Hamburg. Vor elf Jahren hatte das Abendblatt vier junge Menschen mit Migrationshintergrund auf ihrem Weg ins Berufsleben begleitet.
Irgendwann vor ein paar Wochen, als er seine Unterlagen sortiert hat, ist er auf diese alten Artikel gestoßen. So alt, dass die Seiten schon vergilbt waren. Drei Stück, ordentlich weggeheftet in einem Aktenordner. Zehn Jahre muss es her sein, dass er sie zuletzt in der Hand hatte. Gelesen hat.
Auf den Fotos ist er zu sehen. So jung, dass er sich kaum wiedererkennt. Und in dem Text kommt er zu Wort. So naiv, dass er sich kaum vorstellen kann, jemals so gewesen zu sein. Als er den Text jetzt nach all den Jahren gelesen hat, muss er immer wieder den Kopf schütteln. Über sich selbst. Sein junges Ich. Unfassbar, dass er mal so gedacht und geredet hat. Aber hey, damals war er 16, 17 Jahre alt. Heute ist er erwachsen. 28. Deswegen will er seine Geschichte noch mal erzählen. Aus heutiger Sicht. Ein Mehrfamilienhaus in Henstedt-Ulzburg, Hochparterre. Marchewitz steht an der Klingel. Rudolf Marchewitz öffnet in Jeans, Sweatshirt und Socken. Die Schuhe stehen ordentlich neben der Fußmatte vor der Haustür. Er wohnt alleine, putzt selbst. Schuhe in der Wohnung sind tabu. Er bittet ins Wohnzimmer, bietet Kaffee an, schenkt Wasser aus. Er ist mit 18 von zu Hause ausgezogen.
Wenn er nur gewusst hätte, wie wichtig die Schule ist
Im Wohnzimmer steht ein langer Esstisch mit zwei Kerzen, einer Kunstblume, sechs Stühlen. Rudolf wohnt alleine, vor ein paar Jahren hat er sich von seiner Freundin getrennt. Sie hatten ein Haus, wollten eine Familie gründen. Dann ist es kaputtgegangen. Freunde sind sie aber immer noch. „Vielleicht heiraten wir sogar irgendwann doch noch“, meint Rudolf. Dann fängt er an zu erzählen. Von damals. So lange her, dass er das Datum nachschlagen muss. 2006. Es ist das Jahr, in dem der Juli als heißester Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnung in die Geschichte eingeht. In dem Deutschland bei der Fußball-Weltmeisterschaft ein Sommermärchen feiert. Und in dem sich in Hamburg Spitzenvertreter von Industrie, Politik, Gewerkschaften und Arbeitsagentur treffen, um einen Pakt zu schließen. Einen „Aktionsplan zur Integration junger Migrantinnen und Migranten in Arbeit und Ausbildung“, wie es offiziell heißt. Ziel ist es, für 1000 Jugendliche mit Migrationshintergrund Perspektiven in der Hamburger Arbeitswelt zu schaffen.
Rudolf ist damals 16 Jahre alt und kommt in die neunte Klasse der Hauptschule Langenhorn. Im Rahmen eines Langzeitprojektes begleitet das Abendblatt ihn und drei seiner Klassenkameraden während ihres letzten Schuljahres und auf dem Weg ins Berufsleben. Angesichts der Schwierigkeiten von Schülern mit Migrationshintergrund haben auch alle vier Schüler ausländische Wurzeln. Auch Rudolf.
Rudolf hat sich immer als Deutscher gefühlt
Seine Mutter Vaneidje ist Brasilianerin mit holländischen Großeltern, sein Vater Heinz Deutscher mit polnischen Wurzeln. Trotzdem hat sich Rudolf immer als Deutscher gefühlt. Er ist der einzige der vier Jugendlichen, der so empfindet. Die anderen fühlen sich in Deutschland fremd, wollen damals so schnell wie möglich zurück in ihre Heimat. Sie kommen aus Polen, Afghanistan, Chile. Sie gehen gemeinsam in eine Klasse, aber Kontakt haben sie kaum. Seit der Schule hat Rudolf nichts mehr von ihnen gehört.
Als er noch zur Hauptschule ging, hat er manchmal gedacht, dass danach das richtige Leben anfängt. Dass danach alles besser wird. Einfacher, selbstbestimmter. Heute weiß er, dass es nicht so war. Denn nach der Schule ist er auf die nächste Schule gegangen, eine Berufsfachschule, Fachrichtung Wirtschaft und Verwaltung. „Da hat man nach zwei Jahren seine mittlere Reife bekommen“, sagt Rudolf. Er hatte gehofft, dadurch mehr Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt zu haben als mit einem Hauptschulabschluss. Hatte er auch. Doch genutzt hat er sie nicht. Glaubt er heute.
