Berlin. Wirtschaftsexpertin Janina Kugel über die Veränderungsschwäche der deutschen Gesellschaft und ihren Weg an die Spitze der Siemens AG.
Als Janina Kugel mit Mitte 30 schwanger wurde, wollte ihr damaliger Chef gleich mit der Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin für sie beginnen. Doch Kugel wollte das nicht, sie wollte wieder zurückkehren und zwar in Vollzeit. Nur zu oft hatte sie bei Kolleginnen gesehen, wohin die eine lange Elternzeit und ein Job in Teilzeit gebracht hat: Aufs Abstellgleis. Janina Kugel, 51, hat es mit Zwillingen bis in den Vorstand der Siemens AG geschafft, sie war verantwortlich für 380.000 Mitarbeiter. 2020 verließ sie das Unternehmen.
Heute berät Janina Kugel die Bundesregierung, sitzt in mehreren Aufsichtsräten und ist Senior Advisor der Boston Consulting Group. Während der Pandemie hat sie ein Buch geschrieben: „It’s now: Leben, führen, arbeiten - Wir kennen die Regeln, jetzt ändern wir sie“ (Ariston). Darin rechnet sie mit der deutschen Wirtschaft und Politik ab: Deutschland habe es versäumt, aus der Corona-Krise heraus wichtige Reformen anzupacken. Sie attestiert Politik, Gesellschaft und der Wirtschaft zu wenig Innovationskraft und keine Risikobereitschaft. Das Land verlasse sich viel zu sehr auf die Vergangenheit und frühere Erfolge. Dabei dränge die Zeit, sagt sie. Im Interview spricht sie über Bildungs- und Gendergerechtigkeit, wie sie sich an die Spitze gekämpft und gearbeitet hat – und über alltäglichen Rassismus.
Die Welt bekämpft die Pandemie, die Wirtschaft strauchelt, wir leben und arbeiten gerade alle sehr provisorisch. Warum sagen Sie ausgerechnet jetzt „it’s now“?
Weil es ist an der Zeit ist, zu handeln! Deutschland verliert gerade den Anschluss an andere Länder, wir sind nicht mehr überall die Nummer 1.
Welche Chancen ergeben sich aus der Corona-Krise für Deutschland?
Eine Krise zeigt schonungslos, welche Probleme es schon vorher gab. Nach einem Jahr Pandemie kann ich leider feststellen: Wir haben keine gesellschaftlich-strukturellen Probleme behoben.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Während der Pandemie leisten viele Männer zu Hause mehr Care-Arbeit, also Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen. In dieser Situation hätte man auch die Chance gehabt, das Elterngeld zu reformieren, um den Care-Gap zu schließen und strukturell etwas zu verändern. Aber bisher hat die Politik das Momentum verpasst. Stattdessen gab es eine Diskussion um eine Neuauflage der Pkw-Abwrackprämie.
Woran liegt das?
Länder, die sich schneller gesellschaftlich verändern, verharren nicht so sehr wie Deutschland in der Vergangenheit. Manche der asiatischen Länder beispielsweise, die auch eine jüngere Bevölkerung haben, hatten nicht so viele Erfolge in der Vergangenheit, sie sind hungrig. Deutschlands Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ging nur bergauf. Das wirkt bis heute nach. Aber die Vergangenheit reicht nicht aus, um die Zukunft zu definieren. Außerdem ist Deutschland kein Land, das sehr offen ist für Neues, oder in dem Scheitern toleriert wird. Deutschland liebt die geraden Lebenswege und nicht die Brüche. Doch jeder weiß, dass gerade die Brüche und Krisen Chancen in sich bergen.
Vielleicht schaut man in Deutschland nicht gern von anderen ab?
Ja, das ist so. Ich habe immer gesagt: Copy with Pride! Warum das Rad neu erfinden, wenn es andere Organisationen, Länder oder Unternehmen schon längst erschaffen haben. Ich habe mich zu Beginn der Pandemie gefragt, wann fährt eine deutsche Delegation nach Taiwan? Die haben beim Sars-Virus viel gelernt und haben Corona bei geöffneten Schulen und Geschäften sehr gut unter Kontrolle.
