Hamburg. Ist unser Wirtschaftssystem das falsche? Volker Mester sagt: Nein! Aus seiner Sicht müssen aber die Spielregeln angepasst werden.

Während einer Krise, so heißt es, zeigt sich der Charakter. Tatsächlich hängen nun Mitbewohner, von denen man das bestimmt nicht vermutet hätte, einen Zettel ins Treppenhaus, auf dem sie anbieten, für Ältere oder Familien in Quarantäne einzukaufen. Es gibt aber auch die anderen, die nur an sich selbst denken und in Hamburgs Supermärkten die Regale leerkaufen.

Im Internet muss man in diesen Tagen nicht lange suchen, um auf Texte von Autoren zu stoßen, die aus solchen ernüchternden Beobachtungen eine allgemeine Systemkritik entwickeln. Es sei das Prinzip der Marktwirtschaft, das die Menschen so egoistisch werden lasse, lesen wir da.

Wirtschaft in der Coronakrise: Schuld des Systems?

Manche argumentieren, das Wirtschaftssystem sei verantwortlich für den Tod von Menschen, etwa weil Klinikbetriebe oder komplette Staaten aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit gezwungen gewesen seien, die für den Fall medizinischer Notfälle erforderlichen Kapazitäten zu sehr herunterzufahren.

Und schließlich: Habe der Markt nicht gerade seine vollständige Untauglichkeit bewiesen, da nun Regierungen und Notenbanken mit Rettungspaketen in Billionen-Größenordnungen einspringen müssen, um einen totalen Kollaps der Wirtschaft abzuwenden?

In der Coronakrise muss der Staat in den Markt eingreifen

All dies dürfte vielen Lesern sehr vertraut vorkommen. Denn Beiträge ganz ähnlichen Inhalts hatten vor ein paar Jahren schon einmal Hochkonjunktur. Den Anlass bot die Finanzkrise 2008/2009, ausgelöst durch zügellose Spekulation mit Schrottkredit-Papieren, sowie die anschließende Staatsschuldenkrise, unter der neben Griechenland ganz besonders auch Italien und Spanien zu leiden hatten – eben jene beiden Länder, in denen jetzt außergewöhnlich viele Menschen am Coronavirus sterben. Ein Zufall? Darauf müssen wir noch zurückkommen.

Zunächst einmal bleibt festzuhalten: Innerhalb von gerade einmal zwölf Jahren greift der Staat jetzt zum zweiten Mal in gigantischem Umfang in den Markt ein. Selbst die entschiedensten Neoliberalen bezweifeln nicht, dass dies heute so nötig ist, wie es das damals war.

Zwar sind die Krisen schon im Hinblick auf den jeweiligen Auslöser überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Trotzdem lohnt sich ein kurzer Blick auf die Konsequenzen, die aus der vorigen Krise gezogen wurden.

Grundlegendes hat sich nach der Finanzkrise nicht geändert

So gibt es heute erheblich weniger Investmentbanker als im Jahr 2008, die Geldhäuser haben stabilere Bilanzen und die Wertpapierberatung von Kleinanlegern ist durch die Regulierungsbehörden mittels bürokratischer Anforderungen erschwert worden.

Aber wirklich Grundlegendes hat sich im Wirtschaftsleben seitdem nicht verändert. Die Gehälter von Top-Managern sind nicht gesunken, findige Finanzexperten haben neue Spielfelder gefunden, etwa Modelle zur Steuervermeidung für Weltkonzerne und Reiche.

Die Coronakrise kommt den Menschen nah

Bleibt also in der Wirtschaft abermals alles weitgehend beim Alten, sobald die aktuelle Krise vorüber ist? Wird man nach dem Ende der Corona-Erkrankungswelle wieder zur Tagesordnung übergehen? Es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass es diesmal anders kommt. Das liegt schon an der menschlichen Dimension: Die Finanzkrise kam den meisten Menschen nicht wirkliche nahe. Es ist ein Unterschied, ob man von leeren Regalen in den Geschäften anderer Länder liest oder ob man selber davorsteht.

