Hamburg. Von wegen alles nur noch online: Das Traditionsunternehmen geht einen anderen Weg – und behält auch seinen 400 Seiten dicken Katalog.
Um kurz vor 10 Uhr wartet das Personal in der Bubble-Tea-Bar im Elbe Einkaufszentrum auf die ersten Bestellungen, vor der Filiale des Modehändlers C&A wartet eine Handvoll maskierter Kunden darauf, dass ihnen die Ladentür aufgeschlossen wird.
Dann kommt beim Rundgang durch das Erdgeschoss ein Geschäft in den Blick, das deplatziert wirkt im Einkaufszentrum. Schlauch- und Motorboote strecken dem Besucher ihren Bug entgegen, PS-starke Außenbordmotoren stehen dort aufgebockt. Und dann ist da noch ein Elektro-Motorroller mit dem Firmenlogo AWN.
A.W. Niemeyer setzt auf direkten Kundenkontakt
Ein immerhin mehr als 600 Quadratmeter großes Wassersportgeschäft inmitten von Eisdielen und Imbissen, Super- und Elektronikmärkten, Modeboutiquen und Kaffeebars? Kann das funktionieren? Ist das wirklich ein Geschäftsmodell mit Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg? Christoph Steinkuhl weiß das auch noch nicht so genau, er sucht hier nach Antworten auf diese Fragen. „Es ist ein zunächst mal auf etwa sechs Monate angelegter Test, ein typischer Pop-up-Store“, sagt der 59-Jährige.
Er ist der Mann, der derzeit für die Buchstaben AWN steht. Das ist das Kürzel für A.W. Niemeyer. Steinkuhl ist Geschäftsführer des traditionsreichen Hamburger Yachtausrüsters. Die Wurzeln des Unternehmens reichen zurück bis ins Jahr 1745 und zu einer Eisenwarenhandlung im und für den Hamburger Hafen. Heute ist AWN eine bevorzugte Adresse für die Eigner von Segel- und Motoryachten. Die Firmengeschichte ist reich an Wendungen und Kurswechseln. Und auch Christoph Steinkuhl gibt AWN gerade eine neue Richtung.
Im EEZ gibt es ein neues Geschäft
„Wenn dieses Geschäft an diesem Standort funktioniert, wird es zu einer Blaupause für die Expansion von AWN im stationären Handel“, sagt Steinkuhl über den Laden im EEZ, der am Donnerstag offiziell eröffnet wird. Er wird neben dem Niemeyer-Haupthaus am Holstenkamp in Bahrenfeld die zweite Filiale in Hamburg sein und die zehnte in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zudem gibt es mehrere Shop-in-Shop-Standorte. Steinkuhl, der seit November 2019 die Geschäfte steuert, hat ehrgeizige Pläne. „Wenn es optimal läuft, werden es Ende 2022 bereits bis zu 18 Standorte sein“, sagt er. Zwei Filialen in Deutschland, die an sich bereits in diesem Jahr eröffnet werden sollten, würden es 2022 definitiv, so Steinkuhl.
Während inmitten der Pandemie im Handel ganz viel von E-Commerce die Rede ist, setzt der erfahrene Handelsmann, der einst bei Tchibo den Einkauf der Non-Food-Artikel verantwortete, voll auf Augenkontakt mit dem Kunden und auf Käufer, die ein Produkt erst mal gesehen oder angefasst haben wollen, bevor sie sich entscheiden. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.
AWN setzt auf Yachtzubehör
Der wichtigste ist, dass AWN erst vor wenigen Jahren das Ruder voll auf Kurs Onlinehandel herumgerissen hatte – und damit in gefährliches Fahrwasser geriet: Anfang 2018 hatte der AWN-Eigner, die Ahrensburger Kroschke-Gruppe, die Hamburger Beteiligungsfirma Hanse Ventures mit 30 Prozent ins Boot geholt. Die ist an sich darauf spezialisiert, Start-ups auf einen Erfolgsweg zu setzen. Nun sollte Hanse Ventures den behäbigen Tanker A.W. Niemeyer flott, schnell und wendig für den E-Commerce machen. In der Firmenzentrale am Holstenkamp galt fortan die Maxime: „Nur noch online.“ Schnell war die Rede von Ausdünnung des Filialnetzes. Die Niederlassung Düsseldorf – Anlaufpunkt für die große Yachteigner-Gemeinde in Nordrhein-Westfalen – wurde geschlossen.
