Hamburg. Rekord bei den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen in der Hansestadt. Welche Branchen für das Jobwunder gesorgt haben.
Kristina Mielke hat schon in einigen Berufen gearbeitet. „Mit meiner kaufmännischen Ausbildung bei einer Bank bin ich flexibel einsetzbar und habe mir immer neue Aufgabenfelder erschlossen“, sagt die 44-Jährige. Ob Marketing, Vertrieb oder Personalgewinnung: Sie ist immer neugierig auf neue Aufgaben. Erst im August hat sie bei dem Hamburger Traditionsunternehmen Reyher eine neue Aufgabe übernommen und betreut dort knapp 80 Auszubildende. Was sie nicht ahnen konnte: Mit ihrem neuen Job musste sie noch eine ganz besondere Aufgabe übernehmen, denn sie ist die einmillionste sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Hamburg, ein Rekordwert. „Noch niemals in der Geschichte Hamburgs gab es mehr Beschäftigte in der Stadt“, sagt Sönke Fock, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit und zeigt sich erleichtert, dass seine Prognose vom Anfang des Jahres auch eingetroffen ist. Seit Jahren entstehen immer mehr Arbeitsplätze in Hamburg, allerdings immer mehr nur in Teilzeit.
Danach beantwortet Kristina Mielke routiniert Fragen vor den TV-Kameras und steht dabei in einem Hochregallager. Das 1887 gegründete Großhandelsunternehmen handelt mit Schrauben, Muttern und Dübeln. „Wir liefern weltweit Verbindungselemente und Befestigungstechnik und haben über 11.000 Kunden“, sagt Geschäftsführer Peter Bielert. In den vergangenen vier Jahren hat das Unternehmen 150 neue Arbeitsplätze geschaffen und vor zwei Jahren ein weiteres Hochregallager fertiggestellt. Allein am Standort Hamburg beschäftigt Reyher über 750 Mitarbeiter. „Wir suchen weiterhin Fach- und Führungskräfte, aber auch im gewerblichen Bereich gibt es Personalbedarf“, sagt der Unternehmenschef.
Jobtreiber sind Schulen und Krankenhäuser
In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Beschäftigten in Hamburg um 23 Prozent auf 1.007.300 zugenommen. „Hamburgs Jobwachstum liegt über dem Bundesdurchschnitt“, sagt Fock. „Das zeigt, wie dynamisch der Hamburger Arbeitsmarkt ist“, sagt Sozialsenatorin Melanie Leonhard. Die Erfolgsgeschichte lasse sich nur fortschreiben, „wenn die berufliche Weiterbildung während des Erwerbslebens zum ständigen Begleiter im Unternehmen wird“. Auch Großhändler Reyher setzt auf die Qualifizierung seiner Mitarbeiter. „Ohne Digitalisierung der Lagerprozesse und Weiterbildung der Mitarbeiter wären wir nicht konkurrenzfähig“, sagt Bielert.
In absoluten Zahlen wurden die meisten neuen Jobs in den vergangenen zehn Jahren in den wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen geschaffen. 134.000 Menschen arbeiten jetzt in diesem Dienstleistungssegment. Seit August 2009 entstanden hier rund neue 47.700 Arbeitsplätze, während etwa im Verarbeitenden Gewerbe, dem mit 106.100 Beschäftigten zweitgrößten Wirtschaftsbereich, gerade einmal 8500 Arbeitsplätze in zehn Jahren hinzukamen. Prozentual das größte Beschäftigungswachstum mit einem Plus von 64 Prozent (14.600 neue Arbeitsplätze) gab es im Bereich Erziehung und Unterricht, wo insgesamt 37.500 Menschen arbeiten. Jobs im Gesundheitswesen verzeichneten ein Wachstum von 40 Prozent (plus 19.440 Arbeitsplätze). Die Branche beschäftigt inzwischen 68.500 Arbeitnehmer. Der einzige Bereich, der in den vergangenen zehn Jahren Stellen abgebaut hat, ist die Finanz- und Versicherungswirtschaft mit einem Minus von 3100 Arbeitsplätzen.