Die Notlage der Banken und die rasant gestiegene Verschuldung von Staaten zwangen nicht die komplette Bevölkerung zu einer drastischen Veränderung ihrer Lebensweise – und vor allem forderten sie nicht Zehntausende von Todesopfern.

Coronavirus: Die Fotos zur Krise

Unternehmen denken neu über globale Lieferketten nach

Was aber lehrt uns die Corona-Krise, was wird sich dauerhaft verändern? Zu einer nachhaltigen, freiwilligen „Entschleunigung“ der Gesellschaft werden die derzeitigen Reise- und Mobilitätsbeschränkungen wohl kaum führen, auch wenn sich das manche Klimaschützer schon erträumen. Dazu sind die Menschen schlicht zu ungeduldig, die Reiselust ist zu groß.

Allerdings denkt man in vielen Unternehmen gerade neu über die globalen Lieferketten nach. Schon die von US-Präsident Donald Trump vom Zaun gebrochenen Handelskonflikte hatten solche Überlegungen angestoßen. Doch die aktuellen Verkehrsunterbrechungen machen um so deutlicher, wie riskant es ist, auf nur einen Lieferanten zu setzen, der seine Vorprodukte halb um den Globus schicken muss. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch ökonomisch sinnvoll, die Produktion näher an den jeweiligen Abnehmern anzusiedeln.

Engmaschigere Netze sind weniger störanfällig, worauf Ökologen schon seit jeher hinweisen, und sie senken zudem den Energieverbrauch. Immer leistungsfähigere Industrieroboter schaffen die Möglichkeit, in Ländern zu produzieren, in denen menschliche Arbeitskraft nicht so billig ist wie in Asien – auch wenn das für den Hamburger Hafen keine erfreuliche Perspektive sein mag.

Lesen Sie hier die aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus im Newsblog für Norddeutschland.

Jeder kann unversehens selbst zu den Schwachen gehören

Ein anderer Effekt der Coronavirus-Pandemie könnte nicht nur für die Gesellschaft, sondern ebenso für die Marktwirtschaft weitreichende Folgen haben: Bisher war die Überzeugung, Solidarität sei doch nur etwas für die Schwachen, sehr weit verbreitet, obwohl dies naturgemäß selten offen geäußert wurde.

Die aktuelle Krise zeigt jedoch sehr eindringlich, dass jeder unversehens selbst zu diesen Schwachen gehören und auf die Hilfe anderer angewiesen sein kann. Wer dies anerkennt, wird eher bereit sein, sich solidarisch zu verhalten, etwa wenn es künftig darum gehen sollte, unsere Wirtschaft besser für eventuelle neue Schocks zu rüsten.

Auf der Ebene der Staaten untereinander gilt zwar grundsätzlich das gleiche. Einige der Maßnahmen, die vor knapp einem Jahrzehnt zur Bewältigung der Finanz- und Schuldenkrise getroffen wurden, weckten in Griechenland, Italien und Spanien aber Zweifel an der Solidarität der finanziell stärkeren Länder Europas – und manches davon wirkt noch heute nach.

Neoliberale Reformkonzepte führten in Italien und Spanien zu Kürzungen der Ausgaben für das Gesundheitssystem und zum Abbau von Klinikbetten. „Sparpolitik tötet“ war damals ein Motto von Protestkundgebungen in den Städten Südeuropas.

Der Markt ist nicht gut oder böse. Unsere Werte prägen ihn

Sind grundsätzliche Zweifel an der Marktwirtschaft also angebracht? Wer das glaubt, sollte sich dies vor Augen halten: Der Markt ist kein Monster, er ist nur kurzsichtig. In Zeiten, in denen keine hohe Nachfrage nach Klinikbetten besteht, sorgt der Markt nicht vorausschauend für ein Angebot, das auch für Notlagen hinreichend groß ist. Das bedeutet: Wir müssen neu darüber nachdenken, was öffentliche Güter sind, die nicht dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen werden können.

Der Markt an sich ist jedoch nicht gut oder böse. Es sind unsere Werte, die ihn prägen. Gerade in Deutschland sollte man das wissen, denn hier wurde die Soziale Marktwirtschaft erfunden. Ludwig Erhard (CDU) hat sie während seiner Amtszeit als Bundeswirtschaftsminister (1949 bis 1963) etabliert.