Hanse Ventures gab nur ein Intermezzo. Nach knapp zwei Jahren holte sich Kroschke die 30 Prozent AWN-Anteile wieder zurück und installierte Steinkuhl als neuen Geschäftsführer. Sein Urteil über diese Online-only-Phase fällt in der Rückschau geradezu vernichtend aus. Er spricht von „verlorenen Jahren“, und von „zahlreichen Großbaustellen“ die nach Hanse Ventures erst mal hätten beseitigt werden müssen. Und ja: Der E-Commerce-Anteil am Gesamtumsatz von AWN, der vor wenigen Jahren nur etwa zehn Prozent betrug, sei mittlerweile zwar auf gut 25 Prozent gestiegen. Aber das sei „nicht auf Hanse Ventures zurückzuführen, im Gegenteil“. Der in der Unternehmensbilanz ausgewiesene Verlust stieg von 2,25 Millionen Euro im Jahr 2018 auf etwa vier Millionen Euro im Jahr darauf. „Vor allem wegen hoher Kosten für den E-Commerce“, sagt Steinkuhl. Er dagegen setzt auf „Multi-Channel“, das Nebeneinander aller klassischen Vertriebswege inklusive Onlinehandels. Mit einem Schwerpunkt auf dem stationären Handel.
22.000 Standardartikel im Sortiment
Das hat viel damit zu tun, wie die Kunden bisher bei AWN eingekauft haben. Der Händler hat 22.000 Artikel im Sortiment, fast alle sofort lieferbar. Doch nur ein Teil davon, Standardartikel wie Schäkel und Karabinerhaken aus Edelstahl, Bootslacke, Fender oder Tauwerk wird unbesehen im Onlineshop geordert. „Viele unserer Kunden fahren mit einem defekten Bootsteil im Kofferraum bei der Filiale vor, wuchten es auf den Tresen und sagen: ,Das brauche ich neu‘“, schildert Steinkuhl den beratungsintensiven Alltag an der Verkaufsfront. Allein im Internet erreicht man Yachteigner im zumeist fortgeschrittenen Alter und mit Spezialwünschen nur schwer.
Mit dem neuen Filialkonzept, das jetzt im EEZ getestet wird, nimmt Niemeyer neue und jüngere Zielgruppen in den Blick. Auf den mehr als 600 Quadratmetern sind lediglich um die 100 Artikel versammelt. Neben den ausgestellten Booten, die wegen hoher Nachfrage frühestens Anfang 2022 lieferbar sind, ist da vieles zu sehen, dass auch an Land brauchbar ist. Die elektrische Kühlbox, die an Bord, aber auch in den Kofferraum des Kombi passt. Kleidung im Maritimlook, E-Bikes und Klappräder mit Elektromotor, batteriebetriebene Motor- und Tretroller, die beim Hafenaufhalt hilfreich sind – aber eben nicht nur dort.
Umsatz legte sogar zu
Das ist auch eine Lehre aus dem Wassersportboom im Sommer 2020. „Alles was schwimmt, ist uns aus den Händen gerissen worden und war zeitweise ausverkauft. Von Booten bis hin zu Luftmatratzen“, sagt Steinkuhl. Deutsche Bootsbauer berichten von einer fast verdoppelten Nachfrage.
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Auch bei Ausrüstern wie A.W. Niemeyer nahmen die Erlöse deutlich Fahrt auf, weil Yachteigner häufiger als in den Vorjahren die Leinen losmachten. „Wer mehr fährt, macht auch mehr kaputt“, sagt Steinkuhl. Wie sich das auf die AWN-Geschäftszahlen für 2020 ausgewirkt hat, bleibt vorerst ein Geheimnis. Steinkuhl berichtet von einem Umsatzwachstum im zweistelligen Prozentbereich, trotz monatelangen Lockdowns. Und der Verlust? „Wurde deutlichst reduziert.“
Den Online-Boom und das große Interesse an kleineren Freizeitbooten weiß er auch zu nutzen. „Wir haben vor Kurzem in einer Aktion binnen vier Tagen elf Komplettpakete für je 7999 Euro verkauft. 80 Prozent der Käufer haben das Boot vorher gar nicht persönlich angeschaut“, sagt Steinkuhl. Für die knapp 8000 Euro gab es Boot, Außenborder und einen bereits zugelassenen Trailer. Steinkuhl nutzte die Kernkompetenz der Kroschke-Gruppe: Kfz-Zulassungen und Nummernschilder. In „vier bis fünf Wochen“ werde es ein weiteres Aktionsangebot geben, so der Niemeyer-Chef.
Hamburg Boat Show im März 2022
Er belebt sogar Vertriebswege, die bei E-Commerce-Puristen als Fossilien gelten. So war A.W. Niemeyer am letzten Wochenende vor dem März-Lockdown 2020 Ausrichter der Messe „Hamburg Boat Show“ am Holstenkamp. Der Nachfolger der Hanseboot sollte zuvor nach zwei Jahren schon wieder eingestellt werden. „Im März 2022 wird die ,Hamburg Boat Show‘ wieder bei uns stattfinden“, sagt Steinkuhl.
Er lässt weiter den mehr als 400 Seiten dicken AWN-Katalog drucken. Während Onlinehändler Otto jüngst Abschied vom Hauptkatalog nahm, gibt der Ausrüster erstaunliche 225.000 Exemplare in Auftrag. Auch die Kataloge liegen im EEZ-Pop-up-Store. Yachteigner stecken gern zwei Exemplare ein. Eines für daheim, das andere zum Durchblättern an langen Abenden im Hafen.