Hamburg. Was macht es mit einem Menschen, wenn er seinen Job schon lange nicht mehr machen darf? Zwei Hamburgerinnen erzählen.
Sie kann sich einfach nicht daran gewöhnen. Wenn Sabine Günther morgens um sechs zur Schicht kommt, fühlt es sich jedes Mal so an, als ob sie menschenseelenallein in dem großen Hotel ist. Das stimmt natürlich nicht ganz. „Aber die Situation ist schon bedrückend. Ganze Flure sind seit Monaten dunkel und verlassen“, sagt sie. In der Lobby, wo der geschäftige Betrieb sonst nur für wenige Stunden in der Nacht eine kurze Pause macht, herrscht gespenstische Leere.
Kaum jemand, der seinen Trolley an die Rezeption rollt. Auch Frühstücksbüfett, Restaurant und Wellnessbereich sind verwaist. Günther zieht ihre Arbeitskleidung an, schwarzes Poloshirt und Schürze, nimmt ihren Putzwagen und schiebt los.
Nachts liegt Sabine Günther vor Sorgen wach
13 Jahre lang arbeitet die Hamburgerin schon als Reinigungskraft in dem Vier-Sterne-Haus, ist für die Sauberkeit der Gemeinschafts- und Personalflächen zuständig. „Normalweise bin ich acht Stunden am Tag im Einsatz, um das zu schaffen“, sagt sie. Corona hat alles verändert. Seit dem Frühjahr 2020 ist Sabine Günther in Kurzarbeit. Wenig Gäste machen wenig Dreck. Die ersten zwei Monate war sie komplett zu Hause. Aktuell arbeitet sie zwölf Stunden in der Woche. Immerhin. „Ich hätte nie gedacht, dass mir das passieren würde.“ Und schon gar nicht, dass es so lange dauert.
Fast ein Jahr geht das jetzt schon so. Ein Jahr, in dem sie auf das Kurzarbeitergeld angewiesen ist, in dem sie vor Sorgen nachts oft wach liegt, in dem sie die Zuversicht für die Zukunft verloren hat. „Wir müssen irgendwie über die Runden kommen“, sagt Sabine Günther. Große Sprünge waren auch vorher schon nicht drin. Aber jetzt plagen sie große Ängste, wie es mit der Familie weitergeht.
Der Sohn hat das Asperger-Syndrom
Ihr Sohn hat das Asperger-Syndrom. Er besucht die vierte Klasse einer Privatschule. Seit mehr als zwei Monaten ist er auch zu Hause in der kleinen Wohnung in Mümmelmannsberg und soll digital lernen. „Das ist nicht einfach. Er braucht viel Hilfe“, sagt seine Mutter. Immerhin: Ehemann Manuel Günther ist im Lager eines Autoteile-Handel beschäftigt und hat noch Arbeit. „Sonst wüsste ich gar nicht, wie es gehen soll“, sagt die 53-Jährige.
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Sabine Günther ist eine von mehr als 100.000 Hamburgerinnen und Hamburgern in Kurzarbeit. Ein unsichtbares Heer an Menschen im Zwischenzustand. Wie hoch die Zahl aktuell genau ist, lässt sich wegen der Antragsfristen erst mit einem Zeitversatz von mehreren Monaten sagen. Schon jetzt ist aber klar, dass die Kurzarbeitsanzeigen von Unternehmen bei der Agentur für Arbeit nach einer Abschwächung im Sommer seit Beginn des Teil-Lockdowns im November wieder steigen.
Günther war früh nach Hause geschickt worden
Günther kennt das Gefühl, wenn es so weit ist. Schon kurz nachdem das Virus im vergangenen Frühjahr das öffentliche Leben umgekrempelt hatte, war sie von ihrer Abteilungsleiterin nach Hause geschickt worden. Hotels und Restaurants sind besonders vom Lockdown betroffen. „Für mich war das total fremd“, sagt sie. In ihrer Branche kann man sich den Job aussuchen, normalerweise. Erst mal saß sie zu Hause und wusste nicht, was sie mit sich anfangen sollte.
Nicht gerade eine Situation, die zu ihrem Bild von sich selbst passt. Sabine Günther, kurze blonde Haare, fester Händedruck, resolute Stimme, lässt sich nicht leicht verunsichern. Seit Jahren gehört sie dem Betriebsrat an, sie kennt ihre Rechte. Aber dass von einer Woche zur anderen plötzlich die komplette äußere Struktur ihres Alltags wegbrach und damit auch das Gefühl, einen festen Platz im Lebens zu haben, hat ihr zugesetzt.
Finanzielle Unsicherheit
„Natürlich bin ich froh, dass ich meinen Arbeitsplatz noch habe“, sagt Günther, die schon zwei Kinder großgezogen hat. Aber da schwingt ein großes Aber mit. Es ist der Verlust von Sicherheit, der gerade jetzt in Zeiten der Pandemie besonders hart ist.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).
