Hamburg. Kultläden, Teil 32: Sie haben ein spezielles Angebot, eine besondere Atmosphäre und trotzen so dem Geschäftesterben.
Ganz hinten, fast unter der Decke, gibt es ein schmales langes Fenster. Es ist leicht zu übersehen. Aber das sollte es wohl auch sein. „Dahinter hatten früher Herr Dössel und Herr Rademacher ihren Arbeitsplatz“, sagt Denise Rathgeber. Eine schmale Holztreppe führt vom Laden in das Zwischengeschoss des historischen Geschäftshauses an der Brandstwiete. Hinter den Fensterscheiben steht noch ein langer Schreibtisch. Man kann sich vorstellen, wie die beiden Gründer des Fachhandels für Bürobedarf und Papier von hier aus ihr Geschäft im Blick hatten – ohne selbst gesehen zu werden. „Heute sitzt da niemand mehr“, sagt die 43-Jährige. Mit ihrem Geschäftspartner Andreas David hat Rathgeber Dössel & Rademacher vor vier Jahren übernommen. Der gut getarnte Ausguck ist eine der Besonderheiten des Unternehmens mit mehr als 100-jähriger Geschichte.
Auf den ersten Blick ist der Laden gegenüber dem ehemaligen „Spiegel“-Hochhaus ein ganz normaler Schreibwarenhändler. Es gibt Aktenordner, Stifte, Papier, Heftklammern, Klebezettel, Stempel, Druckerpatronen – was man so braucht im Büro. Zudem hochwertige Schreibgeräte, feine Lederwaren und Geschenkartikel. Ungewöhnlich sind höchstens die Öffnungszeiten. Lange vor allen anderen Geschäften in der Hamburger Innenstadt macht Dössel & Rademacher morgens schon um 8 Uhr auf, dafür ist um 17 Uhr Schluss. „Das sind die Arbeitszeiten unserer Geschäftskunden“, sagt Co-Chefin Rathgeber. Dössel & Rademacher ist vor allem Großhändler, über dem Ladenlokal sind große Lagerflächen. Im Keller stehen Regale, in denen sich Formulare stapeln.
Dössel & Rademacher: Die Wände sind hoch, die Decken mit Stuck verziert
Das ist die Keimzelle des Unternehmens. „Anfangs wurden vor allem Vordrucke für die Schifffahrt verkauft“, sagt Andreas David. Der 54-Jährige sitzt mit Denise Rathgeber in einem Büro in der ersten Etage. Die Wände sind hoch, die Decken mit Stuck verziert. Auf dem langen Flur hängt eine Kopie des Gewerbescheins, mit dem Max Dössel und Amandus Rademacher ihr Geschäft am 30. Juni 1913 gründeten. Zwei Wochen später war die Offene Handelsgesellschaft unter der Nummer 17989 in die Abteilung A des Handelsregisters eingetragen worden.
„Die Nummer haben wir immer noch“, sagt David. Nachdem der Firmensitz zunächst im Zippelhaus gegenüber der Speicherstadt war, zog Dössel & Rademacher 1939 an die heutige Adresse. Die geschäftstüchtigen Herren erweiterten das Sortiment, boten zunehmend auch Bürobedarf und Geschenkartikel an. In den 60er-Jahren gehörten die VW-Bullis von Dössel & Rademacher, die ihre Waren in der Stadt ausfuhren, zum gewohnten Straßenbild.
