Hamburg. Die 52 Jahre alte Feinsattlerin stellt Maßanfertigungen nach Kundenwunsch her. 40 Stunden Arbeit stecken im Schnitt in einer Tasche.
Christin Dahlmann setzt den Zirkel an die Kante des schwarzen Lederstücks. Die eine Zirkelspitze fährt direkt am Rand des Leders entlang. Die zweite Zirkelspitze hinterlässt einige Millimeter weiter eine feine Rille. In Sekundenbruchteilen zieht die 52-Jährige eine gerade Linie. Sie nimmt das Prickeisen in die linke Hand und setzt es auf die Linie drauf. Mit der rechten Hand greift sie zum Hammer und versetzt dem Prickeisen einen Schlag auf den Kopf. „Bei Leder ist ganz wichtig: Loch ist Loch. Ich habe keine zweite Chance“, sagt Dahlmann. „Wenn ich das falsch gemacht habe, ist das Leder hinüber.“ Doch der Schlag sitzt perfekt, vier Löcher sind drin. Sie setzt das Prickeisen in das letzte Loch und schlägt erneut mit dem Hammer drauf. Drei neue Löcher sind da. So lange, bis die Linie komplett mit Löchern versehen ist.
Dahlmann ist hierzulande eine Exotin. „Es gibt noch circa zwölf Feinsattler in Deutschland“, sagt die gebürtige Schwerinerin. Sie selbst ist als Quereinsteigerin zu dem Beruf gekommen. In der DDR schloss sie eine Ausbildung als Bauzeichnerin ab und tourte anschließend als staatliches Mannequin durch die Staaten Osteuropas. Modeschauen in Moskau, Kiew und im Ural zählt sie auf. Nach der Wende modelte sie für Giorgio Armani und Jil Sander. Als sie mit 24 Jahren schwanger wurde und eine Tochter auf die Welt brachte, stieg sie aus dem Modebusiness aus und arbeitete in der Buchhaltung einer Werbeagentur.
Alles begann mit einem Fußreflexzonenmassagekastenset
In ihrer Freizeit entwickelte sie ein Fußreflexzonenmassagekastenset – den sperrigen Namen verordnete ihr das Patent- und Markenamt. Das Set enthielt Steine, die einen hohen Energiegehalt an ihre Nutzer abgeben sollten, wenn sie drüberlaufen. Verpackt war das Set in einer von ihr selbst gefertigten Filztasche – und die stieß auf das Interesse einer Freundin. Sie wollte eine Filztasche haben, Dahlmann lieferte und stellte fest: „Ich kann Taschen!“
Monate später besuchte sie in Freiburg den Feinsattler Michael Sohr. „Als ich in sein Atelier kam, die Arbeitsmaterialien sah, das Leder roch – da war ich wie paralysiert“, erinnert sich Dahlmann. Nach einem zweitägigen Praktikum wusste sie, was sie werden wollte. „Ich habe mir Schritt für Schritt alles selber beigebracht.“ Seit 2002 arbeitet die Autodidaktin nun unter ihrem Label Headwig als Feinsattlerin. Erst in Düsseldorf, seit dem Jahr 2013 aus privaten Gründen in Hamburg. Aufträge für Reparaturen nimmt sie gerne an, weil sie dadurch die Sollbruchstellen im Material erkennt. Ihr Schwerpunkt liegt aber auf der Fertigung von Taschen nach Wunsch – von der Hand- über die Gürtel- bis zur iPad-Tasche. Rund 70 Prozent ihrer Erlöse erzielt sie damit.