„Plötzlich ging nichts mehr“
„Man muss wissen, es war eine schwierige Zeit damals. Auf und ab. Wie eine Wellenfahrt“, sagt er und erzählt von der Ausbildung als Kaufmann im Groß- und Außenhandel, die er angefangen hat. Von der ersten Liebe, der ersten gemeinsamen Wohnung. Zwei Zimmer, finanziell gerade so zu stemmen mit 18. „Da war ich hier“, sagt er und zeigt mit dem Finger irgendwo hoch in die Luft. „Und dann kam das“, sagt er und lässt die Hand runtersausen. Mit „das“ meint er: die Trennung von seiner Freundin, der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, das schwarze Loch, in das er gefallen ist.
„Plötzlich ging nichts mehr. Weder in der Berufsschule noch im Job“, sagt Rudolf und erzählt, welche Probleme er mit seinem Chef bekommen hat und dass er schließlich auf dessen Drängen einen Aufhebungsvertrag unterschrieben hat. „Leider, leider, leider war ich damals so dumm!“ So dumm, alles hinzuschmeißen – nur ein Jahr vor Ende der Ausbildung. So dumm, nicht zu erkennen, dass er sich damit die Zukunft verbaut. Er bekommt kein Gehalt, keine staatliche Unterstützung. Seine Mutter zahlt alles. Den Handyvertrag, seine Klamotten. Selbst die Lebensmittel.
Er weiß selbst, wie das wirkt. Gibt die Antworten, bevor die Fragen gestellt werden. Kommentiert mehr, als er erzählt. Ehrlich und schonungslos. „Ich muss mir selbst an den Kopf fassen, wie dumm und naiv ich war.“
In der Erzählung verschmelzen Monate seines Lebens zu wenigen Sätzen, er berichtet in wenigen Minuten. Die Bundeswehr zum Beispiel. Da wollte er schon immer hin. Weil er das Militär „geil“ fand, wie er es nennt. Weil er schon als Schüler Softair gespielt und im Wald Kriegsgefechte simuliert hatte – mit Schusswaffen und Plastikgeschossen. Und weil sein Bruder und sein Vater auch „gedient“ hatten. „Daher wusste ich, dass das voll mein Ding ist“, sagt Rudolf.
Auch wenn sich das für andere komisch anhöre und die meisten so was nicht von Jugendlichen wie ihm denken würden – er brauchte den „Arschtritt“, wie er es bezeichnet. Die Disziplin, Ordnung. Die Kontrolle. „Das kannte ich so nicht. Doch irgendwie war es genau richtig für mich.“ Er kommt zur Marine nach Bremerhaven in den Fernmeldebetriebsdienst, wohnt mit drei Kameraden auf einer Stube, gerade mal so groß wie sein Wohnzimmer heute. Es entsteht eine Kameradschaft, die er so nicht kennt, die er auf der Schule nie hatte, immer vermisst hat.
So Rudi – was machst du jetzt?
Rudolf Marchewitz steht auf, holt zwei Abzeichen, die er bekommen hat. „Fregatte Bremen“ steht auf einem. „Marineoperationsschule“ auf dem anderen. Auf seinem iPhone hat er ein Foto aus der Zeit, er selbst in Tarnuniform. Lächelnd, stolz. Heute ist die Bundeswehrzeit nichts weiter als eine Station in seinem Lebenslauf.
Früher, als er noch auf der Berufsfachschule war, hatte er sich vorgenommen, acht Jahre zu bleiben. Es wurden acht Monate. „Ich hatte irgendwie das Gefühl, keine Zukunft bei der Bundeswehr zu haben, keine Entwicklungsmöglichkeiten.“ Denn ohne Abi, ohne Ausbildung, ohne Studium habe er kein Offizier werden können. Immer nur den untersten Dienstgrad haben können. Zu wenig, wie er fand. „Also habe ich mich gefragt: So Rudi – was machst du jetzt?“
Er macht das oft – von sich selbst als Rudi sprechen. Ist einfach so drin! Macht jeder. Seine Familie, Freunde, sogar sein Vorgesetzter. Rudolf hat ihn noch niemand genannt. Immer nur Rudi. Rudi, der sich noch während der Bundeswehrzeit einen Ausbildungsplatz sucht und erst kündigt, als er etwas Neues hat. Damit sein Lebenslauf lückenlos ist.
