Hamburg. Marc Opelt, Vorstandssprecher von Deutschlands größtem Online-Händler, über Erwartungsdruck und den Unterschied zu Amazon.

Marc Opelt muss überlegen, wann er das letzte Mal in seinem Büro auf dem Otto-Campus in Bramfeld war. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Vorstandssprecher wie fast alle etwa 5000 Beschäftigten des Online-Händlers in Hamburg seinen Arbeitsplatz zu Hause eingerichtet. Für das exklusive Abendblatt-Interview macht er eine Ausnahme. Der 59-Jährige, der vor mehr als 30 Jahren bei dem ehemaligen Versandhändler angeheuert hatte, hat gute Zahlen für das vergangene Geschäftsjahr vorzuweisen und ist mit dem Unternehmen weiter auf Wachstumskurs.

Denn auch im zweiten Corona-Jahr ist der Online-Händler Otto gewachsen – allerdings deutlich weniger als im Vorjahr. Das größte Unternehmen der Hamburger Otto Group steigerte seinen Umsatz um 13 Prozent auf 5,1 Milliarden Euro, sagte Opelt bei der Bilanzpressekonferenz am Dienstag. Im Vorjahr mit zahlreichen pandemiebedingten Beschränkungen hatte der Zuwachs bei gut 30 Prozent gelegen. Die Zahl der aktiven Kunden wuchs von 9,9 auf 11,5 Millionen.

Wichtigster Wachstumsfaktor ist die Öffnung als Marktplatz, auf dem inzwischen 3300 Händler aktiv sind. Der Umsatz inklusive der Partnerfirmen, das sogenannte Gross Mercandising Volume (GMV), liegt bei 6,97 Milliarden (plus 24 Prozent im Vergleich zum Vorjahr). Knapp zehn Millionen Artikel sind derzeit auf der Plattform bestellbar. Bis Ende 2022 soll die Zahl laut Opelt auf 15 Millionen steigen. Für 700.000 Produkte garantiert Otto eine Zustellung am nächsten Tag, wenn bis 20 Uhr bestellt wurde.

Hamburger Abendblatt: Herr Opelt, Otto hat im ersten Corona-Jahr ein Umsatzplus von 30 Prozent erreicht – und ist damit ein klarer Pandemie-Gewinner. Wie groß ist der Erwartungsdruck an Sie, dass es auf diesem Niveau weitergeht?

Marc Opelt: Ich bin es gewöhnt mit Druck umzugehen. Und ich bin sehr stolz auf das, was wir bei Otto geschafft haben. Nach dem enormen Umsatzplus im Vorjahr sind wir noch mal um 13 Prozent gewachsen. Auch die Kundenzahl konnten wir steigern: von 9,9 Millionen auf 11,5 Millionen Kunden. Aber es zeichnet sich ab, dass sich das Kaufverhalten in diesem Jahr ändert. Insofern wird es nicht einfach, diese Dynamik beizubehalten. Aber wir sind gut aufgestellt.

Gab es Überraschungen, bei dem was die Kunden kaufen?

Im ersten Corona-Jahr wurde alles bestellt, um sich das Zuhause schöner zu machen. Möbel und Heimwerkerbedarf, aber auch Computermonitore für das Homeoffice. Im zweiten Jahr gab es mehr Möglichkeiten, unter Menschen zu sein. Es wird wieder mehr Mode gekauft.

Was ist die Zielmarke für das laufende Jahr 2022/23?

Wir haben Pläne, über die wir nicht öffentlich sprechen. Aber es zeichnet sich schon ab, dass es durch den Krieg in der Ukraine wieder ein sehr herausforderndes Jahr wird. Dazu kommen die Energiepreis-Entwicklung und eine Inflation, die noch nie so spürbar für Verbraucher und Verbraucherinnen war. Wir merken eine starke Verunsicherung, und die zeigt sich auch im Kaufverhalten. Viel wichtiger ist es aber aktuell, dass wir die fliehenden Menschen unterstützen, sie sicher bei uns unterbringen. Und daran beteiligen wir uns bei Otto und in der gesamten Otto Group.

Wie betrifft der Krieg Otto konkret?

Weder in der Ukraine noch in Russland sind wir aktiv. In Belarus haben wir bislang mit insbesondere privat- und genossenschaftlich organisierten Lieferanten im Bereich Home and Living zusammengearbeitet. Diese Geschäftsbeziehungen werden jetzt durch die EU-Verordnungen reglementiert.

Otto auch vom Krieg in der Ukraine betroffen

Retouren sind ein wichtiges – und teures – Thema für den Online-Handel. Wie hoch ist die Quote bei Otto?

Insgesamt sind die Retouren auch 2021/22 auf einem niedrigeren Niveau als vor Corona. Aber so pauschal kann man das nicht sagen. Möbel werden viel seltener zurückgegeben als Textilien oder Schuhe. Deshalb steigen die Quoten, wenn wieder mehr Mode bestellt wird.

Gibt es Pläne, Retouren kostenpflichtig zu machen?

Nein, das ist im Moment nicht geplant. Aber wir versuchen die Beratung vor dem Kauf immer weiter zu verbessern, um so Retouren zu vermeiden.

Von außen betrachtet befindet sich das Unternehmen seit Jahren in einem riesigen Umbauprozess vom klassischen Versandhändler zu einem digitalen Marktplatz. Wann ist das abgeschlossen?

