Hamburg. Der Hamburger Feinkost-Hersteller Carl Kühne sucht eine Antwort. 300 Jahre ist das Unternehmen alt – und erfindet sich gerade neu.
Alexander Kühnen könnte es sich leicht machen: Gewürzgurken, Salatdressings, servierfertiger Rot- und Sauerkohl – all das, was die Hamburger Carl Kühne KG herstellt und auch nach Russland verkauft, steht nicht auf den Listen der Sanktionen, die seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine gegen das von Wladimir Putin geführte Land beschlossen worden sind. Rein rechtlich spräche derzeit also nichts dagegen, weiterhin Sauerkonserven, Saucen, Essig oder Senf in das Land zu liefern, dessen Führung einen Krieg in Europa losgebrochen hat, dessen Truppen tief in das Nachbarland eingedrungen sind.
Doch was juristisch einwandfrei im Handel mit Russland sein mag, ist eben nur eine von sehr vielen Fragen – und angesichts des Leids der ukrainischen Bevölkerung bei Weitem nicht die wichtigste, findet der Kühne-Geschäftsführer Kühnen. Die Gedanken des Feinkost-Managers kreisen eher darum, was der Krieg mit den Menschen macht und ob das Unternehmen den russischen Markt freiwillig aufgeben sollte. „Ist es moralisch vertretbar, weiter Gurken nach Russland zu liefern? Und was wäre die Folge, wenn wir es nicht mehr tun?“, fragt Kühnen sich.
Sollte man noch Gurken nach Russland liefern?
Wäre etwas gewonnen, wenn der russische Importeur in die Pleite rutscht? Wäre es richtig und wirksam, wenn Kunden im Putin-Reich keine Kühne-Produkte mehr kaufen könnten, die in der Mittelschicht in Moskau und St. Petersburg beliebt sind? Kühnen hat noch keine abschließenden Antworten.
Er hat das erst einmal zurückgestellt. „Wir konferieren morgen mit unserem russischen Partner, ob und wie die aktuellen Probleme gelöst werden können“, sagt der Vorsitzende der Geschäftsführung an Tag sechs nach Kriegsbeginn. Bis vor Kurzem ging fast täglich eine Lieferung nach Russland, jetzt ist die Lieferkette abgerissen. Völlig unklar ist, ob und gegebenenfalls wie Zahlungen zwischen Hersteller und Importeur abgewickelt werden können. Der hat bislang auch in die Ukraine geliefert. Da geht jetzt gar nichts mehr. Ohnehin ist aus dem Land, das sich gegen die Invasoren wehrt, seit vergangenem Donnerstag keine einzige Bestellung eingegangen. Man hat dort andere Sorgen.
Rekordumsatz für Hamburger Carl Kühne KG
Für die Kühne KG selbst wäre ein kompletter Wegfall des Russland-Geschäfts wohl nicht dramatisch, aber spürbar. „Russland ist unser zweitgrößter Exportmarkt, in dem wir keine eigene Niederlassung haben“, sagt Kühnen. Die Erlöse beliefen sich auf weniger als zwei Prozent des Gesamtumsatzes. Das sind etwa fünf bis sechs Millionen Euro pro Jahr. „Der russische Markt ist für uns von Relevanz.“ Erst die Moral, dann das Geschäft – oder doch andersherum? Das bleibt einstweilen offen.
Kühnen führt das Unternehmen seit Dezember 2019. Gut drei Monate später brach die Pandemie aus. Der Absatz in den Supermärkten ging steil nach oben, das Geschäft als Gastronomiezulieferer brach ein. Nach den jüngsten veröffentlichten Zahlen stieg der Umsatz im Geschäftsjahr 2019/20 gleichwohl leicht auf etwa 344 Millionen Euro, unter dem Strich blieben knapp vier Millionen Euro Gewinn. Im Mitte vergangenen Jahres beendeten und komplett von Corona bestimmten Geschäftsjahr 2020/21 habe es einen neuen Rekordumsatz gegeben. „Das Geschäftsergebnis insgesamt war zufriedenstellend“, sagt Kühnen. Und auch in diesem Jahr laufe es gut.
