Hamburg. Präsident Hjalmar Stemmann schlägt im großen Abendblatt-Interview Alarm. Welche Maßnahmen er nun von der Politik fordert.

Das Handwerk in der Stadt wird von der Pandemie und ihren Folgen kräftig durchgerüttelt. Die Ausbildung junger Nachwuchskräfte wird erschwert, es fehlen Baustoffe, die politisch verordneten Lockdowns haben einige Gewerke hart getroffen. Kammerpräsident Hjalmar Stemmann blickt im Abendblatt auf die vergangenen Monate zurück und wagt einen Ausblick, mit dem er zahlreiche Probleme, aber auch Chancen aufzeigt.

Hamburger Abendblatt: Herr Stemmann, die Urlaubszeit hat begonnen. Fahren Sie weg, und wenn ja, wohin?

Hjalmar Stemmann: Ich fahre weg, bleibe allerdings innerhalb Deutschlands. Nicht wegen Corona, sondern weil wir seit Jahren an die Ostsee fahren.

In Krisenzeiten wie diesen erwarten die Unternehmen viel Unterstützung von den Kammern. Ist Ihr Haus auch in Ihrer Abwesenheit darauf eingestellt?

Stemmann: Und ob. Wir haben insbesondere am Anfang der Pandemie eine riesige Nachfrage an Informationen aus unseren Mitgliedsbetrieben erfahren, weit mehr, als wir erwartet hatten. Wir waren aber personell und technisch darauf eingestellt. Selbst in der Phase, in der nahezu alle Mitarbeiter im Homeoffice waren. Die Fragen drehten sich am Anfang darum, was man eigentlich darf. Da gab es unterschiedliche Bundes- und Landesverordnungen, deren Regeln sich nicht einfach erschlossen. Danach waren es Nachfragen zu Finanzhilfen. Da haben wir Betriebe bei der Antragstellung umfassend beraten. Wir waren die Lotsen durch den staatlichen Dschungel.

Sie sagten, am Anfang waren fast alle Mitarbeiter der Kammer im Homeoffice. Was planen Sie jetzt, nach dem Ende der Verpflichtung?

Stemmann: Wir werden ein Wechselschichtsystem einführen, sodass immer etwa die Hälfte der Mitarbeiter von hier arbeitet, die andere von zu Hause. Auch die Kundenbetreuung vor Ort wird wieder hochlaufen. Den lebhaften Bienenkorb der Vergangenheit wird es aber erst einmal nicht geben. Etwas anders sieht es am Elbcampus aus. Dort laufen die Gesellen- und Meisterprüfungen weiter wie bisher. Es ist hier und da zu Terminverschiebungen gekommen, wegen Quarantäneanordnungen. Es ist aber keine Gesellen- oder Meisterprüfung ausgefallen. Viele zwischenzeitlich virtuell durchgeführten Lehrgänge sind auch schon wieder zurück im Präsenzbetrieb. Wir haben vor Ort ein eigenes Testzentrum.

Der Corona-Spuk ist noch nicht vorbei. Jetzt gibt es Delta und Delta+ als gefährliche Varianten. Was raten Sie Ihren Unternehmen?

Stemmann: Durchhalten, impfen gehen, Hygieneregeln einhalten. Es ist noch nicht die Zeit, in der wir wieder in alte Verhaltensmuster zurückkehren können. Das mag dem einen oder anderen schwerfallen, aber es muss sein.

Schaut man auf die Branchen, die Sie vertreten, so kommen diese sehr unterschiedlich durch die Krise. Dem Bau geht es sicherlich sehr gut. Wie ist die Situation?

