15 Veränderungen vorgenommen, alle Verbesserungsvorschläge kamen von den Fahrern.“ Die waren zum Beispiel ziemlich genervt vom Warnton, den die Entwickler ausgewählt hatten. „Wir haben drei neue Töne vorgeschlagen und den genommen, den die Praktiker am besten fanden“, sagt Groschke.

2015 gab es nur zwei Mitarbeiter

Als er und Feistel die Firma 2015 übernahmen, war sie eine Art Onlineshop für Rückfahrkameras und hatte zwei Beschäftigte. Mittlerweile arbeiten am Unternehmenssitz am Hammer Deich (Hammerbrook) gut 60 Menschen, 14 freie Stellen werden angeboten. Abbiegeassistenten und Rückfahrsicherheitssysteme tragen nur einen Teil zu den zuletzt gut zehn Millionen Euro Umsatz bei.

In Projekten installierten die Hamburger bereits Kameras an den Ansaugrüsseln von Straßenkehrmaschinen. Mittels künstlicher Intelligenz soll so ermittelt werden, wann und wo wie viel Dreck und Abfall zu beseitigen ist – um die Kehrmaschinen letztlich effektiver einsetzen zu können.

Kameras helfen, Äpfel schon beider Ernte automatisch zu sortieren

„In einem Projekt in Südtirol ging es darum, eine Apfelerntemaschine technisch so aufzurüsten, dass sie die für den Verkauf im Handel nicht geeigneten Früchte gleich aussortiert“, sagt Groschke. Ein großer Gabelstaplerbauer und ein namhafter Baumaschinenhersteller planten derzeit, ihre Fahrzeuge mit zusätzlichen Sicherheitssystemen von Luis auszustatten. Droht eine Kollision, werden die Fahrzeuge gebremst.

Und in absehbarer Zeit werde das Unternehmen ein Joint Venture mit einem großen Anhängerhersteller gründen. Kameras sollen die freien Flächen in dem Anhänger erkennen und es letztlich ermöglichen, die Transportkapazitäten besser zu vermarkten. Die Luis-Chefs stellten dieses Projekt im Wettbewerb um den Hamburger Innovationspreis 2022 vor. Und gewannen ihn in der Kategorie Wachstum.

Unfälle: Neuer Abbiegeassistent kommt auf den Markt

Laut der Mittelfristplanung der Geschäftsführung sollen es 2025 bereits 25 Millionen Euro Umsatz und etwa 125 Beschäftigte bei Luis sein. Im vierten Quartal werde ein neuer Abbiegeassistent auf den Markt kommen, sagt Groschke. „Er kann dann ungeschützte Verkehrsteilnehmer bis zu 34 Meter nach hinten und zehn Meter nach vorne identifizieren.“ Es ist die Lösung, die den Hamburgern, eine gute Ausgangsposition im Wettbewerb mit anderen Anbietern vor Beginn der Ausrüstungspflicht im Juli 2024 sichern soll.

Siegfried Brockmann hätte sich bei den technischen Vorgaben für die Abbiegeassistenten noch mehr gewünscht. „Derzeit ist nur ein optisches Warnsignal verpflichtend, ein akustischer Hinweis wäre besser gewesen.“ Also ein Warnton statt eines leuchtenden Lämpchens. „Entscheidend ist ja, dass der Fahrer sofort bremst. Schon eine Sekunde Verzögerung ist zu viel.“ Am liebsten wäre dem Unfallforscher, wenn der Assistent nicht nur warnt, sondern auch eingreift und selbstständig bremst. „Das wäre der Goldstandard.“ Doch derzeit plane wohl nur ein großer Lkw-Hersteller, sein eigenes Assistenzsystem um eine Notbremsfunktion zu erweitern.