Berlin. Bei der Digitalisierung hinkt Deutschland hinterher. Zur Aufholjagd setzt man auf alte Tugenden: Genauigkeit und ein dickes Regelwerk.

Deutschland und die Digitalisierung – das will auch im Jahr 2020 immer noch nicht so richtig zusammenpassen. Jüngst kam die private Wirtschaftshochschule IMD in Lausanne zu dem Schluss, dass die Bundesrepublik weiter den Anschluss verliert.

Lag Deutschland 2016 im internationalen Vergleich zu der Frage, wie stark die Länder auf digitalen Technologien setzen, noch auf Platz 15, ist es in diesem Jahr um drei Plätze nach hinten gerutscht. Platz 18 von 63 untersuchten Ländern – kein gutes Zeugnis für den Exportweltmeister.

In zwei Wochen werden Spitzenvertreter aus Politik und Wirtschaft zum alljährlichen Digitalgipfel zusammenkommen, um darüber zu diskutieren, wie Deutschland im Digitalen wieder vorne mitspielen kann. Eine besondere Hoffnung ruht dabei ausgerechnet auf alten Tugenden: Genauigkeit und Regelkunde. Denn die Zukunft der Künstlichen Intelligenz (KI) in Deutschland liegt in Händen, die viele nur mit gängigen Papier-Maßen verbinden: in denen des Deutschen Instituts für Normung (DIN) .

Digitale Aufholjagd: Deutschland setzt auf Regelkunde und Genauigkeit

Während allein Apple an der Börse mehr wert ist als alle deutschen Dax-Unternehmen zusammen, Google an seinem Quantencomputer schraubt, und Amazon mit seinem Sprachassistenten Alexa längst die KI in die Wohnzimmer gebracht hat, arbeitet Deutschland an neuen Regeln.

Schon heute finden sich rund 34.000 aktive Normen im DIN-Regelwerk, sogar für die einzelnen Büschel einer Zahnbürste gibt es eine Norm. Nun sollen weitere hinzukommen – und die Weichen für die Zukunft stellen. „Ich bin davon überzeugt, dass wir diejenigen sein werden, die KI in laufende Systeme etwa in der Produktion integrieren werden. Das können wir besser als andere“, sagt Christoph Winterhalter . Der 50-Jährige forschte 21 Jahre lang beim schwedisch-schweizerischen Automatisierungskonzern und Siemens-Konkurrenten ABB an vorderster Front an Robotertechnik. Seit vier Jahren ist er DIN-Chef.

Christoph Winterhalter steht seit vier Jahren an der Spitze des Deutschen Instituts für Normung (DIN).
Christoph Winterhalter steht seit vier Jahren an der Spitze des Deutschen Instituts für Normung (DIN). © din | Götz Schleser

Handlungsvorschläge sollen zum Digitalgipfel überreicht werden

Warum geht ein führender deutscher Robotikforscher ausgerechnet zum DIN? „Es ist toll, wenn Sachen im Labor funktionieren. Nur wird es frustrierend, wenn sie in der Produktion nicht umsetzbar sind, etwa weil sie gewisse Standards nicht erfüllen“, sagt Winterhalter unserer Redaktion.

Zum Digitalgipfel in zwei Wochen wird er der Bundeskanzlerin eine „Normungsroadmap für KI“ überreichen. Eineinhalb Jahre erarbeitete eine Gruppe aus Experten aus Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft einen Handlungsrahmen, wie Normen und Standards dabei helfen können, dass Deutschland international wettbewerbsfähig bleibt – denn zuletzt war der IT-Standort Deutschland zu langsam für die Zukunft.

Deutsche stehen der KI aufgeschlossen gegenüber

Der Druck auf die Politik ist groß. 90 Prozent der Unternehmen hierzulande drängen laut einer repräsentativen Untersuchung des TÜV-Verbandes auf klarere gesetzliche Vorgabe zum Einsatz von KI fordern.

Und auch die Bevölkerung selbst will offenbar schneller vorangehen. Nur noch bei rund jedem Drittel überwiegen die Zweifel, rund jeder Zweite steht der KI aufgeschlossen gegenüber. Das ist das Ergebnis einer einer repräsentativen Umfrage, die der weltgrößte Autozulieferers Bosch in der vergangenen Woche vorstellte.

Und die Bundesregierung? Sie arbeitet in fast jedem Ministerium an dem Thema. Herausgekommen ist bisher unter anderem ein analoges Brettspiel. Dabei würden laut der Bosch-Umfrage schon heute mehr Deutsche beim Bau von Autos, Flugzeugen oder der industriellen Produktion der KI mehr vertrauen als dem menschlichen Mitarbeiter. „KI-Anwendungen werden sich nur dann durchsetzen, wenn Kunden und Anwender ihnen vertrauen“, sagte Boschs Technikvorstand Michael Bolle .