Stemmann: Ja, das stimmt. Bei Bau- und Ausbaugewerbe hat die Krise wenig ausgelöst. Es hat auch in Hamburg keine großen Fälle gegeben, dass Baustellen wegen eines Corona-Ausbruchs stillgelegt werden mussten. Die Regeln wurden im Großen und Ganzen eingehalten. Am anderen Ende der Spanne sind die Friseure und Kosmetiker, die am längsten geschlossen hatten. Besonders betroffen waren aber auch Gastronomie und Hotellerie, Fotografen und Wäschereien, die keine Wäsche mehr aus den Hotels erhielten. Diese Branche litt zusätzlich unter dem Home­office, weil nicht mehr so viele Blusen und Anzüge in die Reinigung gegeben wurden. Und letztlich traf sie auch der Ausfall der Skiferien. April und Mai waren sonst immer davon geprägt, dass die Hamburger ihre Winterkleidung zur Reinigung brachten. Auch das Kfz-Gewerbe hat gelitten. Nicht nur wegen der geschlossenen Autohäuser, sondern weil im Lockdown weniger Menschen unterwegs waren. Dadurch kam es auch zu weniger Verschleiß und Blechschäden auf den Straßen. Daran sieht man, welche Auswirkungen ein solcher Lockdown haben kann. Sehr heterogen verhält es sich in den Ernährungshandwerken. Wer in der Hotellerie und Gastronomie sowie für Catering arbeitet, hat zum Teil bis heute noch Stillstand. Wer aber einen Wagen auf Wochenmärkten betreibt, der steht gut da.

Nutzen die Menschen den Lockdown und Homeoffice, um sich ihr Heim verschönern zu lassen?

Stemmann: Im ersten Lockdown nicht. Da war auch die Verunsicherung in der Bevölkerung groß. Im zweiten Lockdown haben tatsächlich viele Hamburger die Renovierung ihres Eigenheims gewünscht, was die Auftragslage des Ausbaugewerbes deutlich aufhellte.

Viele Firmen klagen über ausstehende Hilfsgelder. Wie ist das im Handwerk?

Stemmann: Das war ein Riesenproblem. Wir haben noch im Januar und Februar große Onlineveranstaltungen mit Mitgliedern gehabt, die bis dahin nicht einmal ihre Novemberhilfen erhalten hatten. Das hat sich inzwischen entspannt. Zumal sich im Frühjahr die Auftragslage verbesserte, sodass die Firmen wieder selbst Geld verdienten. Einem Handwerker geht es gegen die Ehre, wenn er auf Hilfsgelder angewiesen ist.

Hat es auch Schließungen gegeben?

Stemmann: Vereinzelt. Da war Corona aber eher der Brandbeschleuniger. Diese Betriebe hatten schon vorher keine Kapitaldecke mehr. Corona war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Ein Problem sind die Lehrstellen. In vielen Branchen ist die Zahl der Ausbildungsangebote gegenüber 2019 um bis zu 50 Prozent gesunken. Was macht die Kammer dagegen?

Stemmann: Im Handwerk ist das Angebot an Lehrstellen deutlich weniger zurückgegangen als die Nachfrage. Wir haben zahlreiche Lehrstellen unbesetzt lassen müssen. Wir hatten im vergangenen Jahr einen Einbruch bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen von zwölf Prozent. Das war der erste große Einbruch nach vielen Jahren. Das schmerzt, denn die jungen Leute fehlen uns. Wir merken, dass uns der Präsenzunterricht an Schulen in den Lockdowns gefehlt hat. Schulen sind unverzichtbare Mittler zwischen den jungen Leuten und Ausbildungsbetrieben.

Fehlen den Schülern nach dem zum Teil sehr langen Unterricht in den eigenen vier Wänden schulische Inhalte, um eine Ausbildung zu beginnen?

Stemmann: Nein, es geht um die fehlende Scharnierfunktion in die Arbeitswelt. Wer im Distanzunterricht sitzt, kommt gar nicht mit den Betrieben in Berührung. Und Schulpraktika sind größtenteils abgesagt worden. Wer fünf Stunden Onlineunterricht hinter sich gebracht hat, dem fehlt dann die Lust, sich Videos anzuschauen, in denen sich Betriebe präsentieren. Wir konnten den Jugendlichen nicht ausreichend die Vielfalt unserer Ausbildungsmöglichkeiten zeigen.

Aber es gibt doch sicher auch Betriebe, die aufgrund von Corona in einer finanziell so angespannten Situation sind, dass sie keine Lehrverträge eingehen können?

Stemmann: Das Problem gibt es, ist aber deutlich geringer. 2020 haben wir nur geringfügig unter zwei Prozent weniger Ausbildungsangebote gehabt. Die meisten Betriebe wollen trotz Krise ausbilden und suchen gute Nachwuchskräfte.

Hilft die Ausbildungsprämie des Bundeswirtschaftsministeriums?

Stemmann: Sie war anfangs viel zu kompliziert, sodass viele Betriebe die Voraussetzungen nicht erfüllten. Jetzt ist nachgebessert worden. Ich könnte mir vorstellen, dass einige Betriebe, bei denen es Spitz auf Knopf steht, darauf zurückgreifen werden.

