Brüssel. Zugverspätungen sollen in einigen Fällen nicht mehr gezahlt werden. Verbraucherschützer kritisieren, Bahnfahren werde unattraktiver.

Bei der Bahn gibt es seit Jahren einen klaren Trend: Immer mehr Fahrgäste pochen bei Zugverspätungen auf ihr Recht und verlangen eine Entschädigung von bis zu 50 Prozent des Ticketpreises.

Vor der Corona-Krise wurden zuletzt über 50 Millionen Euro jährlich an Bahnkunden ausgezahlt. Doch künftig dürften viele Fahrgäste trotz erlittener Unannehmlichkeiten leer ausgehen: Die Europäische Union schränkt die Entschädigungsansprüche deutlich ein, die Bahn wird bei „extremen Wetterlagen“ und anderen Fällen höherer Gewalt von der Zahlungspflicht entbunden.

Europäische Bahnunternehmen sehen sich benachteiligt

Das EU-Parlament wird die entsprechend geänderte europaweite Fahrgastrechteverordnung an diesem Donnerstag mit Mehrheit beschließen, trotz Protesten von Verbraucherschützern. „Eine Absenkung der Bahngastrechte ist das falsche Zeichen“, warnte der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands vzbv, Klaus Müller, in einem Brief an die EU-Abgeordneten. Die Grünen-Verkehrsexpertin Anna Deparnay-Grunenberg spricht von einem „massiven Rückschritt für die Bahnreisenden“.

Bislang ist die europaweite Regelung klar und verlässlich: Ab 60 Minuten Verspätung muss die Bahn mindestens 25 Prozent des Fahrpreises auf Antrag erstatten, ab 120 Minuten sind 50 Prozent fällig.

Bahnfahren in Coronazeiten
Bahnfahren in Coronazeiten

weitere Videos

    Das Verfahren in Deutschland ist bislang noch umständlich, Betroffene müssen ein Formular auf Papier ausfüllen und per Post an die Bahn schicken. Zwar sollen ab dem Sommer Anträge auch unkompliziert über das Internet gestellt werden können. Das dürfte die Rückschritte beim Entschädigungsrecht aber kaum ausgleichen.

    Die Ansprüche sind vielen Bahnunternehmen in Europa ein Dorn im Auge, sie beklagen einen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Fluggesellschaften, die in Fällen höherer Gewalt auch bei größeren Verspätungen keine Entschädigungen zahlen müssen. Hintergrund: Zug statt Flug: Lufthansa will Abschied von Inlandsflügen

    Neue Regelung soll ab 2023 greifen

    Die Systeme lassen sich nur schwer miteinander vergleichen, trotzdem haben sich die Bahnunternehmen durchgesetzt. Nach jahrelangen Verhandlungen einigten sich Parlament und Mitgliedstaaten auf eine Regelung, nach der die Bahnunternehmen ab 2023 in Fällen höherer Gewalt „unter besonderen Umständen“ von der Zahlungspflicht befreit sind: Das zielt vor allem auf „extreme Wetterbedingungen“, schwere Unwetter, starke Stürme und auf Blitzeis.

    Die Klausel gilt aber auch für Krisen der öffentlichen Gesundheit wie eine Pandemie. Was das im Einzelfall genau heißt, ist unklar. Einschränkend wird auch festgelegt, die Unternehmen seien nicht befreit, wenn sie die Verspätung etwa durch sachgemäße Wartung hätten verhindern können.

    Die Regelung schaffe Rechtsunsicherheit für Fahrgäste und öffne den Unternehmen Tür und Tor, sich um Entschädigungen zu drücken, warnt Verbraucherschutzchef Müller. „Bahnfahren wird weniger verlässlich und somit für Verbraucher unattraktiver“, meint er. Lesen Sie hier: Deutsche Bahn will wieder mehr Abteile im ICE einrichten

    Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), sieht für Bahnkunden vor allem negative Folgen durch die Reform.
    Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), sieht für Bahnkunden vor allem negative Folgen durch die Reform. © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

    EU-Staaten lehnten volle Preiserstattung ab

    Der europäische Verbraucherverband Beuc befürchtet, dass die Unternehmen versuchen werden, sich auch dann auf diese Ausnahmeregelung zu berufen, wenn sie mindestens eine Mitverantwortung tragen – etwa bei Oberleitungsschäden. Die Bahnkunden müssten im Zweifelsfall beweisen, dass es sich nicht um eine Ausnahmesituation gehandelt hat.

    Der Verkehrsclub Deutschland gab schon zu bedenken, dass die Fahrgäste im Einzelfall gar nicht wüssten, was offiziell die Ursache für die Verspätung ist und ob sie überhaupt Ansprüche hätten. Als sicher gilt, dass ähnlich wie im Luftverkehr viele Einzelfragen jetzt gerichtlich geklärt werden müssen. Auch interessant: GDL-Chef Weselsky: „Dass wir streiken können, weiß jeder“

    Kritiker sind besonders enttäuscht, dass sich nicht im Gegenzug wenigstens höhere Entschädigungsbeträge durchsetzen ließen: Das EU-Parlament hatte ursprünglich die Einschnitte abgelehnt und gefordert, die Entschädigungssummen zu verdoppeln; ab zwei Stunden Verspätung hätte das Ticket voll ersetzt werden müssen. Das blockten die Mitgliedstaaten aber ab.

    Verbraucherschützer kritisieren Reform als „Verschlechterung“

    Immerhin enthält die finale Verordnungsnovelle einige Verbesserungen bei anderen Punkten: Neu ist das Recht, grundsätzlich ein Fahrrad mit in den Zug zu nehmen. Nur: Die Bahnkunden in Deutschland profitierten von den vorgeschriebenen vier Fahrradstellplätzen gar nicht, moniert Verbraucherschützer Müller, weil hierzulande schon höhere Standards gelten.

    Auch die Regeln für nötige Zugumleitungen oder passende Anschlussverbindungen werden gestärkt: Tickets werden durchgängig ausgestellt, wenn ein Zuganbieter – auch nach dem Umsteigen – für die Fahrt auf der ganzen Strecke verantwortlich ist. Bei Verspätungen ist also klar, welches Unternehmen für Alternativanschlüsse sorgen oder bei Bedarf Schadensersatz zahlen muss. Kleine Verbesserungen gibt es für Menschen mit Behinderungen und eingeschränkter Mobilität.

    Doch das reicht nicht, moniert Verbraucherschützer Müller: „Die negativen Folgen für die Fahrgäste überwiegen.“ Die Reform werde zu einer „Verschlechterung des Status quo“ führen. Das Ziel, den Verkehrsträger Schiene attraktiver, verlässlicher und rechtssicherer zu machen, werde nicht erreicht.

    Mehr zum Thema: Warum die Bahn mit Eis und Schnee immer Probleme hat