Der Kunde muss mitarbeiten
Die Maßanfertigungen sind ein zeitintensives Geschäft. Material, Formen und Farben müssen ausgewählt werden. Verwendet wird ausschließlich Vollleder, etwa 60 bis 70 Lederarten hat sie in ihrem Laden an der Gertigstraße vorrätig. Zu 85 Prozent handelt es sich dabei um pflanzlich gegerbtes Rindsleder, dessen Gerbung und Färbung deutlich länger dauert als bei normalem Leder. Das Material bezieht sie ausschließlich von acht kleinen Manufakturen, die in Schweden, Belgien, Frankreich und Deutschland sitzen. Auch altes Leder des Kunden ist gern gesehen und wird wiederverwendet.
„Bevor ich die Tasche fertige, muss der Mensch ganz viel erzählen. Jedes Detail wird intensiv besprochen“, sagt Dahlmann. Ist der Kunde Links- oder Rechtshänder? Hat er gerade oder schräg abfallende Schultern? Trägt er eher dünne oder wattierte Jacken à la Michelin-Männchen? Wo soll die Tasche sitzen? Was für ein Ordnungssystem mit wie vielen Fächern wird im Inneren benötigt? Spezialanfertigungen für die Krawatte oder Geheimfächer ermöglichte sie auch schon. „Die Kunden müssen mitarbeiten“, sagt Dahlmann. Im Schnitt kämen sie drei- bis viermal und blieben jedes Mal rund drei Stunden. 60 Prozent der Kunden sind Frauen. Männer seien anspruchsvoller, ideenreicher und lieben Klarheit.
im Jahr fertigt Dahlmann rund 45 Taschen
Auch Schmuckdetails werden noch besprochen, beispielsweise hat sie mal Manschettenknöpfe eingearbeitet. Sie will den Kunden so führen, dass er sich seine Tasche in 3-D vorstellen kann. Gibt es Zweifel, fertigt sie ein Papiermodell an. Wer will, kann ihr auch bei der Fertigung über die Schulter schauen. In einer Tasche stecken im Schnitt rund 40 Stunden Arbeit. Alles erfolgt per Hand, zum Teil mit historischen Werkzeugen.
Beispielsweise näht sie am Nähkloben. Denn an der Maschine könnte sich ein Lederteil verschieben und schließlich herausrutschen. Per Hand ergibt es hingegen eine akkurate Kante. Das hat seinen Preis. „Eine handgefertigte Tasche gibt es etwa ab 500, 600 Euro“, sagt Dahlmann. Im Jahr fertigt sie etwa 45 Taschen. Rund ein Fünftel des Umsatzes steuert der Bereich Interieur bei. Beispielsweise bespannt sie Möbel, Geländer und Nackenkissen für Autos. Derzeit baut sie gerade ein Sortiment mit Decken, Kissen und Halsbändern für Hunde auf. Ansonsten gibt es nur wenige im Geschäft frei erhältliche Produkte, fast alles ist Auftragsarbeit.
Feinsattler ist kein Ausbildungsberuf mehr
„Ich mache alles, was in irgendeiner Form mit Leder zu tun hat – außer Schuhe“, sagt Dahlmann. An einer Kooperation mit Schustern wäre sie allerdings interessiert. Feinsattler ist mittlerweile kein Ausbildungsberuf mehr. Sie wünscht sich, dass die Lehrlinge für ein halbes Jahr bei ihr Station machen, und würde das als eine gute Ergänzung zur Schusterlehre ansehen. Momentan hat sie sehr gut zu tun. Mit sechs bis acht Wochen Vorlaufzeit müssen Kunden bei ihr rechnen.
Das liegt auch an einem Schild, dass seit wenigen Wochen in ihrem Schaufenster thront. Die Hamburger Sparkasse (Haspa) und die Handwerkskammer kürten sie zur Handwerkerin des Jahres. Teilweise sitze sie ab elf Uhr morgens und bis nachts um ein, zwei Uhr in ihrem Atelier. Reichtümer fahre sie damit übrigens nicht ein, selbst in den Urlaub zu fahren sei derzeit eher schwierig, sagt Dahlmann über den Verdienst: „Es reicht, um den Laden halten zu können und am Wochenende mal ein Glas Wein zu trinken.“