Wie ist der aktuelle Stand offener Ausbildungsstellen?

Stemmann: Wir haben aktuell noch knapp 900 offene Stellen. Im Vergleich zu Mai 2020 verzeichnete unsere Lehrstellenbörse in diesem Mai nur rund zwei Prozent weniger Angebote.

Es gibt Bereiche, in denen man kaum mehr junge Leute für eine Ausbildung gewinnt, beispielsweise fehlen Köche. Steuern wir da auf ein großes Loch zu?

Stemmann: Wir laufen in ganz viele Löcher hinein. Von den 16 von der Bundesagentur für Arbeit identifizierten Mangelberufen sind elf Handwerksberufe. Und zwar quer durch alle Branchen.

Welche sind am stärksten betroffen?

Stemmann: Bau- und Ausbauberufe. Das geht inzwischen so weit, dass Betriebe Mitarbeiter aus dem Gastgewerbe aufnehmen und aus dem Einzelhandel. Die kommen dann als Quereinsteiger.

Gibt es Berufe, die in zwei, drei Jahren in Hamburg verschwinden werden?

Stemmann: Ich kann mir das schwer vorstellen, zumal es Berufe wie den Fleischereifachverkäufer gibt, die man nicht durch einen Automaten ersetzen kann. Und man kann ja nicht alles nur über angelernte Mitarbeiter abdecken. Es braucht Fachkräfte.

Viele Firmen klagen derzeit nicht nur über mangelnde Fachkräfte, sondern auch über fehlende Materialien für die Produktion. Welche Auswirkungen hat das?

Stemmann: Unabsehbare. Wir haben beispielsweise Probleme in der Fahrzeugproduktion, weil Chips fehlen. Der größte Mangel ist aber im Bau- und Ausbaugewerbe, vor allem beim Holz. Das ist nur zum Teil auf Corona zurückzuführen. Es gibt auch weltwirtschaftliche Probleme.

Kann der Nachschubmangel dazu führen, dass Baubetriebe ihre Arbeit sogar demnächst einstellen müssen?

Stemmann: Ja. Es kann dazu kommen, dass Bauprojekte gar nicht erst angefangen werden. Diejenigen, die bereits laufen, da wird versucht, die fehlenden Materialien zusammenzukratzen. Wenn sich da nicht bald etwas ändert, kann es im Herbst dazu kommen, dass Baustellen halb fertig stehen bleiben. Da droht ein Baustopp. Ich kann ja gewisse Dinge nicht nachträglich einbauen. Wenn ich ein Kunststoffrohr im Boden verlegen muss, kann ich das Haus nicht fertigbauen und anschließend den Boden wieder aufreißen.

Wenn nicht nur die durch Corona durch­einandergewirbelten Logistikketten für die Mangelerscheinungen verantwortlich sind, bedeutet das, dass wir noch länger Probleme haben?

Stemmann: Ja, sicher. Die riesigen Konjunkturprogramme, die China und die USA angestoßen haben, sorgen auch für einen Nachfragezuwachs auf dem deutschen Markt, weil Materialien von den Staaten abgesaugt werden. Beim Holz besteht das Problem, dass die USA derzeit wegen Streitigkeiten weniger Holz aus Kanada importieren, sondern stattdessen in Europa einkaufen. Das fehlt uns. Und es führt zu Preisanstiegen bis zu einer Verdreifachung des Ursprungspreises. Das kann unsere Firmen, die feste Preise vereinbart haben, in ernste Nöte bringen.

Was kann man dagegen tun?

Stemmann: Wir pochen gegenüber der Politik auf die sogenannte Preisgleitklausel, mit der städtische Auftragnehmer ihre Rechnung begleichen, auch wenn sie den Angebotspreis deutlich übersteigt.

In Bezug auf Corona gibt es aus der Wirtschaft zum Teil Lob für das umsichtige Handeln des Senats. Es gibt aber auch Kritik, er sei in seinen Öffnungsschritten zu vorsichtig. Auch die Handwerkskammer hat sich kritisch geäußert. Wie zufrieden ist das Handwerk mit dem Senat?