Gurken: Das Ende für künstliche Zusatzstoffe
Für das Unternehmen ist es ein besonderes, es ist das Jahr des 300-jährigen Bestehens. Die Carl Kühne KG, 1722 in Berlin als kleine Essigbrauerei gegründet, ist damit eines der ältesten Familienunternehmen Deutschlands. Derzeit ist sie im Besitz der zehnten Generation. Es war eine wechselvolle Geschichte, die auch von Krieg bestimmt war. Hamburg ist erst seit 1945 der Hauptsitz. Damals unterhielt Kühne bereits eine Essigfabrik in der Hansestadt. Seitdem die vor Jahrzehnten abbrannte, sitzen an den Kühnehöfen in Bahrenfeld allein die jetzt gut 200 Beschäftigten der Verwaltung und der Produktentwicklung.
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Was Carl Kühne neu auf den Markt bringt, wird in Hamburg erdacht und bis zur Marktreife entwickelt. Seit knapp einem Jahr gilt dabei die Maxime: Es sind keinerlei künstliche Zusatzstoffe mehr drin. Drei „Natürlich Gut“-Salatsaucen sind im Handel, die zu hundert Prozent aus natürlichen Zutaten bestehen und ohne Aromen, Konservierungsstoffe, Farbstoffe, Geschmacksverstärker, Süßungsmittel oder Zusätze mit E-Nummern auskommen. Bei den jüngst gelaunchten „Pure Cornichons“ ist es ebenso.
Carl Kühne KG: „Strategische Neuausrichtung“
Sie gelten als die größte Gurkeninnovation des Unternehmens seit 30 Jahren. „Der Geschmack stammt allein aus den Zutaten“, sagt Kühnen. Dieser Tage kommen zwei Würzsaucen in den Handel, die eine Erweiterung der Grillsaucen-Linie „Made for Meat“ sind und einen abgewandelten Namen tragen: „Made for Veggies“. Erstmals weist das Unternehmen, das seit 300 Jahren ausschließlich vegetarische Produkte herstellt, darauf explizit hin. Mehr noch: Seit Kurzem firmiert die traditionsreiche Firma als „The Veggie Company“.
Die veränderten Ernährungsgewohnheiten der Kunden, eine innere Erneuerung, das Ablegen des Images eines konservativen Konservenkonzerns und die Gewinnung neuer, jüngerer Zielgruppen – all das gehört zu den Gründen für den offensiven, neuen Kurs. Das Management nennt es eine „konsequente, strategische Neuausrichtung“. Alexander Kühnen sieht Anzeichen, dass sie bei den Kunden Erfolg hat. „Die neuen Produkte entwickeln sich gut, ohne dass dies zulasten der etablierten Gewürzgurken und Saucen geht.“
Gurkenschlemmertöpfchen 30 Cent teurer
In den nächsten Jahren sollen nun nach und nach sämtliche Kühne-Produkte von Zusatzstoffen befreit werden. „Die Rezepte entsprechend zu verändern, ist nicht immer ganz einfach“, sagt Kühnen. Andere Zutaten können schnell ins Geld gehen. Noch einen Schritt weiter zu gehen und Gewürzgurken oder Rotkohl in Bioqualität anzubieten ist allerdings keine Option. Das hochempfindliche Gemüse wäre viel zu teuer, wenn es sich denn überhaupt verlässlich beschaffen ließe. „Das ist preislich nicht umsetzbar. Ein Glas würde doppelt so viel kosten“, sagt Kühnen.
Bei den konventionellen Rohstoffen registriert das Unternehmen ohnehin schon so hohe Preissteigerungen wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Das betrifft nicht nur Energie und Paletten („Der Preis hat sich verdoppelt.“), sondern auch das Gemüse selbst, zudem Rapsöl, das zwei Drittel einer Mayonnaise ausmacht und Senfsaat, den Grundstoff von Mostrich. In den Jahresverhandlungen mit den Supermarktketten hat Carl Kühne Preiserhöhungen vereinbaren können. Die unverbindliche Preisempfehlung für ein Gurkenschlemmertöpfchen liegt jetzt bei knapp 3 Euro und damit 30 Cent höher als zuvor.
Ukraine-Krieg: Lieferengpässe drohen
„Ich erwarte, dass unsere Beschaffungskosten auch weiter massiv steigen werden“, sagt Alexander Kühnen. Auch, weil ein Teil der Rohstoffe aus der Ukraine kommt. Die Hamburger beziehen direkt von dort Senfsaat, Tomatenmark und Blütenhonig und den Rohstoff für Sonnenblumen- und Rapsöl. Wenn der Krieg lange andauert, heißt es, könnte es sogar Lieferengpässe geben.