Berlin. Die Corona-Krise wird in Deutschland mit einer falschen Sicherheit wahrgenommen, sagt Marcel Fratzscher. Nun stünden Insolvenzen bevor.

Nur wegen einer verzerrten Wahrnehmung herrsche die Meinung, Deutschland sei bislang ganz gut durch die Corona-Krise gekommen – Top-Ökonom Marcel Fratzscher zeichnet im Interview ein anderes Bild.

Herr Fratzscher, welche Lehren ziehen Sie aus einem halben Jahr Corona-Krise?

Marcel Fratzscher: Wer vor einem guten halben Jahr ein Bild einer Pandemie gezeichnet hätte, wäre vermutlich von viel schlimmeren Folgen ausgegangen. Im März haben viele noch gesagt, es wird ökonomisch viel einschneidender als die globale Wirtschafts- und Finanzkrise, es könnte zu einem Chaos führen. Die Pandemie hat aber auch das Gute in den Menschen hervorgebracht, ein beeindruckendes Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft. Das ist eine Stärke Deutschlands. Mit Blick auf Gesundheit, Wirtschaft und Beschränkungen sind wir allerdings nicht besser als andere Länder durch diese Krise gekommen.

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Woran machen Sie das fest?

Fratzscher: Das liegt an einer verzerrten Wahrnehmung: Natürlich kann man Deutschland mit Italien und Spanien vergleichen. Tatsächlich hat Deutschland aber mehr Infizierte und Tote pro eine Million Einwohner als die meisten anderen Länder. Die Wirtschaft schrumpft stärker. Und die Einschränkungen des täglichen Lebens sind signifikant. Trotzdem empfinden viele: Wir sind glimpflich davongekommen. Die Menschen haben zusammengehalten und die Schwächsten geschützt – auch dank unseres guten Sozial- und Gesundheitssystems. In den USA haben in den ersten Monaten der Pandemie 40 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren, viele können sich eine Gesundheitsversorgung nicht leisten. In Deutschland sind 7,5 Millionen Menschen in Kurzarbeit gegangen und nicht durchs Raster gefallen. Jeder bekommt eine gute Gesundheitsversorgung ohne große Unterschiede, vor allem in lebensbedrohlichen Lagen.

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Hätte es auch einen anderen Ausgang nehmen können?

Fratzscher: Das wäre durchaus möglich gewesen. Die USA zeigen, was alles schiefgehen kann. Dort ist die Gesellschaft tief gespalten, und die Politik verschärft die Polarisierung. Ein bedeutender Teil der Menschen widersetzt sich den Regeln. Klar, die gibt es in Deutschland auch. Aber es ist eine kleine Minderheit. Wir erleben in Deutschland eine sehr konsensorientierte Politik, bei der auch die Opposition mit an einem Strang zieht. Das hat viel Vertrauen geschaffen.

Marcel Fratzscher Präsident des DIW Berlin glaubt nicht an eine neue europäische Schuldenkrise.
Marcel Fratzscher Präsident des DIW Berlin glaubt nicht an eine neue europäische Schuldenkrise. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Wird die Solidarität die Krise überdauern?

Fratzscher: Natürlich wäre es spekulativ, zu sagen, die Stimmung wird nicht kippen. Aber ich sehe es nicht. Am Anfang hielten 90 Prozent der Deutschen Einschränkungen der Grundrechte zum Schutz vor dem Virus für richtig. Heute sind es immer noch 85 Prozent. Eine kleine Minderheit geht auf die Straße und schreit. Unsere Demokratie ist stark und wird das aushalten. Der Protest zwingt uns übrigens auch zur Reflexion und immer wieder zu hinterfragen, ob die aktuellen Maßnahmen noch angemessen sind.

Wird das Homeoffice unsere Arbeitswelt verändern?

Fratzscher: Für viele Menschen ist das eine Chance: Sie realisieren, dass digitales Arbeiten gut funktionieren kann. 60 Prozent sagen in unseren Umfragen, sie sind zu Hause mindestens ähnlich produktiv wie im Büro. Das wird unsere Art zu arbeiten grundlegend verändern. Wir werden weniger reisen, mehr virtuell erledigen. Große Sorge macht mir jedoch, dass die soziale Polarisierung weiter zunimmt. Etwa 60 Prozent der Menschen in Deutschland konnten nicht im Homeoffice arbeiten, weil sie an der Supermarktkasse sitzen oder Pfleger im Krankenhaus sind. Menschen in systemrelevanten Berufen sind in dieser Krise doppelt und dreifach bestraft – sie setzen sich einem erheblichen Gesundheitsrisiko aus, erhalten jedoch eine schlechtere Bezahlung und erfahren dafür häufig weniger Wertschätzung als viele andere.

