Berlin. Sportwetten und Online-Casinos sind künftig in Deutschland legal. Die Branche hofft auf Milliardeneinnahmen. Suchthelfer sind entsetzt.

Satte Bässe wummern, dunkel und verrucht geht es zu, der Kick der Straße. Dann treten sie auf: Die großen Fußballstars der Nation, Vorbilder für viele sportbegeisterte Jugendliche. Ihre Botschaft: Aufgeben ist keine Option, man will mehr, man will ganz nach oben. Emotionen, Gemeinschaft, Zusammenhalt und Erfolg – so ist sie geprägt, die Werbung der Sportwetten, die in diesen Tagen der Fußball-Europameisterschaft omnipräsent ist.

Lange fristeten Sportwetten ein Dasein in der juristischen Grauzone – und das, obwohl der Markt seit Jahren wächst. Ab heute ist es damit vorbei. Sportwetten und Online-Casinos, die bisher bis auf ein kleines Schlupfloch in Schleswig-Holstein bundesweit verboten waren, sind fortan erlaubt.

Mit dem neuen Glücksspielstaatsvertrag, der heute in Kraft tritt, soll ein gigantischer Markt aus dem Schatten geholt werden.

Sportwetten und Online-Casinos sind ein Milliardenmarkt

13,27 Milliarden Euro war der Markt 2019 laut des Jahresreports der Glücksspielaufsichtsbehörden schwer. Fast jeder fünfte Euro wurde im illegalen Bereich der Sportwetten und Online-Casinos erwirtschaftet.

Die Aussicht auf die neue Freiheit ist verlockend. Für Online-Casinos und Sportwettenanbieter, die auf noch mehr Umsatz, noch mehr Gewinn hoffen. Aber auch für die Bundesländer, die auf deutlich mehr Einnahmen aus der Rennwett- und Lotteriesteuer setzen.

430.000 Menschen haben ein Glücksspiel-Problem

Für die Branche ist der neue Glücksspielstaatsvertrag eine Revolution. Für Suchtschützer eine Katastrophe. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) attestiert rund 430.000 Menschen in Deutschland ein „problematisches Glücksspielverhalten oder eine Glücksspielsucht“. Meist seien es Männer, die glücksspielsüchtig werden. Und häufig seien sie jung, keine 25 Jahre alt, oftmals mit Migrationshintergrund oder einem niedrigen Einkommen.

„Für sie bedeutet Glücksspiel der Traum von einem besseren Leben“, sagt Ilona Füchtenschnieder, Vorsitzende des Fachverbandes Glücksspielsucht und Leiterin der Landeskoordinierungsstelle Glücksspielsucht in Nordrhein-Westfalen. Gerade für Sportwetten sei die Zielgruppe anfällig. „Sie sind davon überzeugt, den Sport zu verstehen, platzieren entsprechend ihre Einsätze“, berichtet Füchtenschnieder. Lesen Sie hier: Kommentar: Die neuen Glücksspielregeln sind ein Zeichen der Doppelmoral

Hohe Verschuldung und Suizidrate

Die Realität sieht oft anders aus. „Bei keiner anderen Sucht ist die Verschuldung der Betroffenen höher“, sagt sie. Viele wüssten keinen Ausweg. „Und bei keiner anderen Suchterkrankung ist die Suizidrate höher als bei Glücksspielsüchtigen“, sagt Füchtenschnieder. Wie die BZgA auf Anfrage unserer Redaktion mitteilte, habe jeder Dritte Spielsüchtige in Behandlung Suizidgedanken, fast jeder Fünfte unternehme sogar einen Selbsttötungsversuch.

Der neue Glücksspielstaatsvertrag soll Spieler besser schützen. Es soll eine einheitliche Sperrdatei geben, die Spielern sowohl den Zugang ins Online-Casino auch als in die örtliche Spielhalle verwehrt. Einzahlungen werden auf 1000 Euro im Monat limitiert. Und eine neue Glücksspielbehörde soll in Halle an der Saale entstehen, um schlagkräftig gegen Missbrauch vorzugehen. Lesen Sie hier: Online-Glücksspiel raus aus der Grauzone – Ein Pro und Contra

Drogenbeauftragte fordert hartes Vorgehen bei Missbrauch

So weit die Theorie. In der Praxis wurde direkt eine Übergangszeit eingeführt, da die neue Glücksspielaufsichtsbehörde zum 1. Juli ihre Arbeit nicht aufnehmen kann. Erst in eineinhalb Jahren soll sie voll einsatzfähig sein. Von den 110 Beschäftigten, die künftig in der Behörde arbeiten sollen, sind bisher „rund ein Dutzend“ eingestellt, wie ein Sprecher des sachsen-anhaltinischen Innenministeriums auf Anfrage unserer Redaktion mitteilte. Bis dahin liegt der Spielerschutz weiterhin in den Händen der einzelnen Bundesländer.

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, fordert die Länder zu einem harten Vorgehen auf, sollte es zu Missbrauch kommen. „Da gibt es von meiner Seite absolut keine Toleranzgrenze“, sagte sie unserer Redaktion.