Ihre Eltern waren beide Lehrer, wie sehr hat Sie das geprägt?
Wenn man aus einem klassischen Bildungshaushalt kommt, dann macht das vieles leichter.
Wären Sie auch ohne Bildungshintergrund so weit gekommen?
Ich glaube nicht, und wenn dann nur mit deutlich mehr Anstrengungen. In Deutschland ist immer im Vorteil, wer aus einem bildungsnahen Elternhaus kommt. Es wäre für mich viel schwerer gewesen, so eine Karriere zu machen, wenn ich alle Spielregeln, die in bestimmten sozialen Schichten gelten, hätte erst lernen müssen.
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Wie steht es um die Bildungsgerechtigkeit während des Homeschoolings?
Da sich niemand das Elternhaus aussuchen kann, verschärft sich die Bildungsungerechtigkeit während der Pandemie. Leider gab es auch keine Strategie der Kultusminister und Kultusministerinnen, um über eine überfällige Reform des Bildungssystems hin zu mehr digitaler Infrastruktur und entsprechender Didaktik zu sprechen. Dabei hätten wir alles dafür tun müssen, damit Schulen und Kitas geöffnet bleiben. Das hätte die Priorität sein müssen. Dort sitzt die Zukunft des Landes. Dass unser Bildungssystem so ist, wie es ist, wissen wir seit mehr als zehn Jahren. Pisa belegt das eindrücklich. In Ganztags-Kitas und -Schulen könnten diese Defizite ausgeglichen werden, doch davon gibt es zu wenig.
Ist es möglich, dass sich Unternehmen nur aus dem Homeoffice heraus weiterentwickeln?
Das reicht sicher nicht aus. Videokonferenzen sind eindimensional und verbergen viele Informationen meines Gegenübers wie Körpersprache, Zustimmung oder Abwehr. Aber um kreativ zu sein, um neue Dinge zu entwickeln, Prozesse und Innovationen anzustoßen, braucht man das. Gleichzeitig eröffnet uns die jetzige Situation auch, was möglich ist. Früher bin ich manchmal für ein Zwei-Stunden-Meeting in eine andere Stadt geflogen. Das ist künftig hoffentlich nicht mehr nötig. Auch aus ökologischen Gründen. Aber auch, weil wir durch die Corona-Pandemie mehr Flexibilität gelernt haben.
Brauchen wir noch Bürotürme? Es geht ja ganz gut ohne.
Wenn jetzt ein Unternehmen versteht, es braucht weniger Bürofläche, dann ist das in Ordnung. Gleichzeitig gibt es aber auch Unternehmen, die sehr stark während der Pandemie gewachsen sind. Kurzfristig werden wir jedoch weniger Ladenflächen verzeichnen, denn es wird noch viel mehr Insolvenzen als Folge der Pandemie geben.
In Ihrem Buch erzählen Sie sehr offen vom Konkurrenzverhältnis zwischen Karriere und Kindern. Sie haben eine beispiellose Karriere gemacht - mit Kindern bis in den Siemens-Vorstand. Wie hart war das?
Das war natürlich sauanstrengend. Und alle Eltern, die Kinder haben, wissen das. Aber es hat mich ja keiner gezwungen, ich wollte beides: Kinder und Karriere. Und ich bereue es nicht. Dafür musste ich mich sehr organisieren und mir eingestehen, ich kann nicht alles. Zeit für mich hatte ich selten bis nie, müde war ich immer. Das einzige Hobby, welches ich mir zugestand, war das Laufen. Ich möchte aber auch Mut machen, dass es möglich ist: Meine erste berufliche Sozialisierung erlebte ich den USA und Skandinavien. Als ich als Beraterin in einem skandinavischen Unternehmen eingesetzt war, verließ das gesamte Management um 17 Uhr das Büro – Männer und Frauen. In Deutschland dagegen heißt es immer: Entweder – oder. Die Rollenbilder sind in Deutschland zementiert.
Wie erklären Sie sich das?
