Hamburg. Der Lebensmittelhersteller sucht zweiten Produktionsstandort – auch in der Metropolregion. Marketingexperten beziehen Büros in Hamburg.

Die rote Windmühle ist das Markenzeichen. Das kann schon mal in die Irre führen. Denn das Familienunternehmen Rügenwalder Mühle produziert nicht etwa Mehl, sondern seit 187 Jahren Fleischwaren. Rügenwalder Teewurst und Pommersche Gutsleberwurst haben den Ruf weit über die Landesgrenzen begründet.

Heute muss man auf der Internetseite aber suchen, um etwas über die Produktklassiker zu erfahren. Stattdessen wird der neue vegetarische Mühlen Snack Typ Salami angepriesen. Eine Art BiFi, nur ohne Fleisch. Dafür aber mit Weizen. Es gibt auch ein Rezept für Tacos mit veganem Hack und ein aufwendig produzierter Spot zeigt, wie „Fleisch aus Pflanzen“ gemacht wird.

Topseller von Rügenwalder Mühle aus Veggie-Fleisch

Das hat seinen Grund. Inzwischen haben die vegetarischen Mühlen Würstchen im Becher die Teewurst vom Spitzenplatz verdrängt. Unter den fünf Topsellern des Unternehmens sind drei aus Veggie-Fleisch. „Erst hatten wir den Greta-Effekt, jetzt haben wir den Corona-Effekt“, sagt Geschäftsführer Michael Hähnel. „Die Menschen sind zu Hause, kochen selbst und wollen sich in der Pandemie bewusster ernähren.“ Gefragt sind pflanzliche Proteine statt Schweinefleisch.

Da liegt Rügenwalder Mühle perfekt im Trend. 2014 war der Wursthersteller aus dem Ammerland in das Geschäft mit vegetarischen und veganen Fleischalternativen eingestiegen. Im vergangenen Juli hatte die Sparte zum ersten Mal das klassische Sortiment überholt. „Wir sind 2020 in dem Bereich mit einem Plus von 73 Prozent stärker gewachsen als der Markt“, sagt Hähnel und sieht sehr zufrieden aus. Das Gespräch mit dem Abendblatt findet per Videokonferenz statt. Besuche am Firmensitz im niedersächsischen Bad Zwischenahn sind in Corona-Zeiten untersagt. Gearbeitet wird dort gerade umso mehr.

Veggie-Fleisch überholt erstmals Klassiker

Seit Beginn der Pandemie im März vor einem Jahr laufen die Maschinen auf Hochtouren. Rügenwalder Mühle hat den Absatz der insgesamt 60 Produkte mit und ohne Fleisch zusammen knapp um ein Drittel gesteigert – und stößt an seine Kapazitätsgrenzen. Um die steigende Nachfrage nach Veggie-Fleisch zu bedienen, musste vorübergehend sogar die Produktion der Schinkenspieker ausgelagert werden.

Im vergangenen Jahr hat das Unternehmen bei einem Jahresnettoumsatz von 233,7 Millionen Euro bereits 13,5 Millionen Euro in das Werk investiert. Jetzt ist Hähnel auf der Suche nach einem zweiten Produktionsstandort. „Wir schauen uns in einem Radius von 200 Kilometern um unseren Heimatsitz um“, sagt der 54-Jährige. Konkreter will er noch nicht werden. Noch sei man in der Sichtungsphase. Dabei schloss Hähnel nicht aus, dass es auch in und um Hamburg geeignete Übernahmekandidaten geben könnte.

Marketing-Experten ziehen in Büros an der Ericusspitze

Dass die Achse in die Elbmetropole für die Rügenwalder Mühle Perspektive hat, zeigt eine andere Entscheidung. Gerade wurden an der schicken Ericusspitze in direkter Nachbarschaft zum „Spiegel“-Gebäude Büros angemietet. Eine Premiere für den niedersächsischen Lebensmittelproduzenten.

Dort sollen von Juli an Marketing- und Media-Experten sitzen und den direkten Kontakt zu Agenturen und anderen Dienstleistern halten. Angedacht seien flexible Modelle, bei denen die Mitarbeiter einen Teil ihrer Arbeitszeit in Hamburg leisten. „Aber alle müssen zwei Tage in der Woche in der Zentrale sein“, betont der Firmenchef. Die Verankerung ist ihm wichtig. Auch Hähnel, der seit 25 Jahren in Hamburg lebt, pendelt zwischen dem Familienwohnsitz in Niendorf und seinem Arbeitsort in Bad Zwischenahn.

Ex-Beiersdorf-Manager soll Rügenwalder Mühle in die Zukunft führen

Jetzt sitzt der Topmanager in Hemd und Pulli in seinem Büro. Hinter ihm sieht man den Ausschnitt eines Ölgemäldes, das eine Windmühle zeigt. 1834 steht auf einem der Flügel. In dem Jahr hatte Firmengründer Carl Müller in der damals pommerschen Kleinstadt Rügenwalde eine Fleischerei gegründet und damit den Grundstein für das heutige Unternehmen gelegt. Betriebswirt Hähnel, der schon beim Nivea-Hersteller Beiersdorf und Keksbäcker Bahlsen in der Führungsetage saß, hatte den Chefposten bei Rügenwalder Mühle Anfang 2020 übernommen.