Einen Plan hat er immer gehabt
Er hat immer einen Plan gehabt. Doch manchmal ist er nicht aufgegangen. Zum Beispiel der Plan mit der Ausbildung als Versicherungskaufmann nach dem Bund. Schließlich hatte sein Vater 30 Jahre in der Branche gearbeitet. Das reichte ihm als Argument. Ein paar Monate lang, dann merkte er, dass er nichts von dem machen wollte, was er machen sollte. „Alten Omas Lebensversicherungen verkaufen zum Beispiel“, sagt Rudolf. Als er dann noch aufgefordert wird, ein Schneeballsystem aufzubauen, und seine Freunde dafür werben soll, fasst er einen Entschluss. Er will hinschmeißen – und tut es dann doch nicht. „Kannste nicht machen, Rudi“, sagt er sich und probiert stattdessen, den Betrieb zu wechseln. Es klappt. Ein neuer Anfang. Eine neue Chance. Und neue Probleme. Drei Tage vor Ende der Probezeit kündigt man ihm.
Rudolf wird Teil einer Statistik, der er immer entfliehen wollte. Einer Statistik, die besagt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund fast viermal so oft wie deutsche Teenager die Schule ohne Abschluss verlassen. Dass sie seltener einen Ausbildungsplatz bekommen. Und dass sie doppelt so häufig arbeitslos sind. Es ist, als ob Rudolfs Weg vorgeschrieben scheint.
Neuer Ausbildungsplatz
Krass sei das gewesen. Sagt er. „Was soll bloß aus dir werden, Rudi“, habe er sich selbst immer gefragt. Und keine Antwort gewusst. Welcher Arbeitgeber hätte ihn denn schon genommen? Mit diesem Lebenslauf? Es war keine Frage, sondern Resignation.
Manchmal fragt er sich selbst, wie es damals weitergegangen wäre. Wenn „nicht eine ganz bestimmte Frau in mein Leben getreten wäre“, sagt er und räuspert sich. Ja, die Frau, von der er am Anfang schon erzählt hat. Auch wenn sie nicht mehr zusammen sind, wird er sie nie vergessen. Weil sie an ihn geglaubt hat, als es niemand anders tat, noch nicht einmal er selbst. Weil sie ihn aus dem Loch rausgeholt hat, ihm bei der Jobsuche geholfen hat. Weil sie für den Wendepunkt in seinem Leben steht.
Er findet einen neuen Ausbildungsplatz, dieses Mal als Kaufmann für Büromanagement, und liefert ab. Er, der in der Schule eine Fünf in Deutsch hatte, gehört auf der Berufsschule zu den Besten. Er verkürzt die Ausbildungszeit von drei auf zweieinhalb Jahre, dann von zweieinhalb auf zwei. „Leg dich ins Zeug! Lern was!“ Jahrelang hat er das zu hören bekommen. Von seinen Eltern, Lehrern, Ausbildern. Jetzt muss ihm das niemand mehr sagen. Er weiß es selbst.
Ein halbes Jahr vor Ende der Ausbildung bewirbt er sich um einen Job. Damit er keine Lücke im Lebenslauf hat. Die Zusage bekommt er, als er in seiner mündlichen Prüfung sitzt. Er schließt mit der Note „Eins“ ab.
In der Küche piept die Waschmaschine. Er entschuldigt sich, macht das Gerät aus, kommt zurück. Er trägt einen Pullover von G-Star. Früher, in der Schule, war ihm das wichtig, die richtigen Klamotten zu tragen. G-Star waren die Richtigen. Heute ist ihm der Name nicht mehr wichtig, sagt er. Aber die Qualität. Er fährt einen Mercedes, C Klasse, AMG Sportvariante. Seine Möbel sind von Ikea.
Chef würde er sich nicht nennen
Einer dieser typischen Tische steht im Flur, mit seiner Gitarre drauf. Viel Zeit zum Spielen hat er aber nicht mehr. Der Job! Er arbeitet im Bereich Procurement and Contract Administration, macht das Vertragsmanagement und die Konzernversicherungen für eine große Wirtschaftsprüfungs- und Unternehmensberatungsgesellschaft. Er hat so was wie die Leitung in Hamburg für die Abteilung, Chef würde er sich aber nicht nennen. Auch wenn er die Verantwortung hat und die Entscheidungen trifft. Die Hierarchien sind flach, er sieht sich als Teil eines Teams.
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Er ist angekommen – nach drei abgebrochenen Ausbildungen und zwei Jobs, die er in den letzten Jahren hatte. „Wenn ich mit 16 oder 17 das Wissen von heute hätte, wäre ich wahrscheinlich Rechtsanwalt oder Arzt“, sagt er und meint: Wenn er wüsste, wie wichtig eine gute Schulausbildung ist, hätte er mehr gelernt. Abi gemacht, studiert. „Bin ja nicht dumm.“ Er wusste es nur einfach nicht besser.
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