Im Zweiten Weltkrieg haben die Frauen in Deutschland in Personalunion alles gemacht, gearbeitet, die Familie versorgt. Als die Männer aus dem Krieg zurückkamen, wurden die Frauen wieder in die Hausfrauenrolle gedrängt. Es galt: Lieber einem Mann einen Job geben, damit er die Familie ernähren kann.
Als Siemens-Vorständin war bei Ihnen von 18 bis 21 Uhr „Familienkernzeit“. Wie kam das bei den Kollegen an?
Bei manchen sehr positiv, vor allem bei denen, die in der gleichen Situation waren, wie ich. Denn ich war ja weg, mir musste keiner mit Präsenz beweisen: Guck mal, Chefin, ich bin so fleißig. Es wurde schnell akzeptiert. Aber ich habe auch betont, dass ich nicht erwarte, wenn ich mich um 21 Uhr wieder an den Rechner setze, dass ich noch eine Antwort auf meine E-Mail bekomme.
Auch nach der Pandemie werden viele Menschen mehr Zeit im Homeoffice verbringen. Eine Chance für Frauen, die Familie und Karriere vereinen wollen?
Ich glaube schon, dass das Homeoffice es erleichtert, Familie und Karriere zu vereinbaren. Das gilt im Übrigen nicht nur für Frauen. Je mehr Menschen versuchen, Kinder und Beruf zu vereinbaren, umso selbstverständlicher wird es. Zudem spielt Eltern auch der Fachkräftemangel in die Karten. Vor diesem Hintergrund können Arbeitnehmer ihre Bedingungen diktieren, nicht nur finanzieller Art, sondern, wie sie arbeiten möchten.
Dürfen die Kinder auch mal durchs Bild laufen im Onlinemeeting?
Natürlich! Durchs Bild zu laufen wäre eher meinen Kindern peinlich, die sich in der Pubertät abnabeln wollen. In meiner Siemens-Zeit hatte ich eine Justiziarin im Führungsteam, die gerne ihre Kinder aus der Kita abholen wollte. Wenn ich wirklich dringend von ihr etwas wissen wollte, durfte ich sie anrufen. Mir ist es doch egal, ob im Hintergrund ein Spielplatz zu hören ist.
Sie selbst haben immer in Vollzeit gearbeitet, sind 15 Wochen nach der Geburt Ihrer Zwillinge wieder ins Büro zurückgekehrt. Warum?
Ansonsten wäre mein Job als Abteilungsleiterin weg gewesen. Meinem Chef habe ich vor der Geburt gesagt, ich möchte wiederkommen. Für ihn war das kein Problem. In der Ebene darüber hat man aber gemeint– die kommt nie wieder und wir suchen eine Nachfolge. Natürlich hatte ich einen rechtlichen Anspruch darauf, einen vergleichbaren Job zu bekommen. Aber ich habe oft genug gesehen, was es in der Realität bedeutet: Sie kriegen das gleiche Geld und machen irgendetwas anderes. Das wollte ich nicht.
Was ist so schlimm an Teilzeit?
Es ist grundsätzlich nichts schlimm an Teilzeit. Aber ich kritisiere das Modell, weil 70 Prozent der Frauen in Teilzeit arbeiten und nur sechs Prozent der Männer. Die Folgen tragen also meist Frauen. Jedes Kind führt eine Frau mehr in Richtung Altersarmut: die Lücken beim Einkommen und der Karriere verschärfen sich. Wer dauerhaft in Teilzeit ist, wird nicht gefördert. Das ist schockierend aber leider wahr. Die Folgen einer solchen Entscheidung werden erst nach etwa 15 Jahren deutlich – und dann sind viele sehr unglücklich über den Weg, den sie gewählt haben. Wenn sich Paare alles aufteilen, ist das der gerechtere Weg.
Ist die Vermischung von Privatem und Beruf eigentlich gesund? Oder ist sie unaufhaltsam? Oder gar notwendig?
Das kommt auf die Person an. Aber eines müssen Sie auf jeden Fall lernen: Abschalten. Smartphones haben einen Aus-Knopf. Das betrifft auch die Führungskräfte. Wenn Sie flexibles Arbeiten zulassen, müssen sie noch genauer die Regeln dafür beschreiben.
