Berlin. Schon jetzt sind mehr Bauarbeiter während der Arbeit gestorben als im Vorjahr. Die zuständigen Kontrolleure sind derweil im Homeoffice.
Nur die Gummistiefel ragen unter den blauen Planen hervor, dazwischen gehen Ermittler und die Spurensicherung ihrer Arbeit nach. Unter den Planen liegen vier Männer, zwei 37-Jährige, ein 34-Jähriger und ein 16-Jähriger.
Alle vier sind tot. Drei von ihnen wurden von einer einstürzenden Betondecke erschlagen, einer erstickte unter den Trümmern. Es sind schockierende Bilder , die Mitte Oktober im bayerischen Denklingen, rund 80 Kilometer südwestlich von München, entstanden. Bei Betongießarbeiten war eine Decke mit Schalung eingestürzt und begrub die Männer unter sich.
Arbeitsunfälle: Schon jetzt sind mehr Bauarbeiter als im Vorjahr gestorben
Der Unfall in Denklingen sorgte für Aufsehen, da gleich vier Menschen auf einmal ihr Leben verloren. Eine Ausnahme ist er nicht. Zwei Tage nach dem Unfall stürzte im Harz ein 57-Jähriger von einem Gerüst und starb. In der vergangenen Woche verunglückte ein 52-Jähriger tödlich in Bad Saulgau, als er von einem rückwärtsfahrenden Bagger eingeklemmt wurde.
Schon jetzt sind mehr Bauarbeiter bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen als im gesamten Vorjahr. Allein zwischen Januar und September starben 87 Bauarbeiter , wie aus einer Statistik der Berufsgenossenschaft Bau (BG BAU) hervorgeht, die unserer Redaktion vorliegt. 74 von ihnen starben während der Arbeit, 13 auf dem Anfahrtsweg. Im gesamten Vorjahr gab es nur 70 tödliche Unfälle während der Arbeit.
IG BAU erhebt schweren Vorwurf gegenüber staatlichen Kontrolleuren
Warum sterben im Corona-Jahr mehr Bauarbeiter als sonst? Robert Feiger , Vorsitzender der Bau-Gewerkschaft IG BAU, erhebt einen schweren Vorwurf gegenüber den Kontrollbehörden der Länder: „Auch die Ämter für Arbeitsschutz haben in weiten Teilen auf Homeoffice umgestellt. Baustellenkontrollen sind deshalb rapide zurückgegangen“, sagte Feiger unserer Redaktion.
Und der IG-BAU-Chef ergänzt: „Wenn die, die sich professionell um den Infektionsschutz am Arbeitsplatz kümmern, dies nicht mehr machen dürfen und zu Hause bleiben müssen, dann ist das geradezu absurd. Schützen ist schließlich ihr Job.“
Laut Länderausschuss fanden 80 Prozent der Kontrollen statt
Kontrolleure im Homeoffice anstatt auf der Baustelle? Der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) räumt auf Anfrage ein, dass im März und im April die „Außendiensttätigkeit auf dringende Unfalluntersuchungen und Fälle mit Gefahr in Verzug beschränkt“ gewesen sei. Allerdings hätten in diesem Jahr „trotz der widrigen Umstände etwa 80 Prozent der Besichtigungstätigkeit in den Betrieben stattgefunden“.
Wer sich in den Bundesländern umhört, stellt fest, wie unterschiedlich mit den Arbeitsschutzkontrollen während der Pandemie umgegangen wird. Rheinland-Pfalz etwa teilt mit, dass man auf einen „dialogorientierten Vollzug, bei dem nicht die Kontrolle im Vordergrund steht, sondern das Hinführen des Arbeitgebers zur pflichtgemäßen Wahrnehmung der Pflichten des Arbeitsschutzes“ setze.
In Mecklenburg-Vorpommern habe man Ende März Außendiensttätigkeiten „bis auf Anlässe mit Gefahr im Verzug“ eingestellt und stattdessen verstärkt telefonisch beraten. Die Zahl der Kontrollen ging im Vorjahresvergleich um mehr als 40 Prozent zurück .
Sachsen-Anhalt teilte auf Anfrage mit, dass es „bis auf wenige Ausnahmen“ im ersten Lockdown im März keine Außendienste mehr gegeben habe. Die Zahl der Besichtigungen auf Baustellen ging um 14 Prozent zurück auf 1106 Kontrollen.
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Mehr Kontrollen in NRW, Bremen und im Saarland
Andere Bundesländer haben sich angepasst. Das Saarland und Bremen setzen auf Wechselmodelle beim Homeoffice. Die Zahl aller Arbeitsschutzkontrollen stieg im Saarland um 25 Prozent im Vorjahresvergleich, in Bremen um 18 Prozent.
Nordrhein-Westfalen kontrollierte, aufgeschreckt von den Zuständen in den Schlachthöfen, nach eigenen Angaben 60 Prozent mehr als noch im Vorjahr. In Hamburg und Sachsen bewegen sich die Zahlen auf dem Vorjahresniveau.
