Hamburg. Anne und Stefan Lemcke ziehen vorübergehend auf die Balearen-Insel. Auch andere Chefs arbeiten dort, wo viele sonst Urlaub machen.
Die Vorbereitungen laufen schon einige Monate im Hintergrund. Jetzt sind die Lemckes unterwegs. Die Ankerkraut-Gründer verlagern ihren Wohnsitz nach Mallorca und führen die Geschäfte ihrer Hamburger Gewürzmanufaktur ab sofort dort, wo andere Urlaub machen. Planungszeitraum: ein Jahr. Und das hat nichts mit Corona zu tun. „Wir haben nach zwei Todesfällen in der Familie gemerkt, dass wir mal rausmüssen“, sagt Anne Lemcke.
Gemeinsam mit Tochter Ida ist sie früh am Freitagmorgen in ein Flugzeug nach Palma gestiegen. Quasi als Vorhut. Ehemann Stefan macht sich am Sonntag mit Sohn Lio und den beiden Hunden Erna und Fips im Auto auf den Weg. Der Umzug auf die spanische Ferieninsel ist ein Familien-Abenteuer – ein Selbstversuch in mobiler Unternehmensführung. Und das mitten in einer rasanten Wachstumsphase. Inzwischen sind 200 Frauen und Männer bei Ankerkraut beschäftigt und erwirtschaften 60 Millionen Euro Jahresumsatz. Außerdem gibt es diverse Expansionspläne, und dann ist da noch die Pandemie. Wie geht das alles, wenn die Chefs plötzlich ganz woanders sind?
Ankerkraut: Umzugskartons und Fahrräder sind schon abgeholt
„Wir sind jeden Tag online erreichbar“, sagen die Firmeninhaber einige Tage vor dem Start. Umzugskartons und Fahrräder aus dem Haus in Jesteburg sind schon abgeholt und auf dem Weg in die neue Heimat auf Zeit. In Santa Ponça, einer 10.000-Einwohner-Gemeinde im Südwesten der Insel, haben die Lemckes sich eingemietet. Nicht in einer schicken Finca, sondern in einem möblierten Reihenhaus nahe der Internationalen Schule, die die acht und neun Jahre alten Kinder ab September besuchen.
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Anne und Stefan Lemcke, die beim Teilverkauf ihrer Firmenanteile im vergangenen Jahr einen zweistelligen Millionen-Betrag erlöst haben, wollen ganz bodenständig in einem Coworking-Büro arbeiten. Immer von 11 bis 15 Uhr. „Wir haben in den vergangenen eineinhalb Jahren vor allem digital gearbeitet und gehen davon aus, dass es auch im nächsten Jahr so bleibt“, sagt Co-Geschäftsführerin Anne Lemcke. Einmal im Monat, so der Plan, kommen sie oder ihr Mann nach Hamburg, um Termine wahrzunehmen.
Maren Wagener ist eine Pionierin
Dass das funktionieren kann, zeigen andere, die es so oder ähnlich machen. Eine Pionierin ist Maren Wagener, die ihre Hamburger Digitalagentur Vast Forward mit Ehemann Matthias von einem Katamaran im Mittelmeer aus steuert. Schon 2015, lange vor der Pandemie in einer Zeit, als Arbeiten irgendwo anders als im Büro noch kritisch beäugt wurde, ist das Ehepaar aufs Boot gezogen.
„Wir haben uns gefragt, ob wir unser Geschäft nicht da machen können, wo die Sonne öfter scheint und das Wasser wärmer ist“, sagt die 45 Jahre alte Firmenchefin und begeisterte Seglerin. Das Gespräch mit dem Abendblatt findet per Video-Call statt. Was als Experiment begann, war schon ein Jahr später Lebens- und Arbeitsalltag. An der offiziellen Unternehmensadresse in der Hamburger Neustadt steht nur noch ein Schreibtisch. Die Wohnung in Altona haben die Wageners längst aufgelöst.
Für die Auftraggeber ist der Firmensitz egal
Das Unternehmen, das im Auftrag anderer Agenturen Internetseiten und Apps programmiert oder digitale Werbebanner erstellt, arbeitet komplett dezentral. Es gibt acht festangestellte Projektmanagerinnen mit Wohnsitzen in Hamburg, Leipzig, auf der dänischen Insel Aero und anderswo in Europa. Außerdem ein großes Netzwerk von Freelancern, die sich um mehrere Dutzend Kunden und Projekte im Jahr kümmern.