Wohnungsnot bremst das Jobwachstum
„Hamburg profitiert beim Jobwachstum von seiner starken Stellung bei den Dienstleistungen, was typisch für Großstädte ist“, sagt Professor Henning Vöpel, Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts. Zudem gebe es in der Hansestadt einen guten Branchenmix, so dass sich ein konjunktureller Abschwung nicht so stark bemerkbar mache. „So ist die Luftfahrtindustrie in Hamburg auf Jahre ausgelastet, während sich die strukturellen Probleme der Automobilindustrie in Hamburg nicht so stark niederschlagen“, sagt Vöpel „Aber das Jobwachstum wird sich in den nächsten Jahren verlangsamen“, ist sich der Experte sicher. Nicht nur aus konjunkturellen Gründen. Auch der Zuzug neuer Arbeitskräfte sei wegen der Wohnungsknappheit begrenzt.
Doch das Jobwunder in Hamburg hat auch seine Schattenseiten. So hat die Zahl der Teilzeitbeschäftigten in den letzten Jahren um 78 Prozent auf 280.000 zugenommen. „Während der Anteil der Teilzeitbeschäftigten 2009 noch bei 19,4 Prozent lag, liegt dieser Wert jetzt bei 28,1 Prozent“, sagt Fock. Auch ein neuer Job ist häufig mit Unsicherheit behaftet, denn 46 Prozent der neu aufgenommenen Beschäftigungsverhältnisse sind befristet. Damit hat die Hansestadt nach Berlin (51 Prozent) den zweithöchsten Wert im Bundesvergleich.
Die Schattenseiten des Jobwunders
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht diese Entwicklung kritisch. „Zu viele Menschen arbeiten in Hamburg nach wie vor in befristeten Beschäftigungsverhältnissen, haben unfreiwillig einen Minijob oder verdienen nur den Mindestlohn“, sagt Hamburgs DGB-Vorsitzende Katja Karger. Die Minijobs gehen allerdings nicht in die Beschäftigungsstatistik ein. Rund 29.000 Beschäftigte müssen nach Angaben des DGB in Hamburg ihren Lohn mit staatlichen Mitteln aufstocken, um über die Runden zu kommen. „Wirtschaft und Politik müssen Maßnahmen ergreifen, um den Arbeitsmarkt in dieser Stadt in Ordnung zu bringen“, fordert Karger. Der DGB will vor allem die Tarifbindung stärken.
Der hohe Anteil der Teilzeitbeschäftigten ist umstritten. Während ihn die Gewerkschaft kritisch sieht, verweist die Arbeitsagentur auf Wünsche der Beschäftigten, besser Beruf und Familie zu vereinbaren. „Vor allem für Leute, die lange arbeitslos waren, ist ein Teilzeitjob die Chance, wieder im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen“, sagt Experte Vöpel.
Arbeitslosigkeit im Oktober sinkt leicht
Die Zahl der Arbeitslosen in Hamburg ist im Oktober gegenüber dem Vormonat nur leicht zurückgegangen. In der Statistik werden 64.377 Jobsuchende ausgewiesen, das sind 216 weniger als im Vormonat. Die Arbeitslosenquote bleibt mit 6,2 Prozent unverändert. Aber im Vergleich zum Vorjahresmonat gibt es 304 Arbeitslose mehr. Zudem registriert die Arbeitsagentur, dass sich deutlich mehr Hamburger arbeitslos melden, also sich im gleichen Zeitraum wieder in Beschäftigung abmelden. In den ersten zehn Monaten waren das 2564 mehr als im Vorjahreszeitraum. Über eine Million sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Hamburg zu halten, das könnte die große Herausforderung für die nächsten Monate werden.