Hamburg. Start-up Recyclehero bietet schwer vermittelbaren Menschen in Hamburg Jobs an. Mit Lastenrädern werden Flaschen und Papier abgeholt.

Es ist eine Millimeterarbeit: Alessandro Cocco schaut abwechselnd nach vorne und in den Seitenspiegel. Der 36-Jährige sitzt auf seinem Lastenfahrrad und steuert das kastenförmige Gefährt durch den schmalen Ausgang einer Fahrradgarage im Grindelviertel.

Nach kurzem Rangieren hat er es geschafft. Die Tour zu den Kunden könnte beginnen, um Altglas und Papier abzuholen – an diesem Tag steht allerdings nur ein Fotoshooting für das Abendblatt an.

Start-up Recyclehero holt Altglas und Papier ab

Dass er jetzt auf dem Sattel eines Lastenfahrrads sitzt, liegt an Partys, die Cocco und seine Freundin Nadine Herbrich früher in ihrer WG gefeiert haben. „Bei uns standen Berge von Altpapier und Glas auf dem Balkon“, sagt Cocco. Und die 34-Jährige ergänzt: „Je mehr das ist, umso weniger Lust und Kapazitäten hat man, das wegzubringen.“ Die Idee zu Recyclehero entstand.

Das Geschäftsmodell: Mit Lastenrädern werden Glas und Papier abgeholt und entsorgt. In die Pedale sollen Menschen treten, die auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Mit ihrer Idee nahmen sie im Juli 2017 an einer Social-Innovation-Challenge teil – und gewannen.

Doch zunächst einmal nahmen sie sich eine Auszeit. Kurz zuvor hatten beide ihre Jobs gekündigt. Die studierte Immobilienwirtschaftlerin war in der Branche tätig, der Wirtschaftswissenschaftler in der Vermögensverwaltung bei der Privatbank Berenberg. Zwar habe die Arbeit Spaß gemacht, sagen beide. Aber Herbrich war nie so „richtig zufrieden“, und Cocco sagt: „Man kann die Energie, die man hat, doch auch sinnvoller nutzen, um einen Mehrwert zu generieren.“

Soziale Start-up startet auf dem Lastenrad durch

Zunächst einmal gingen sie auf Reisen. Mit dem Wohnmobil fuhren sie sieben Monate lang am Mittelmeer entlang durch Südeuropa. Ihren Trip nutzten sie, um sich bei verschiedenen sozialen Start-ups Informationen über deren Gründung und Geschäftsmodell zu holen.

Refood aus Lissabon holt in Restaurants überschüssiges Essen ab und verteilt es an Bedürftige. In Barcelona gründeten Jungunternehmer einen grünen Transportdienstleister und versenden Waren per Lastenrad. In Albanien unterstützt Vision Menschen in entlegenen Bergregionen.

Nebenbei erweiterten Herbrich und Cocco ihre Familie: Mischlingshund Viko lief ihnen in Griechenland zu. Tierärzte und Dorfbewohner kannten ihn nicht, er hatte keinen Chip, vermutlich sei er ausgesetzt worden, hieß es – also blieb Viko und reiste mit.

Zurück in Deutschland wurde am Konzept für Recyclehero gearbeitet

Im April 2018 kehrte das Paar (inklusive Vierbeiner) nach Deutschland zurück. Das Ersparte neigte sich dem Ende zu, also mussten wieder Jobs her. Cocco ging zu einem Fintech (Start-up in der Finanzbranche) und arbeitet dort mittlerweile als Teamleiter. Herbrich ging ihrer großen Leidenschaft gesunde Ernährung nach und wechselte in den Vertrieb des Bio-Mahlzeiten-Anbieters Blattfrisch.

Parallel dazu wurde abends und am Wochenende am Konzept für Recyclehero gearbeitet. Unterstützung erhielten sie dabei von Coaches, deren Beratung sie bei der Social-Innovation-Challenge gewannen.

Testphase mit Elektro-Lastenrad verlief positiv

Im August folgten dann die ersten Touren mit einem Lastenrad, das sie für drei Monate für einen Euro pro Tag vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) günstig gestellt bekamen. „Wir hatten in der Pilotphase zehn bis 15 Kunden“, sagt Cocco. Vor allem Restaurants und Bars konnten sich für das Geschäftsmodell erwärmen. Die Testphase verlief positiv.