Auch, weil schnell klar war, dass Kurzarbeit finanzielle Unsicherheit bedeutet. Statt eines Netto-Lohns von 1300 bis 1400 Euro hatte Günther plötzlich nur noch gut 800 Euro Kurzarbeitergeld auf dem Bankkonto. Miete, Schulgeld, Auto, Kreditraten – obwohl ihr Mann weiter verdient, war es plötzlich sehr eng. Ein Antrag auf Hartz IV, um das monatliche Einkommen aufzustocken, wurde abgelehnt. „Wir lagen um ein paar Euro über der Bemessungsgrenze“, sagt die Hotelangestellte und man merkt, dass sie darüber nicht gern spricht.
430 Euro Kurzarbeitergeld
Als die Bank auch noch den Antrag ablehnte, die Kreditraten zu stunden, war sie zum ersten Mal wirklich verzweifelt. „Die haben das damit begründet, dass die Entwicklung in der Hotelbranche zu unsicher ist und damit auch mein Arbeitsplatz.“ Schließlich haben sie und ihr Mann Freunde angepumpt, um die größten Löcher zu stopfen. 1500 Euro. Bislang konnten sie das Geld noch nicht zurückzahlen.
„Es hilft uns schon sehr, dass ich zumindest ein paar Stunden in der Woche arbeiten kann“, sagt sie. Aktuell ist sie auf 70 Prozent Kurzarbeit. Die jüngste Abrechnung weist 662 Euro Lohn aus, dazu kommen 430 Euro Kurzarbeitergeld. Weil sie inzwischen als Langzeit-Kurzarbeiterin gilt, stieg der Satz im November von 60 Prozent des Nettolohns auf 80 Prozent plus Kinderzuschlag.
Gewerkschaft NGG fordert mindestens 1200 Euro Kurzarbeitergeld
„Ich bin wirklich sparsam, schaue mir die Lebensmittelpreise genau an, aber es bleibt eng“, sagt Sabine Günther. Die 200 Euro Schulgeld muss sie weiterzahlen, immerhin erlässt die Schule seit Januar die 68 Euro Essensgeld. Gerade kam eine Mieterhöhung. Für sich selbst hat sie seit einem Jahr nichts mehr gekauft. Eine Sorge ist, dass in den nächsten Monaten eine Zahlungsaufforderung der Steuerkasse kommt. Das können einige Hundert Euro sein. Vielleicht auch mehr. Das Kurzarbeitergeld muss versteuert werden. „Das ist vielen gar nicht klar.“
Corona-Gipfel: Das bedeuten die Beschlüsse für Hamburg
Sabine Günther weiß, dass es vielen im Hotel- und Gastgewerbe noch viel schlechter geht als ihr. In der Branche, in der Mindestlöhne gezahlt werden, reicht das Kurzarbeitergeld oft nicht zum Leben. Nach der erneuten Verlängerung des Lockdowns fordert die Gewerkschaft NGG mindestens 1200 Euro Kurzarbeitergeld im Monat für alle. „Viele Beschäftigten wissen nicht mehr, wie sie ihre Miete bezahlen sollen. Letzte Reserven sind längst aufgebraucht“, sagt die Geschäftsführerin der Region Hamburg-Elmshorn, Silke Kettner.
Kurzarbeit ist eine große Belastung
Es könnten noch Monate vergehen, bis Lokale und Hotels wieder öffnen. Kettner befürchtet ähnliche Folgen wie im Frühjahr 2020. Damals meldeten der Gewerkschaft zufolge in Hamburg 2800 gastgewerbliche Betriebe Kurzarbeit an – 73 Prozent der Branche. Mindestens 24.500 Beschäftigte waren in Kurzarbeit.
Auch wenn Kurzarbeit in der Corona-Pandemie viele Branchen stabilisiert und in Hamburg nach Schätzungen der Arbeitsagentur bislang mehr als 100.000 Arbeitsplätze über die Krise gerettet hat – es ist für die Betroffenen auch eine große Belastung. Laut einer aktuellen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschafts-nahen Hans-Böckler-Stiftung haben mehr als die Hälfte der Betroffenen Existenzängste.
Fehlende Perspektive
48 Prozent der Kurzarbeiter und Kurzarbeiterinnen bewerteten ihre Lage demnach als stark belastend. Die Wissenschaftler hatten im November mehr als 6100 Erwerbstätige online befragt. Auch wenn die individuelle Situation der Beschäftigten in Kurzarbeit besser ist als die von Arbeitslosen, sieht das Forscherteam erhebliche Risiken. „Angesichts des historisch beispiellosen Umfangs von Kurzarbeit ist mit sich verschärfenden sozialen Problem zu rechnen, da finanzielle Rücklagen entweder schon aufgebraucht sind oder weiter schrumpfen werden“, sagen die Forscher Toralf Pusch und Hartmut Seifert.