Regelarbeitszeit in Deutschland sind acht Stunden pro Tag und nicht mehr als eine 40-Stunden-Woche. In der Praxis hinkt das Modell. Oft sind 40 Stunden schon nach vier Tagen erreicht. Brauchen wir neue Gesetze?
Die EU lässt längst eine 48-Stunden-Woche zu, nur ist das noch nicht in deutsches Recht umgesetzt. Zudem wird in Deutschland starr an der Elf-Stunden-Unterbrechung festgehalten. Natürlich ist das sinnvoll in manchen Jobs. Doch für uns als WissensarbeiterInnen heißt das, es müssen immer elf Stunden zwischen der letzten E-Mail am Abend und dem Arbeitsbeginn am nächsten Morgen liegen. Das führt zu zahlreichen Arbeitszeitverstößen. Hier ist Deutschland schwer geprägt durch die Industrialisierung – eine Flexibilisierung ist überfällig: Wenn Sie Ihre Arbeit schon bis Donnerstagabend erledigt haben, dann ist der Freitag halt frei. Österreich hat diesen Schritt vor einem Jahr gemacht und ich habe bislang keine Klagen gehört.
Sie sind nicht nur Führungskraft, Sie sind auch eine Schwarze Frau. Haben Sie Rassismus im beruflichen Kontext erlebt?
Meine Hautfarbe hat in meinem Berufsleben keine spürbare Rolle gespielt. Das ist aber sicher darauf zurückzuführen, dass ich immer in großen, internationalen Unternehmen gearbeitet habe. Bei Konzernen wie Siemens oder Accenture wäre das undenkbar. Das erlebe ich privat anders: Wer wird vom Zoll am Flughafen rausgezogen? Ich. Oder wenn wir mit der Familie vom Skifahren mit dem Auto zurückkommen? Ich. Wenn mein Partner am Steuer sitzt, werden wir an der bayerischen Grenze nicht angehalten. Rassismus gibt es. Aber wir müssen wegkommen von der Diskussion über einzelne persönliche Erfahrungen wie meine, hin zu einer strukturellen Betrachtung. Und eine strukturelle Rassismus Debatte in Deutschland sollte nicht Black Lives Matter heißen, sondern vor allem Migrant Lives Matter. Wir haben andere Einwanderungsstrukturen als die Amerikaner und eine andere Geschichte.
Welchen Vorteil haben diverse Teams?
Die Ergebnisse werden besser, weil unterschiedliche Perspektiven einfließen. Sie diskutieren mehr, streiten mehr und erfassen so die Komplexität der Welt besser. Denken Sie einmal an das Management der Corona-Pandemie: Wie oft haben sich manche Menschen in Deutschland gefragt: Hat eigentlich mal irgendjemand an meine Lebensrealität gedacht?
Janina Kugel zur Person und zu ihrem neuen Buch
In ihrem neuen Buch „IT’S NOW: Leben, führen, arbeiten - Wir kennen die Regeln, jetzt ändern wir sie“ will sie Mut machen und überzeugen, etwas zu ändern. „Veränderungen sind das Normalste der Welt, dennoch haben so viele Menschen Angst davor. Warum eigentlich? Ich habe Veränderungen immer als Chance verstanden“, sagt die ehemalige Personalvorständin von Siemens darin. Lesen Sie auch, warum Deutschland für mehr Gleichberechtigung neue Gesetze braucht.
Kugel ist 1970 in Stuttgart geboren, studierte in Mainz und in Italien Volkswirtschaftslehre. Sie begann als Unternehmensberaterin, wechselte zur Siemens AG, wurde ab dem Jahr 2015 dort Personalvorständin. Lesen Sie hier, wie Janina Kugel 2016 Siemens veränderte und in die Zukunft führte.
Sie steht seit 2016 auf der Liste der einflussreichsten Frauen der deutschen Wirtschaft. Anfang 2020 verließ sie Siemens. Kugel ist Mutter von Zwillingen und lebt mit ihrem Partner in München.