„Für unsere Auftraggeber ist es egal, wo wir sind“, sagt Matthias Wagener. Der 52-Jährige, der früher große Unternehmen zu Themen wie Virtual Leadership oder New Work beraten hat, ist inzwischen fester Partner im Führungsteam von Vast Forward. Vorbilder für das ungewöhnliche Arbeitskonzept gab es nicht und gibt es auch jetzt nicht. „Wir haben unsere eigenen Ideen verwirklicht“, sagt Maren Wagener. Nicht Kontrolle sei entscheidend, sondern Vertrauen. „Aber das bedeutet nicht, die Steuerung aufzugeben.“
Dazu gehört auch, dass die Bildschirmarbeit bis zum frühen Nachmittag erledigt sein soll, damit nachmittags Zeit für anderes ist. Segeln zum Beispiel. Mehr als 10.000 Seemeilen hat das Unternehmerpaar in sechs Jahren zurückgelegt. Der aktuelle Ankerplatz lässt sich auf ihrer Internetseite verfolgen. Gerade liegt die „Vast“ in Port d’Andratx auf Mallorca. Zum ersten Mal, seitdem sie ihren Arbeitsplatz aufs Wasser verlagert haben, sind die Wageners an einen Ort zurückgekehrt, an dem sie schon mal waren.
Der Arbeitsalltag hat sich geändert
„Wegen Corona sind wir im März 2020 auf Mallorca gestrandet“, sagt Maren Wagener. Auch der Arbeitsalltag hat sich geändert. An jedem Arbeitstag gibt es jetzt um 11 Uhr vormittags ein virtuelles Treffen verpflichtend für alle, dazu regelmäßige Termine für interne Online-Fortbildungen. Und einmal in der Woche eine Online-Yoga-Stunde. „Wir haben viel gelernt in den vergangenen Monaten. Unsere Flexibilität hat uns geholfen, durch die Krise zu kommen“, sagt Matthias Wagener.
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Gerade ist das Ehepaar zu einem Heimaturlaub in Deutschland. Familie und Freunde treffen, Arzt-Termine stehen an und Kunden-Besuche. Nachdem die Aufträge in der ersten Zeit der Pandemie stagnierten, hat sich das Geschäft inzwischen wieder eingepegelt. Mit 1,7 Millionen Euro lag der Umsatz 2020 sogar leicht über dem von 2019. Eigentlich, sagen die Wageners, hätten sie erwartet, dass andere Firmen jetzt mehr Austausch von Erfahrungen und Ratschlägen zum mobilen Arbeiten suchen. „Das ist gar nicht so“, sagt Maren Wagener. „Aber wir sind vorbereitet.“
Vor allem Start-ups prägen den neuen Trend
Vor allem Start-ups und junge Unternehmen arbeiten immer häufiger mobil oder „remote“, wie das Arbeiten außerhalb des Büros in der Fachsprache heißt. Und das nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie, die den Trend weiterwachsen lässt. Konkrete Zahlen gibt es nicht. Schon früh dabei waren die Mitarbeiter des Potsdamer Unternehmens Komoot, die eine Navigations-App und Tourenverzeichnis für Wanderungen und Radtripps anbieten und in der ganzen Welt zerstreut sind.
Auch beim Berliner Wohnmobil-Mietportal Paul Camper gehört zumindest das temporäre Arbeiten im Campingmobil quasi zum Geschäftsmodell. Gründer Dirk Fehse etwa führt das Unternehmen häufig von seiner südbrandenburgischen Heimat oder von Rügen aus. „Seit Beginn der Corona-Pandemie haben wir immer mehr Vermieter, die ihre Camper auch als Arbeitsplatz ausstatten“, sagt Firmensprecherin Katrin Witt. Ungewöhnlich auch der Start von Petra von Strombeck als neue Chefin des Hamburger Unternehmens New Work, der Muttergesellschaft des Business-Portals Xing – sie führte die 1900 Mitarbeiter die ersten Monate komplett aus dem Homeoffice.
Bei den Lemckes hat die Verlagerung ihres Arbeitsorts persönliche Gründe
Bei Anne und Stefan Lemcke hat die Verlagerung ihres Arbeitsorts ganz persönliche Gründe. In den acht Jahren seit dem Start in einem Büro in Wilhelmsburg haben sie ihre Geschäftsidee zu einer erfolgreichen Gewürzfirma entwickelt, die das Ehepaar mit Anfang 40 zu mehrfachen Millionären gemacht hat. „Finanzielle Freizeit ist das eine, aber macht allein nicht glücklich“, sagt Anne Lemcke. „Was in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen ist, ist die Familie.“
Das ist auch der Grund, weshalb die Ankerkraut-Fangemeinde, sonst via Facebook & Co. stets mit aktuellen Meldungen aus dem Firmenuniversum versorgt, nur sehr zurückhaltend über den temporärem Umzug informiert wurde. Jetzt heißt es erst mal Family first. Schon im August gibt es allerdings eine Ausnahme von der Reiseregel. Die Lemckes fliegen nach Köln zu einer Pressekonferenz der TV-Gründershow „Die Höhle der Löwen“, die sie selbst vor Jahren bundesweit bekannt gemacht hatte. Jetzt treten sie als Gast-Investoren für den besten Deal an.