Einige Bundesländer meiden eine klare Aussagen
Nicht alle Bundesländer sind so auskunftsfreudig, wenn es um die Arbeit von zu Hause geht. Berlin fürchtet, dass Informationen zum Homeoffice-Anteil der Aufseher die Arbeit der Gewerbeaufsicht „nachteilig beeinträchtigen könnte“ und gibt daher keine Auskunft.
Baden-Württemberg fühlt sich erst gar nicht zuständig. „In eigener Verantwortung“ würden die 44 Stadt- und Landkreise sowie teilweise die vier Regierungspräsidien über „ihren Personaleinsatz, den Umfang des Vollzugs und arbeitsorganisatorische Maßgaben“ entscheiden.
Es fehlt an Personal in den Aufsichtsbehörden
Dass personell Not am Mann ist, wird aus Sitzungsprotokollen des Beirats für Arbeitsschutz beim niedersächsischen Gesundheitsministerium deutlich, die unserer Redaktion vorliegen. Ende Mai heißt es darin, dass die „Gewerbeaufsichtsämter nicht über genügend Personal verfügen, um bei konkreten Beschwerden zu kontrollieren.“
Bei einem zweiten Protokoll aus dem September heißt es: „Die Besichtigungen durch die Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter wurden wieder aufgenommen.“ Ein Ministeriumssprecher bestätigt auf Nachfrage, dass man erst jetzt wieder verstärkt auf Eigeninitiative hin prüfe.
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„Staat konnte nicht mehr als fünf Prozent aller Baustellen kontrollieren“
Als nicht ungewöhnlich empfindet das einer, der sowohl die Seite des Baustellenarbeiters als auch die des Kontrolleurs kennt. Wolfgang Leihner-Weygandt arbeitete über 25 Jahre lang als Aufsichtsperson beim Regierungspräsidium Darmstadt, nun ist der 67-Jährige als Sicherheitskoordinator beim Neubau des Terminal 3 am Frankfurter Flughafens aktiv.
„Erfahrungsgemäß konnte der Staat nicht mehr als fünf Prozent aller Baustellen kontrollieren“, sagt Leihner-Weygandt. Während auf Großbaustellen wie am Frankfurter Flughafen alle vier bis sechs Wochen die Aufsicht vorbeischaue, könne es bei kleineren Unternehmen auch mal fünf Jahre dauern, bis eine unangekündigte Besichtigung stattfindet.
Eine Kontrolle in 20 Jahren
Es geht noch extremer: So musste etwa die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern jüngst eingestehen, dass in dem norddeutschen Bundesland Firmen im Schnitt nur alle 20 Jahre mit einem Besuch der Arbeitsschutzbehörde rechnen müssen.
Dabei sollen staatliche Kontrolleure eigentlich rund die Hälfte der Arbeitszeit im Außendienst verbringen, sagt Leihner-Weygandt. Nur: „Das ist eine Zielvorgabe, die nicht eingehalten werden kann“, sagt der Südhesse.
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Unfälle sind von vielen Faktoren abhängig
Mit Pandemiebeginn seien die staatlichen Außenkontrollen dann auf schwere Arbeitsunfälle und konkrete Beschwerden begrenzt worden. Die Zeit, die nicht mehr bei Außenkontrollen verbracht wurde, habe man genutzt, um den aufgestauten Papierkram abzuarbeiten.
Dass deshalb aber automatisch die Todeszahlen steigen, hält Leihner-Weygandt für zu kurz gegriffen. „Die Arbeitsbedingungen auf Baustellen sind prekär . Subunternehmer tauschen ihre Arbeitskräfte nach Belieben aus, Wissen geht verloren“, sagt der 67-Jährige.
Auch in Corona-Zeiten sei die Fluktuation hoch. Verletzte Arbeiter seien einfach ausgetauscht worden. „Wo bleibt hier die Würde des Menschen“, klagt Leihner-Weygandt und nimmt die Aufsichtsbehörden in Schutz: „Auch die Kollegen haben auch nur zwei Hände. Die Personalknappheit führt dazu, dass man nicht alle Aufgaben bewältigen kann.“
Bayerisches Arbeitsministerium richtet sich mit Appell an Arbeitgeber
In Denklingen sammeln die Einwohner derzeit Spenden für die Hinterbliebenen des tödlichen Unfalls aus dem Oktober. Das bayerische Arbeitsministerium bezeichnet den Unfall auf Anfrage als „sehr tragisch“. Um die Zahl der Unfälle künftig zu reduzieren, würden „Kontrollen der Arbeitsschutzbehörden eine wesentliche aber nicht die alleinige Rolle“ spielen.
Auch die Arbeitgeber seien gefordert. Wie viele bayerische Kontrolleure während der Pandemie im Homeoffice waren, will das Ministerium nicht mitteilen. Aus einem internen Schriftverkehr mit Arbeitnehmervertretern geht allerdings hervor, dass auch in Bayern Kontrollen „zumeist anlassbedingt aufgrund von Beschwerden, Unfällen oder Hinweisen Dritter“ erfolgen würden.
Für Gewerkschaftschef Feiger sind die uneinheitlichen Zustände in den Ländern ungenügend. „Den ‚Homeoffice-Leerlauf‘ bei den staatlichen Kontrollen im Arbeits- und Gesundheitsschutz können wir uns nicht länger erlauben“, sagt er.