Wir sind mittendrin, aber haben schon viele Meilensteine erreicht. Neben unserem eigenen Angebot sind inzwischen 3500 Partner mit 7,5 Millionen Produkten auf der Plattform. Insgesamt 10 Millionen Produkte. Der Marktplatz, den wir selbst gebaut haben, hat aus dem Stand deutlich über eine Milliarde Euro Umsatz gemacht und wächst stetig. Dazu kommt als dritte Erlös-Säule ein neuer Advertising-Service, über den wir unseren Lieferanten und Partnern ermöglichen, auf otto.de mit bezahlten Anzeigen Werbung zu machen. Ein weiterer riesiger Restrukturierungsbaustein ist das Projekt New, das zum ersten Mal die neuen Geschäftsfelder in der Organisation abbildet und bis 2024 abgeschlossen sein soll.

Das hat schon zu erheblicher Unruhe geführt, weil damit auch der Wegfall von mehreren hundert Stellen verbunden ist. Hat Otto inzwischen Beschäftigte entlassen?

Von den Maßnahmen im Rahmen von New haben wir den Teil, der bis zum Stichtag 1. März geplant war, gemeinsam mit dem Betriebsrat umgesetzt. Betroffen sind kleine Geschäftsbereiche wie Schlafwelt und cnouch oder das inzwischen eingestellten Mietangebot von Otto Now. Auch den Bereich gedruckter Prospekte und Kataloge haben wir weiter zurückgefahren. Wir haben im ersten Schritt 150 Stellen abgebaut. Bislang sind 80 Beschäftigte intern vermittelt, bei den anderen 70 laufen Gespräche. Aber man muss dazu sagen, dass allein bei New auch 80 neue Stellen geschaffen wurden. Insgesamt haben wir bei Otto aktuell 180 offene Stellen, vor allem in technologischen Bereichen. Zum Vergleich: in den vergangenen sechs Monaten haben wir 350 Mitarbeiter eingestellt, in 2021 rund 670.

Amazon kennt jeder. Otto hat eher das Image, vor allem die Älteren anzusprechen. Wo sehen Sie in Zukunft ihren Platz?

Nachhaltigkeit, Inspiration und Persönliches – dafür stehen wir. Gerade beim Thema Nachhaltigkeit wollen wir uns abheben. Wir sind nicht bereit, jedes Produkt auf die Plattform zu lassen. Und was unsere Zielgruppen betrifft, muss ich widersprechen. Seit vier Jahren verjüngen wir unseren Kundenstamm.

Wie hoch ist der Anteil der Kunden unter 35 Jahren?

Das sind rund 30 Prozent. Es wächst eine Generation nach, die genauer hinschaut. Gerade die Option, sich nachhaltige Artikel anzeigen zu lassen, wird von Jüngeren genutzt. Da haben wir bereits ein Angebot von mehr als 500.000 Produkten. Wir wollen die nachhaltige Plattform sein. Dazu gehört auch die CO2-freie Lieferung und Verpackungstüten, die aus recyceltem Plastik bestehen. Ganz neu ist, dass wir Kunststoff-Material einsetzen wollen, das kompostierbar ist. Dazu starten wir gerade eine Testphase mit dem Hamburger Start-up Traceless.

Otto baut auf dem Gelände in Bramfeld eine neue Zentrale. Lohnt sich das noch, wenn eine Vielzahl der Beschäftigten auch weiterhin größtenteils von zuhause arbeiten will?

Wir kommen mit dem Umbau gut vorwärts. Die Fenster sind drin, der Innenhof und die Etagen entstehen. Wir hoffen auf eine Fertigstellung im nächsten Jahr. Aber natürlich haben wir uns nach den Erfahrungen mit mobilem Arbeiten die Pläne nochmal angeschaut. Es wird eine stärkere Verschiebung zwischen Gemeinschaftsflächen und Arbeitsplätzen geben. Übrigens auch mit einem höheren Anteil an geteilten Arbeitsplätzen. Wir planen auch mehr Räume, in denen hybrides Arbeiten möglich ist - mit Menschen vor Ort und denen, die von zuhause zugeschaltet werden. Bei weiteren Gebäuden, die wir angesichts des geplanten Wachstumskurses im Blick hatten, werden wir allerdings die Geschwindigkeit beim Umbau reduzieren.

Wie oft waren Sie selbst in den vergangenen zwei Jahren im Büro?

Ich war immer mal wieder da. Im Sommer auch regelmäßig zwei Tage die Woche. Aber seitdem dann die nächste Corona-Welle kam, bin ich wieder konsequent zu Hause. Jetzt muss man abwarten, wie es nach dem Ende der Homeoffice-Pflicht weitergeht. Die Beschäftigten sollen nach und nach zurückkommen. Dafür werden wir auch Anreize schaffen, wie Workshops oder kostenlose Mittagsangebote in unserer Kantine. Denn es ist sehr klar, dass wir eine Campus-Organisation sind und kein Unternehmen werden wollen, dass nur digital arbeitet. Unser Herz, unsere DNA ist hier auf dem Otto-Gelände, auch wenn wir flexible Arbeitsmodelle weiter ausbauen.

Eine persönliche Frage noch: Ihr Vorgänger Alexander Birken ist nach fünf Jahren als Sprecher der Einzelgesellschaft Otto zum Vorstandsvorsitzenden der Otto Group aufgestiegen? Was sind ihre Pläne nach fünf Jahren im Amt?

Ich finde, dass ich einen großartigen Job habe. Wir arbeiten hier mit großem Vertrauen der Eigentümerfamilie daran, das Unternehmen transformieren zu dürfen. Und es macht mich sehr stolz, wie viel wir schon geschafft haben. Also, keine Pläne für eine Veränderung.