Dazu kommt für viele die emotionale Belastung und die fehlende Perspektive. Bei der Corona-Hotline des städtischen Trägers hamburger arbeit, bei der Menschen sich beraten lassen können, dreht es sich häufig um das Thema Kurzarbeit. „Es melden sich Menschen, die nicht wissen, wie sie mit der finanziellen Einschränkung ihre Familie auf lange Sicht weiter ernähren sollen und wie sie weiter ihre Miete bezahlen sollen“, sagt die Teamleiterin der Sozialberatung, Barbara Schneider. „Oft sind die Menschen zermürbt und suchen Hilfe, was sie tun können.“
Es kann jeden und jede treffen
Es kann jeden und jede treffen. Auch Maren Dickers ist eigentlich jemand, die sich nicht leicht unterkriegen lässt. Seit 30 Jahren arbeitet die Hamburgerin auf St. Pauli. Aktuell leitet sie die Diskothek Frieda B. und die Chikago Bar am Hans-Albers-Platz. 1000 bis 1500 Gäste tanzten und tranken hier vor der Pandemie Freitag- und Sonnabendnacht bis morgens um acht Uhr. An den anderen Tagen machte die 49-Jährige DJ-Buchungen, Dienstpläne, Veranstaltungsplanung – immer gab es mehr Arbeit als Zeit. Im vergangenen März war von einem Tag auf den anderen Schluss.
„Ich bin von 100 auf null runtergefahren“, sagt Dickers. „Gefühlt war es sogar deutlich unter null.“ Es folgte der emotionale Absturz mit vielen bitteren Tränen. Plötzlich saß sie allein mit ihrem Hund zu Hause und hatte nichts mehr zu tun. „Ich bin tief gefallen und hart aufgeschlagen“, beschreibt es die gelernte Werbekauffrau. Statt knapp mehr als 2000 Euro netto hatte sie noch 1200 Euro Kurzarbeitergeld. Ein Mini-Job fiel komplett weg. Aber ihr Chef stockte das Kurzarbeitergeld um 400 Euro auf. Inzwischen sind es durch die Anhebung des Kurzarbeitergeldes gut 1800 Euro. Finanziell kommt sie klar.
Düstere Prognose
Sie lebt in einer Eigentumswohnung. Dafür ist sie dankbar. Trotzdem braucht sie etwas, um die Tage zu füllen. Einen Sinn. Seit einigen Monaten coacht sie andere beim Aufräumen und Ausmisten – ehrenamtlich. „Ich bin sehr organisiert. Das kann ich.“ Kleiderschrank, Bücherregal, Kinderzimmer – Maren Dickers schafft Ordnung. „Das hilft mir, durch die Zeit zu kommen.“
Natürlich will sie zurück in ihren Beruf. Am liebsten sofort. Aber die Realistin in ihr weiß, dass das noch sehr lange dauern kann. „Tanzen ist eine der letzten Sachen, die wieder möglich sein werden“, sagt sie. Eher nicht mehr in diesem Jahr. Und dann müsse man sich natürlich auch fragen, wie lange die Betreiber das noch durchhielten. Und noch eine Angst begleitet sie. „Wer weiß, ob St. Pauli als Party-Ort nicht in Vergessenheit gerät.“
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Auch Sabine Günther rechnet nicht damit, dass ihr Hotel in den nächsten Monaten wieder in Normalbetrieb umschalten und sie Vollzeit in ihre Position im Housekeeping zurückkehren wird. Eigentlich sollte sie sich an ihr Leben in Kurzarbeit gewöhnt, sich damit arrangiert haben. Die Freiräume vielleicht sogar genießen. „Aber ich bin abends immer total erschlagen“, sagt sie. „Ich will nur noch ins Bett, und kann dann oft nicht schlafen.“ Die aktuelle Nachrichtenlage verfolgt sie schon lange nicht mehr. Es geht immer nur um Corona. Wegen der angespannten finanziellen Situation gibt es Spannungen zu Hause.
Was wünscht sie sich? Eine Zeitmaschine, um sich in die Zeit nach Corona zu beamen? Sabine Günther lacht. Zum ersten Mal in dem Gespräch. Sie ist schließlich Realistin. „Ich weiß gar nicht, ob ich alles wieder so will wie vorher“, sagt sie dann. Sie habe immer viel gearbeitet, Überstunden gemacht, auf freie Tage verzichtet. „Man wird auch verbrannt in der Hotellerie.“ Auf der anderen Seite weiß sie nicht, wie lange sie ihren Arbeitsplatz überhaupt noch hat. Sabine Günthers Arbeitgeber hat eine erste Entlassungswelle angekündigt.