Umsatz ist in 15 Jahren um 70 Prozent zurückgegangen
Denise Rathgeber ist seit elf Jahren im Geschäft. „Bürokauffrau mit Hund sucht Chef mit Herz“ lautet der Text eines Stellengesuchs im Hamburger Abendblatt, mit dem die Bürokauffrau, die beim Bundesligisten FC Schalke 04 in Gelsenkirchen gelernt hatte, 2008 in Hamburg auf Jobsuche gegangen war. Der damalige Inhaber von Dössel & Rademacher meldete sich und bot ihr eine Stelle im Vertrieb an. 2015 trat sie gemeinsam mit Andreas David die Nachfolge an. „Wir haben an das Potenzial geglaubt“, sagt er. Ein mutiger Schritt. Der Handel mit gedruckten Formularen wird in Zeiten der Digitalisierung weniger. „Der Umsatz ist in den vergangenen 15 Jahren um 70 Prozent zurückgegangen“, sagt der gelernte Schifffahrtskaufmann, der während der Ausbildung wöchentlich zu dem Bürobedarf-Händler geschickt wurde, um Formulare abzuholen.
Ein stabiles Geschäftsfeld ist dagegen der Vertrieb von Gefahrgutaufklebern – und ein Alleinstellungsmerkmal. Der Bereich ist streng reguliert, die Auflagen für die Labels, die explosive Stoffe, giftige Gase oder radioaktive Strahlung anzeigen, sind hoch. „Es kann schon mal passieren, dass uns Lkw-Fahrer etwa von der österreichischen Grenze anrufen, weil sie einen Aufkleber brauchen“, sagt Denise Rathgeber. Dössel & Rademacher betreibt zudem einen speziellen Online-Shop, über den exklusiv für den deutschen Markt die sehr teuren Dokumentationen vertrieben werden. Ein Million Euro Umsatz im Jahr spielt der Bereich ein. Weitere Geschäftszahlen wollen David und Rathgeber, die ihr Unternehmen persönlich haftend als Offene Handelsgesellschaft führen, nicht nennen. Aber, so die Aussage, das Geschäft wächst.
Betrieb wurde modernisiert
In den vergangenen Jahren haben die beiden Inhaber den Betrieb modernisiert und behaupten sich am Markt gegen große Mitbewerber wie Staples und Co. Neben der Hauptfiliale am Stammsitz in der Brandstwiete gibt es einen Laden im Levantehaus an der Mönckebergstraße, einen weiteren in Ahrensburg sowie vier verschiedene Online-Shops für Geschäfts- und Privatkunden. „Die Mischung macht’s“, lautet die Devise.
Der kiloschwere Katalog für Bürobedarf – ja, es gibt ihn immer noch in gedruckter Form – hat mehrere Hundert Seiten mit etwa 30.000 Artikeln. „Wir bauen unser Angebot weiter aus“, sagt Andreas David. Inzwischen kann man bei Dössel & Rademacher auch Kaffee, Milch, Obstkisten, Blumen oder Kaugummi bestellen. „Viele Unternehmen wollen heute nicht mehr bei mehreren Händlern bestellen, sondern möglichst alles aus einer Hand.“ Teilweise übernimmt Dössel & Rademacher auch die komplette Lagerführung. Zu den Kunden gehören der „Spiegel“-Verlag, die Wirtschaftsprüfer Möhrle, Happ, Luther und Auto Wichert. Denise Rathgeber, inzwischen Mutter einer 16 Monate alten Tochter, wurde in diesem Jahr mit dem Bugsierer 2019 ausgezeichnet für Erhalt des Traditionshauses.
Die Firma hat 30 Mitarbeiter – und sechs Hunde
Heute arbeiten 30 Mitarbeiter für den Fachhändler. „Und sechs Hunde“, sagt die Chefin und lacht. Das ist eine andere Besonderheit. Die Mitarbeiter dürfen ihre Vierbeiner mitbringen, wenn sie verträglich sind. Da ist es ganz gut, dass Dössel & Rademacher auch Hundefutter im Sortiment hat. Auch die Chefs kommen oft mit Hund. Andreas David hat einen australischen Shepard, Denise Rathgeber einen italienischen Straßenhund. Und dann gibt es noch den Mops Lotte, der das Lager bewacht. Sie sitzt nicht hinter einem Fenster, sondern meistens auf einem der hohen Papierstapel und bellt, wenn ihr etwas nicht passt.