Wer den Jugendschutz nur als Feigenblatt verstehe, habe auf dem Glücksspielmarkt nichts verloren, sagte die CSU-Politikerin. Auch die exzessive Werbung der Glücksspielanbieter ist ihr ein Dorn im Auge. „Ganz ehrlich: Wenn es nach mir ginge, bräuchten wir in Deutschland überhaupt keine Online-Casino oder Sportwetten-Werbung“, sagte Ludwig.

Daniela Ludwig (CSU), Drogenbeauftragte der Bundesregierung, würde Glücksspiel-Werbung am liebsten verbieten.
Daniela Ludwig (CSU), Drogenbeauftragte der Bundesregierung, würde Glücksspiel-Werbung am liebsten verbieten. © picture alliance/dpa | Annette Riedl

Glücksspiel-Werbung richtet sich an junge Zielgruppe

Die Online-Glücksspielbranche dringt dagegen aggressiv auf den Werbemarkt vor. Im Lockdown, als stationäre Spielhallen und staatliche Spielbanken geschlossen waren, explodierte das Werbeaufkommen der digitalen Pendants regelrecht.

Die Branche versteht es, die Gefahren ihrer der Online-Wetten und -Casinos zu verschleiern. „Es handelt sich um Produkte mit einer hohen Suchtgefahr“, sagt Psychologe Tobias Hayer, der an der Universität Bremen zur Glücksspielsucht forscht. „Zugleich werden Sportwetten und Online-Automatenspiele glorifiziert und verharmlost. Die Assoziation mit Sport ist positiv, berühmte Werbegesichter wie Scooter oder Oliver Kahn stärken das Vertrauen in das Produkt. Diese Werbepraxis widerspricht jeder evidenzgestützten Suchtprävention.“

Jugendliche kommen früher mit Glücksspiel in Kontakt

Hayer ist besorgt, auch weil der Kontakt mit der Glücksspielbranche deutlich früher stattfände, „oftmals schon mit 12, 13, 14 Jahren“, wie er sagt. „Die Unternehmen wissen um ihre künftige Zielgruppe, die Werbung ist oft jugendgerecht zugeschnitten.“

Luka Andric, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Sportwettenverbandes (DSWV), sieht das naturgemäß anders. „Für Minderjährige geht von Glücksspielwerbung mit aktiven Sportlern keine Gefahr aus, da sie ohnehin lückenlos von jedem Glücksspiel ausgeschlossen sind“, sagte Andric unserer Redaktion.

Mit dem neuen Glücksspielstaatsvertrag dürfen allerdings keine aktiven Spieler und Funktionäre mehr werben – ein „unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundfreiheiten der Werbetreibenden und Sportler“ sei das, sagt Andric.

Staat hofft auf hohe Steuereinnahmen

Die Sportwettenbranche wächst seit Jahren, konnte zwischen 2014 und 2019 ihre Umsätze mehr als verdoppeln. Und der Staat verdient kräftig mit. Im vergangenen Jahr flossen nach DSWV-Angaben 389 Millionen Euro an Sportwettsteuer an den Fiskus.

Psychologe Hayer bezweifelt aber, dass es für den Staat ein lohnendes Geschäft ist: „Die soziale Kosten übersteigen in einigen Fällen sicher die steuerlichen Einnahmen“, sagt er. So werde beim gewerblichen Automatenspiel davon ausgegangen, dass 60 bis 80 Prozent der Umsätze von Glücksspielsüchtigen stammen.

Glücksspielbranche gelobt Spielerschutz

Die Glücksspielbranche selbst betont dagegen, dass sie ihre Spieler schützen kann. „Online-Glücksspiel gehört längst zur Lebensrealität der Verbraucherinnen und Verbraucher“, sagte Dirk Quermann, Präsident des Deutschen Online Casinoverbandes (DOCV) unserer Redaktion. Man halte sich an die strengen Vorgaben, betonte Quermann.

Und selbst die stationären Spielhallen betrachten ihre digitalen Pendants nach eigener Aussage nicht als Konkurrenz. Die Gefahr liege nicht bei den Online-Anbietern, sagte Georg Stecker, Sprecher des Vorstandes des Dachverbandes der deutschen Automatenwirtschaft, unserer Redaktion. „Es ist die Illegalität ohne jede Form von staatlicher Überwachung, die eine Bedrohung für die gesamte Glücksspielbranche darstellt“, sagte Stecker. Die legalen Anbieter würden „den natürlichen Spieltrieb der Menschen in legale Bahnen“, lenken.

Glücksspielforscher Hayer sieht das anders. Ihm ist die Liberalisierung des Glücksspielmarktes „ein Dorn im Auge“, wie Hayer sagt. „Das Risiko der Suchterkrankung wird so gefördert.“ Lesen Sie hier: Rauchen, Trinken, Spielen – Wie Sucht die Arbeit beeinflusst

Hier finden Betroffene, Angehörige und Freunde Hilfe

Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.