Vertrauen entsteht am ehesten über klare Regeln, ist DIN-Chef Winterhalter überzeugt. Er rechnet damit, dass es „in zwei bis drei Jahren“ erste Anwendungsgebiete geben wird, wo entsprechende Normen eingesetzt werden könnten.

Bitkom fordert mehr internationale Zusammenarbeit

Es ist ein Ansatz, den auch der Digital-Branchenverband Bitkom begrüßt. „Normung ist ein wichtiger Baustein für jede neue Technologie“, sagt Nabil Alsabah , Bitkom-Bereichsleiter für Künstliche Intelligenz. Wichtig seien aber nicht nur die nationalen Normen, sondern auch internationale Gremien, so Alsabah.

„Auch um dort Gehör zu finden ist es von großer Bedeutung, dass Deutschland bei Anwendung und Forschung zu KI eine weltweite Spitzenposition einnimmt. Das ist derzeit, insbesondere in Bezug auf die Anwendung von KI, nicht der Fall“, sagt der KI-Experte.

Deutschlands Stimme hätte international Gewicht

Dabei hätte zumindest in der Normung Deutschlands Stimme internationales Gewicht. In der Internationalen Organisation für Normung (ISO) stellt Deutschland die größte Normungsorganisation. 18 Prozent aller ISO-Projekte werden von DIN gesteuert. „Unser Normungssystem ist weltweit sehr angesehen“, sagt Winterhalter.

Häufig würde Deutschland bei großen Projekten das Sekretariat übernehmen. „Natürlich sind alle, die am Tisch sitzen, gleich. Aber wer moderiert, hat schon Einfluss. Von daher haben wir einen strategischen Hebel, den wir für die Digitalthemen viel stärker nutzen müssen“, sagt Winterhalter.

Die Erstellung einer Norm dauert im Schnitt zwei Jahre

Zwar sei Deutschlands Anteil an Produktangeboten von KI-Lösungen gering. „Aber wenn wir unsere Wirtschaft aktivieren können, Normen und Standards als strategisches Instrument zu nutzen, um Rahmenbedingungen für den sicheren Einsatz von KI nach europäischen Wertmaßstäben selbst mit zu definieren, kann sich dies ändern.“

Nur passt die Arbeit der rund 500 Mitarbeiter zählenden Normungsorganisation so gar nicht zu den großen Tech-Konzernen. DIN verfasst selbst keine Normen, sondern bringt Experten zusammen und moderiert den inhaltlichen Diskurs. 69 Normungsausschüsse befassen sich mit verschiedenen Anwendungsfeldern. Vom Vorschlag eines Themas, das zur Norm gemacht werden soll, bis zur Norm dauert es im Schnitt rund zwei Jahre – eine digitale Ewigkeit.

Schnelligkeit um jeden Preis? Das lehnt Winterhalter ab

Wäre Deutschland also nicht besser beraten, mit innovativen Produkten voranzugehen, anstatt sein Regelwerk zu erweitern? „Das ist eine gesellschaftliche Frage“, meint Winterhalter. In Amerika sei es akzeptiert, dass Konzerne neue Konzepte direkt ausprobieren, wenn sie für die Folgen geradestehen. Etwa wie bei dem tödlichen Unfall, den ein selbstfahrendes Uber-Auto verursachte.

In China wiederum setze die Regierung alles daran, um Technologieführer zu sein, unabhängig davon, was das für den Einzelnen bedeute. „Unsere Gesellschaft muss sich darüber unterhalten, was wir wollen. Wollen wir den amerikanischen Ansatz: Schnell sein, aber dann haben die Unternehmen extreme Freiheiten und wir haben später erst mit den Folgen zu kämpfen. Oder wollen wir es chinesisch machen: Der Staat sagt, was wichtig ist und das Volk ordnet sich unter“, fragt Winterhalter.

Er selbst plädiert für einen dritten Ansatz, den „europäischen Weg“: einen gesellschaftlichen Diskurs führen und einen sinnvolles Miteinander an staatlichen Vorgaben und privatwirtschaftlichen Normen finden, die die Gesetze technisch konkretisieren. „Der Ansatz macht uns ein Stück weit langsamer. Aber letztlich führt es nachhaltig zu einer höheren Akzeptanz der Technologie“, ist Winterhalter überzeugt.