Stemmann: Das ist eine schwierige Frage. Keiner möchte ein erneute Infektionswelle haben. Die lange Schließung der Friseur- und Kosmetikbetriebe ist bei uns aber auf Kritik gestoßen, weil diese Branchen sehr ausgefeilte Konzepte hatten und keine Pandemietreiber waren. Deshalb hielten wir die zweite Schließungsanordnung für diese Betriebe für falsch.

Hamburg hat ein sehr ehrgeiziges Klimaziel. Das Gewerbe darf ab 2050 nur noch CO2-frei produzieren. Ihre Handwerker können dann nur noch mit Elektroautos fahren. Sind sie darauf vorbereitet?

Stemmann: Das Auto wird das kleinste Problem sein. Die Fuhrparks werden ohnehin ständig erneuert, da stehen irgendwann nur noch E-Mobile auf dem Hof. Es gibt jetzt endlich die ersten Anbieter im leichten Nutzfahrzeugsegment. Das wird zunehmen.

Was ist dann das Problem?

Stemmann: Der entscheidende Aspekt wird eher sein, wie wir die ganzen Vorgaben aus den Klimaschutzgesetzen des Landes, des Bundes und der EU umgesetzt bekommen. Wie bekommen wir ausreichend neue Heizungsanlagen und Fenster in die Häuser und neue Fotovoltaikanlagen auf die Dächer, wenn uns die Leute dazu fehlen, um die nötigen Ziele zu erreichen?

Da sind wir wieder beim Fachkräftemangel.

Stemmann: So ist es. Ich sage es ganz deutlich: Wir werden mit den jetzt vorhandenen Mitarbeitern die von Hamburg geforderten Klimaschutzvorgaben nicht erreichen können. Wenn wir es nicht schaffen, schnell mehr junge Menschen für Klimaschutzberufe zu gewinnen, werden wir die Maßnahmen nicht alle umsetzen können.

Bremst der Fachkräftemangel die Klimaziele aus?

Stemmann: Genau das befürchte ich, wenn wir nicht alle am gleichen Strick ziehen.

Wer zieht denn nicht mit?

Stemmann: Wir haben beispielsweise vor wenigen Tagen vom Umweltsenator einen Masterplan Bildung/Nachhaltige Entwicklung vorgestellt bekommen. Der ist fokussiert auf frühkindliche und schulische Bildung, Der beruflichen Aus- und Weiterbildung von Klimaschutzfachkräften wurde hingegen nur sehr wenig Bedeutung beigemessen. Es muss ein Umdenken stattfinden. Wir müssen mehr Handwerker im Beruf für Klimaschutztechniken weiterbilden und den Nachwuchs dafür begeistern.

Fordern Sie auch ein Klimabündnis mit dem Senat, wie die Industrie es hat?

Stemmann: Nein, das fordern wir nicht extra. Wir haben mit der Umweltpartnerschaft, die zu weit mehr als der Hälfte von Unternehmen des Handwerks getragen wird, ein sehr gutes Instrument. Aber wir brauchen eine echte gemeinsame Anstrengung für mehr Nachwuchs in Klimawende-Handwerken.

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Viel diskutiert wird über die Verkehrspolitik des Senats, insbesondere über die Vorhaben, ganze Straßenzüge autofrei zu gestalten. Sehen Sie darin ein Problem?

Stemmann: Der ganz große Knackpunkt ist der Ausbau der Radwege, bei dem Parkplätze wegfallen. Damit ist die neu geschaffene Verkehrsbehörde bei uns auf größtes Unverständnis gestoßen. Und wir haben lange gebraucht, um klarzumachen, worin der Bedarf des Handwerks besteht. Deren Fahrzeuge sind vielfach rollende Werkstätten, die direkt beim Kunden stehen müssen und nicht irgendwo zwei Blöcke weiter parken können. Andere Handwerksberufe wie Bäcker müssen anliefern können. Die Orthopädietechnik muss direkt eingreifen können, wenn ein Elektrorollstuhl mitten auf einer Verkehrsinsel versagt. Diese Vielfalt mussten wir der Verkehrsbehörde deutlich machen. Das wurde verstanden. Jetzt müssen wir es hinbekommen, dass ein Anwohner am Neuen Wall nicht erst bis 21 Uhr warten muss, bis der Heizungstechniker kommt. Gleiches gilt für den Jungfernstieg. Wir fordern Ausnahmegenehmigungen für die Handwerkerfahrzeuge. Da benötigen wir mehr Bewegung von der Politik.