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    Der Wirtschaftseinbruch ist nicht so schlimm wie befürchtet. Wird sich die Wirtschaft schneller erholen?

    Fratzscher: Wir Wirtschaftsforscher sind da eigentlich ganz optimistisch. Im Sommerquartal haben wir eine starke Erholung erlebt. Für dieses Jahr gehen wir davon aus, dass die Wirtschaftsleistung um 5,4 Prozent schrumpfen wird, und erwarten für das kommende Jahr ein Wachstum von 4,7 Prozent. Ende 2021 dürften wir voraussichtlich beim Vorkrisenniveau sein. Aber meine Sorge ist: Was wir im März und April an übertriebenem Pessimismus hatten, haben wir jetzt an überhöhtem Optimismus. Ich befürchte, dass wir viele Risiken unterschätzen. Wir wissen nicht, was in anderen europäischen Ländern passiert oder ob der Handelskonflikt USA-China wieder aufflammt. Im Inland wird uns eine Welle von Insolvenzen bevorstehen. Dann könnten die Arbeitslosigkeit steigen und Kredite ausfallen, was das Finanz- und Bankensystem in Schwierigkeiten bringen würde. So könnte ein Teufelskreis aussehen.

    Erwachen wir nach der Pandemie in einer neuen europäischen Schuldenkrise?

    Fratzscher: Das glaube ich nicht. Wir Deutschen haben immer Angst vor hohen Schulden und Inflation. Dabei sollten das momentan unsere geringsten Sorgen sein. Selbst Länder wie Italien haben in den letzten Jahren ihren Haushalt recht solide aufgestellt. Entscheidend wird sein, ob es uns nach der Pandemie in Europa gelingt, genug Wachstum zu generieren, um aus der Krise herauszukommen. Daumenschrauben wären dafür der falsche, mutige Reformen und Investitionen dagegen der richtige Weg.

    Reichen die Hilfen der Bundesregierung?

    Fratzscher: Weltweit hat keine Regierung größere Hilfen für Unternehmen und Bürger aufgelegt. Das war und ist im Großen und Ganzen bisher erfolgreich gewesen. Ich würde aber nicht ausschließen, dass die Bundesregierung nachlegen muss. Der Fokus lag bislang auf kurzfristiger Stabilisierung und zu wenig auf langfristigem Strukturwandel. Damit werden wichtige Veränderungen in Bezug auf Klimaschutz und Digitalisierung verzögert. Die Bundesregierung sollte ein Zukunftspaket auflegen, um den Strukturwandel auch etwa in der Autoindustrie mitzugestalten.

    Müsste es weitere Staatsbeteiligungen wie bei der Lufthansa geben?

    Fratzscher: Nein. Der Staat kann das nicht leisten. Wir kommen aus einer 30-jährigen Phase des Neoliberalismus, die vom Irrglauben der Überlegenheit des Marktes über den Staat gekennzeichnet war und die in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gipfelte. Davon müssen wir jetzt endgültig abkommen. Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, in das andere Extrem zu verfallen und den Staat als Lösung für alles zu sehen. Die Lufthansa ist ein besonderer Fall: Der Konzern hat ein gesundes Geschäftsmodell und war vor der Krise erfolgreich. Das können Sie nicht für die Autoindustrie oder Konzerne wie Thyssenkrupp sagen, die schon lange große Schwierigkeiten hatten. Da geht es um Strukturwandel. Außerdem hat sich der Staat bei den Verhandlungen mit der Lufthansa sehr schwergetan. Wie soll das erst mit Dutzenden anderer Unternehmen laufen?

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    Wie kann der Neustart der Wirtschaft nach Corona gelingen?

    Fratzscher: Die Pandemie war für viele Unternehmen ein Weckruf. Jetzt ist eine Chance für grundlegende Veränderungen da. Der Staat muss dafür klare Leitplanken setzen und die Infrastruktur bereitstellen, vor allem in den Bereichen Digitales und Bildung. Außerdem müssen wir im Mächtespiel zwischen den USA und China europäisch denken, wenn wir die Interessen unserer Wirtschaft wahren wollen.

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