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Sein Job ist es, den Mittelständler fit für die Zukunft zu machen. Mit Christian Rauffus hatte sich 2017 nach über 30 Jahren der letzte Vertreter der Eigentümerfamilie aus der operativen Geschäftsführung zurückgezogen und den Vorsitz des neu geschaffenen Aufsichtsrats übernommen. Inzwischen lenkt sein Sohn Gunnar Rauffus das Kontrollgremium.

Marktführer trotz Konkurrenz von Nestlé und Unilever

Als die Rügenwalder Mühle vor sieben Jahren mit der Produktion von Veggie-Fleisch anfing, war das ein Wagnis. Nicht wenige belächelten den Pionier. Heute ist der Betrieb mit einem Anteil von 40 Prozent Marktführer in Deutschland, wie Michael Hähnel betont. Was zunächst eine Marktlücke war, ist inzwischen eins der am stärksten wachsenden Marktsegmente geworden. Und die bodenständigen Niedersachsen stehen vor der Herausforderung, diese Position zu behaupten.

Weil immer mehr Verbraucher ihren Fleischkonsum hinterfragen und zu pflanzlichen Alternativen zu Wurst, Burgern und Schnitzeln greifen, drängen sich seit einiger Zeit zahlreiche Konkurrenzprodukte in den Supermarktregalen. Darunter US-Börsenstar Beyond Meat, auch internationale Konzerne wie Unilever mit Vegetarian Butcher und Nestlé mit Garden Gourmet wollen am Veggie-Trend mitverdienen. Ebenso wie der Hamburger Fischstäbchen-Hersteller Iglo, der seine pflanzlich-basierten Produktlinien gerade massiv ausbaut.

1000 Beschäftige geplant

„Die Marke Rügenwalder Mühle ist einzigartig in Deutschland“, beschreibt Firmenchef Hähnel selbstbewusst den Vorsprung in dem wachsenden Marktumfeld. Die Kunden wüssten Qualität, Geschmack und Regionalität der Produkte zu schätzen. Trotzdem ist klar: „Wir müssen uns sputen, damit wir nicht getrieben werden, sondern die Konkurrenz treiben.“ Inzwischen arbeiten 820 Beschäftigte bei dem Mittelständler. Und es sollen noch mehr werden.

Die neue Zielmarke liegt bei 1000. Nicht nur in der Produktion, auch in der Verwaltung werden neue Strukturen geschaffen. Transformation nennt man das heute. „Unsere Mitarbeiter tragen die Veränderung mit, ohne ihre Erfahrungen wären wir nicht so erfolgreich“, sagt Manager Hähnel. Gibt es Spannungen im – oft auch ideologischen – Spagat zwischen Vertretern der Fleisch- und Veggie-Sparte? Der Firmenboss schüttelt den Kopf. „Da gibt es keine Kluft. Wir sind ein Spiegelbild der Gesellschaft, die viel toleranter geworden ist.“

Vegetarische Snacks sollen Absatz erhöhen

Trotzdem: Rügenwalder Mühle setzt auch langfristig auf die Balance der beiden Unternehmensbereiche. „Die Fleischproduktion gehört zu unserer Marken-DNA. Da kommen wir her“, sagt Michael Hähnel, der schon von 2018 bis 2020 im Aufsichtsrat saß. Noch ist Veggie-Wurst in Deutschland mit einem Handelsumsatz von knapp 400 Millionen Euro im Jahr weit von den Erlösen von gut zehn Milliarden Euro mit klassischer Wurst entfernt.

Aber, man könnte sagen, die Rügenwalder Mühle surft die Welle. Unter anderem hatte die Firma im vergangenen Jahr die beliebten Mühlen Würstchen und die Curry-Wurst aus Fleisch aus dem Sortiment genommen, um mehr Platz für die Produktion von vegetarischen und veganen Artikeln zu schaffen. Für dieses Geschäftsjahr wird ein höherer Umsatz mit Veggie-Fleisch als mit dem klassischen Sortiment erwartet. „Wir brauchen innovative Produkte“, sagt Hähnel. Große Hoffnung setzt er in Nach-Corona-Zeiten auf den vegetarischen BiFi-Verschnitt, mit und ohne Teigmantel, der ohne Kühlung als Snack unterwegs funktioniert.

Problem: Rohstoffe werden knapp

Sorgen macht sich der Rügenwalder-Mühle-Chef allerdings um die Rohstoffknappheit, die sich nach der erhöhten Nachfrage nach Fleischalternativen abzeichnet. Die Niedersachsen kaufen Soja derzeit in Südosteuropa und in den USA, Erbsen in Frankreich.

Das klappt so lange, wie es keine Ausfälle etwa durch eine Dürre gibt wie 2020. „Eine der größten Herausforderungen ist, in Kooperation mit Landwirtschaft und Politik neue regionale Strukturen zu schaffen, um sich unabhängiger zu machen“, sagt Hähnel.

Was wird aus der Rügenwalder Teewurst?

Und was wird aus der Rügenwalder Teewurst? Hat die nach fast 200 Jahren noch eine Zukunft? Michael Hähnel, der sich als Flexitarier bezeichnet und ein gutes Stück Fleisch nicht ablehnt, überlegt einen Moment. „Wir hängen daran und tun alles, damit sie bleibt.“

Sicher ist er, dass die Teewurst in der veganen und vegetarischen Variante weiterhin gekauft wird. „Ob es sie in der Originalversion geben wird, muss sich zeigen.“ Die rote Windmühle als Markenzeichen passt inzwischen besser denn je.