Anfang 2019 bestellten sie beim Hamburger Anbieter xyzcargo ihr erstes eigenes Lastenrad mit Elektroantrieb. Um es zu finanzieren, startete das Gründerduo im Mai ein Crowdfunding. Herbrich gab dafür ihre Anstellung wieder auf und kümmert sich seitdem Vollzeit um das Start-up.

532 Menschen unterstützten sie und erhielten als Dankeschön einen Abholgutschein, ein Altglasdesignobjekt oder ihren Namen auf das Lastenrad gedruckt. 17.000 Euro kamen zusammen. Damit schaffte Recyclehero es unter die Top Ten der insgesamt 44 Projekte beim Deutschen Integrationspreis der Hertie-Stiftung und erhielt vom Ausrichter zusätzlich 7500 Euro. Mit dem Geld wurden zwei weitere Lastenräder gekauft.

Grüne Recyclehero-Boxen mit Kofferwaage

Die Zahl der Aufträge wächst seitdem kontinuierlich. „Wir gehen jetzt auf die 100 Kunden zu“, sagt Cocco. 90 Prozent davon bestellten die Dienstleistung regelmäßig. Durch E-Mail-Marketing konnte der Kreis erweitert werden. Auftraggeber seien etwa jeweils zu einem Viertel Restaurants, Büros, Geschäfte und private Haushalte.

Für Privatleute werden beim Abholen von Altpapier im Abonnement bei bis zu 20 Kilogramm Gewicht pauschal 11,90 Euro fällig. Jede weitere zwei Kilogramm kosten dann 1,19 Euro. Das Abholen von Altglas kostet 7,90 Euro bis 20 Kilogramm, für je zwei weitere Kilos werden 79 Cent fällig. Soll einmalig abgeholt werden – zum Beispiel nach einer Party – kommt eine Extragebühr von 3,90 Euro hinzu. Die Kunden sollen am Vortag ihren Abfall in einer der grünen Recycelhero-Boxen rausstellen. Mit einer Kofferwaage wird das Gewicht erfasst – und neuerdings in eine eigens entwickelte App eingegeben. Die ersten Schritte auf dem Weg zur geplanten Digitalisierung.

Arbeitsplatz für schwer vermittelbare Menschen

Bevorzugt will das Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligte Personen einstellen, wie Flüchtlinge, Langzeitarbeitslose, Obdachlose oder Schwerbehinderte. „Wir wollen Menschen eine zweite oder dritte Chance geben“, sagt Cocco. Dass dies mitunter ein schwieriges Unterfangen ist, haben die beiden allerdings schon gemerkt. Immer wieder müsse man Dinge erklären, etwa welche Folgen Unpünktlichkeit haben kann, sagt Herbrich. Aber es gebe auch Erfolge. Einer der drei Mitarbeiter habe früher in einem Wohnheim gelebt und erledige seine Arbeit seit Monaten sehr ordentlich.

Bezahlt werden 10 Euro pro Stunde. Kunden dürfen übrigens auch gern Pfandflaschen rausstellen. Ihr Gegenwert wird als Trinkgeld für die Fahrer – die sogenannten Heros (Helden) – verstanden. Mit dem Jobcenter Team Arbeit Hamburg habe es schon Gespräche über eine Kooperation gegeben, bislang laufe die Fahrer-Akquise aber vor allem über Ebay-Kleinanzeigen. „Das funktioniert gut“, sagt Herbrich: „Die Anzeigen werden vom Studenten bis zum Menschen mit schlechten Sprachkenntnissen gelesen. Das hat die größte Reichweite.“ Wenn alle drei E-Lastenräder voll ausgelastet sind, könnten bis zu zehn Mitarbeiter beschäftigt werden. Mitte des Jahres soll das erreicht sein.

Geschäftsmodell noch nicht kostendeckend

Im vergangenen Jahr hat das Start-up knapp 20.000 Euro Umsatz erzielt. „Wir arbeiten noch nicht ganz kostendeckend“, sagt Cocco. In diesem Jahr sollen die Erlöse auf 50.000 bis 100.000 Euro steigen, die Zahl der Kunden sich auf 200 bis 300 mindestens verdoppeln. Das soll perspektivisch auch durch eine Ausweitung des Geschäftsfeldes erfolgen. Es gibt Überlegungen, einen Cateringservice oder als Kurierdienst „grüne“ Transporte anzubieten. Etwa 180 Kilogramm können in die Cargobikes zugeladen werden. Später könnten auch weitere Städte hinzukommen – zunächst konzentrieren sich die Gründer aber auf Hamburg.