Coronavirus in Hamburg: Der Überblick

Er wollte ein Wirtschaftssystem, das dem Menschen dient und nicht umgekehrt – und er schätzte an der Marktwirtschaft nicht zuletzt ihre Fähigkeit, sich auf neue Herausforderungen schnell einzustellen. Wenn jetzt Unternehmen wie Beiersdorf innerhalb weniger Tage eine Desinfektionsmittelproduktion aufbauen oder Autohersteller zu Medizintechnik-Zulieferern werden, stellen sie genau diese Flexibilität unter Beweis.

Doch gleichzeitig drängen die Staaten mit den in den vergangenen Tagen beschlossenen Rettungspaketen in einem seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gesehenen Ausmaß den Markt zurück. Ist er also ein Verlierer dieser Krise? Wenn es rasch genug gelingt, kreative Konzepte zu finden, können alle Beteiligten – die Staaten, ihre Bürger und der Markt – das Beste aus dieser Situation machen, ohne dass es unter ihnen klare Gewinner und Verlierer gibt.

Sollte Hamburg wieder Unternehmensanteile kaufen?

Auf der europäischen Ebene wären die so genannten Coronabonds eine solche Lösung. Das sind Anleihen, über die sich die Euro-Länder am Finanzmarkt gemeinsam Geld besorgen und auch gemeinsam für die Schulden haften würden. Staaten mit schwächerer Bonität wie Italien hätten dadurch Vorteile, finanzstarke Länder wie Deutschland oder Finnland müssten höhere Zinsen bezahlen, als wenn sie allein Geld aufnähmen. Auf längere Sicht würde ein solches Zeichen der Solidarität in schweren Zeiten aber die europäische Idee stärken, was letztlich allen nützt.

Auch für die Firmenrettung in der Bundesrepublik stünde ein Modell zur Verfügung, das ausgleichend wirkt: Steuerzahler sahen schon während der Finanzkrise nicht ein, dass Konzernen die Gewinne zustehen, die Verluste in Krisenphasen aber verstaatlicht werden. Diese Asymmetrie ließe sich vermeiden, wenn die Regierung als Gegenleistung für ihre Hilfe nun Unternehmensanteile erhielte, die später, wenn sich die Wirtschaft erholt hat, wieder verkauft werden.

Hamburg hat mit einem solchen Modell schon Erfahrung, wenn auch aus anderen Gründen: Die Stadt beteiligte sich im Jahr 2003 vorübergehend an Beiersdorf und stieg 2008 bei der Reederei Hapag-Lloyd mit ein – in beiden Fällen, um einen drohenden Verkauf der Firmen ins Ausland zu verhindern. Zwar hätte Ludwig Erhard ein solches Vorgehen nicht begrüßt, denn er war der Auffassung, dass der Staat ähnlich wie ein Schiedsrichter „nicht mitzuspielen hat“.

Interaktive Karte zum Coronavirus

Krisen-Spekulation von Hedgefonds verbieten!

Doch wie schrieb Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, gerade über ihr Anleihenkaufprogramms von 750 Milliarden Euro: „Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.“ Außerdem: Als Ludwig Erhard Wirtschaftsminister war, gehörten sechs heutige DAX-Konzerne (Volkswagen, Deutsche Post, Telekom, E.on, Lufthansa, Vonovia) beziehungsweise ihre Vorgängerfirmen noch der Bundesregierung

Damit die Marktwirtschaft nicht schließlich doch an Rückhalt in der Gesellschaft verliert, müssen aber auch manche Auswüchse schnellstens unterbunden werden – etwa dass Hedgefonds durch so genannte Leerverkäufe an fallenden Kursen in der Krise verdienen und sie damit noch verschlimmern.

Man darf vermuten, dass Ludwig Erhard ein solches Verhalten verurteilt hätte, wenn man dieses Zitat von ihm liest: „Der tiefe Sinn der Sozialen Marktwirtschaft liegt darin, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich und der sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber zu verbinden.“ Letzteres, so könnte man sagen, ist eine Frage des Charakters.