Berlin. Nach jahrelangem Protest machen sich Konzernchefs jetzt für den Klimaschutz stark. Die deutsche Industrie will „ein Vorbild bleiben“.

Die jüngste Initiative für mehr Klimaschutz kommt aus einer Ecke, aus der sie wohl die wenigsten vermutet hätten. 69 deutsche Großkonzerne sind dabei, darunter Thyssenkrupp, der Energieversorger Eon, die Lebensmittelhändler Aldi und Rewe sowie die Drogeriekette Rossmann. Die Initiative fordert zum Auftakt der rot-grün-gelben Koalitionsverhandlungen, die neue Bundesregierung müsse „jetzt den Rahmen setzen, damit wir als Unternehmer Klimaneutralität zum Markenzeichen der deutschen Wirtschaft machen können“.

Diese Worte von Stiftungspräsident Michael Otto, Aufsichtsratschef des gleichnamigen Versandhändlers, hat viele überrascht. Spricht da die deutsche Wirtschaft, die bis vor wenigen Jahren noch bei jedem verpflichtenden Schritt zu mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz über ihre Lobbyverbände vor Überforderung und Deindus­trialisierung warnte?

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Offenbar. Scheitere Deutschland, werde der Wohlstand des ganzen Landes gefährdet, warnt Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). „Wir wollen Vorbild bleiben“, sagt er, „zeigen, dass Klimaschutz made in Germany funktioniert.“ Es geht um den Markenkern der deutschen Industrie: Sie ist der Konkurrenz immer einen Schritt voraus. Fällt sie auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft zurück, hat das bittere Konsequenzen fürs Geschäft und für die Arbeitsplätze.

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Es geht ein Ruck durch die deutsche Wirtschaft. „Das hätte es vor zehn Jahren noch nicht gegeben – dass sowohl Großkonzerne als auch Mittelständler in solch einem Aufruf oder auch der neuen Studie des BDI die Bundesregierung auffordern, klare Rahmenbedingungen für den Übergang zum klimaneutralen Wirtschaften zu schaffen“, sagt Karsten Neuhoff.

Umweltschutz: Druck zur Veränderung kommt aus der Gesellschaft

Der Professor für Energie- und Klimapolitik an der TU Berlin leitet seit 2011 die Abteilung Klimapolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), kennt die Beweggründe der Konzernlenker. Es geht um die Sicherung des Geschäfts. „Die größten Volkswirtschaften der Welt haben sich auf den Weg zur Klimaneutralität gemacht“, sagt Neuhoff. „Somit können auch nur klimaneutrale Technologien und Geschäftsmodelle langfristig erfolgreich sein.“

Der Druck komme aus der Gesellschaft. „Immer mehr Unternehmen wissen – KundInnen, MitarbeiterInnen, InvestorInnen und die Politik nehmen die Klimakrise ernst“, sagt er. Deswegen entwickelten die Firmen neue Produkte, wie E-Autos und neue Produktionsprozesse, etwa für klimaneutrale Stahlherstellung. Das erfordere oft größere Investitionsentscheidungen, und dafür würden der Wirtschaft die staatlichen Rahmenbedingungen in vielen Feldern noch nicht ausreichen. Daher rühren wohl die ungewohnten und lauten Töne der Industrie-Initiativen.

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Mittelstand: Jedes dritte Unternehmen hat Nachhaltigkeitsstrategie

Doch Nachhaltigkeit ist weit mehr als Klima- und Umweltschutz. Es geht auch um das Zusammenspiel von Ökologie, Ökonomie und sozialer Verantwortung. Dieser Gedanke erreicht zunehmend auch den deutschen Mittelstand. Etwa jedes dritte Unternehmen hat bereits eine Nachhaltigkeitsstrategie, bei einem weiteren Drittel ist sie in Planung, zeigt die diesjährige Mittelstandsstudie der Commerzbank. Klarer Tenor: Vier von fünf Mittelständlern sehen Nachhaltigkeit als maßgeblich für einen dauerhaften Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Wie gut Nachhaltigkeit fürs Geschäft ist, zeigen etliche erfolgreiche Unternehmen. Der schwedische Hafermilchproduzent Oatly etwa verdrängt in seinem Heimatland die herkömmliche Kuhmilch Meter um Meter aus den Ladenregalen. Das deutsche Traditionsunternehmen Rügenwalder Mühle verkauft inzwischen mehr vegetarische und vegane Fleischalternativen als klassische Wurst und feiert Umsatzrekorde. Die Konsumenten und Konsumentinnen freuen sich über solche Produkte: Für jeden Zweiten (51 Prozent) spielt Nachhaltigkeit beim Einkaufen eine große Rolle, fand kürzlich eine Studie des Instituts für Handelsforschung in Köln für den Handelsverband Deutschland (HDE) heraus.

Auch wenn’s ums Geld geht, setzen immer mehr Menschen auf Nachhaltigkeit. Die Bochumer Alternativbank GLS steigerte ihre Kundenzahl in diesem Jahr innerhalb von weniger als vier Monaten um 20.000 auf 300.000. Die Bank will mit ihrem Geld die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft gestalten. Genauso boomen grüne Anlagen, deren Renditen sich im Vergleich zu konventionellen Investments oft sehen lassen können.

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Greenwashing: Kompensationen gelten nicht mehr

Doch längst nicht alles, was einen grünen Anstrich hat, ist nachhaltig. Dann ist von Greenwashing die Rede. „Greenwashing ist, wenn ein Unternehmen ein Produkt als nachhaltig vermarktet, obwohl das Produkt eine umweltschädliche Wirkung hat, entweder in Produktion, Betrieb oder bei der Entsorgung“, erläutert DIW-Experte Neuhoff.

Diesen Vorwurf muss sich etwa Vodafone für „grüne“ Mobilfunktarife gefallen lassen. Der Konzern zahlt Geld an Klimaschutzprojekte, um rechnerisch klimaneutral zu werden. Doch diese Kompensationen gelten nicht mehr als tauglich, um die Klimaziele zu erreichen – es komme aufs Reduzieren und Vermeiden der Emissionen an, betont die Organisation Greenpeace.

Da ist der Volkswagen-Konzern einige Schritte weiter. Nachdem mit dem großen Knall des Diesel-Skandals klar wurde, dass es mit Tricksereien nicht mehr weitergeht, hat der Konzern radikal umgesteuert. Jetzt will sich VW schneller vom Verbrennungsmotor verabschieden als bis 2035, wie von der EU gefordert. „Vielleicht hat der Weckruf geholfen, dass die Konzerne den Technologiesprung zur Elektromobilität dann doch nicht verschlafen haben“, sagt Experte Neuhoff.

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