Hamburg. Das Unternehmen Bracenet verkaufte schon Zehntausende Schmuckstücke. Ziel ist, die Meere ein Stück sauberer zu machen.
Ein Urlaub in Tansania hat das Leben von Madeleine von Hohenthal und Benjamin Wenke auf den Kopf gestellt. Als Rucksacktouristen waren sie im September 2015 in dem afrikanischen Land unterwegs und übernachteten bei Einheimischen. Groß war die Vorfreude der beiden leidenschaftlichen Taucher auf die Unterwasserwelt – und wich schon beim ersten Tauchgang einem gewissen Entsetzen. „Wir haben kilometerlange alte Fischernetze unter Wasser gesehen“, erinnert sich Wenke. Sie waren ihren Besitzern verloren gegangen oder wurden von ihnen ausrangiert und ins Meer geworfen.
Später verhedderten sie sich an Korallen oder Felsvorsprüngen. „Zunächst haben wir die Fische daraus befreit“, sagt Wenke. Dann entschlossen sie sich, die Netze abzuschneiden und mitzunehmen. „Blau, grün, lila – die Netze hatten die krassesten Farben, die man sich vorstellen kann“, sagt von Hohenthal. Am Ende des Urlaubs verschenkten sie T-Shirts und kurze Hosen an die Einheimischen und packten statt Klamotten die alten Fischernetze in ihren Rucksack und nahmen sie mit nach Hause.
„Naturschutz kann auch cool sein“
Zurück in Deutschland, gingen die beiden wieder ihrer Arbeit nach. Wenke als Marketingleiter für ein Start-up von Bosch, von Hohenthal als Art Buyerin bei der Werbeagentur BBDO. In der Freizeit recherchierten sie über das Problem der Geister-Fischernetze. Was sie mit ihrem speziellen Reiseandenken machen wollten, war ihnen noch nicht klar. Nur: „Wir wollten daraus etwas fertigen, das noch als Netz erkennbar ist“, sagt Wenke.
Ein paar Monate später hat es klick gemacht. „Die Lösung lag im wahrsten Sinne des Wortes am Handgelenk“, sagt Wenke. Sie stellten sich vor, dass die Leute in der Bäckerei nach ihrem Kaffeebecher über die Theke greifen und ein Armband hervorblitzt: das Bracenet – abgewandelt aus den englischen Wörtern bracelet (Armband) und net (Netz). „Naturschutz kann auch cool sein“, sollte die Botschaft lauten.
Kurz darauf saß das Paar, das mittlerweile verheiratet ist, am Küchentisch. Es produzierte das erste Bracenet. Es probierte Kleber und Edelstahlverschlüsse aus und fertigte rund 50 Stück. Im September 2016 ging die Webseite online. „Nach ein paar Tagen hatten wir das erste verkauft“, sagt von Hohenthal.
Meeresschutz-Organisation profitiert
Auf das Schalten von Werbung verzichteten sie, dafür stellten sie Anfang 2017 ihre Mission auf der Wassersportmesse Boot in Düsseldorf vor. Branchenmagazine berichteten über das Hamburger Start-up – und dann wurde die Deutsche Telekom auf sie aufmerksam. Im Mai 2017 war Bracenet der „Mega-Deal“ der Woche in dem Newsletter, den der DAX-Konzern an Hunderttausende Abonnenten schickt.
„Bis dahin hatten wir 200 bis 300 Bracenets gefertigt. Und plötzlich machte es ,pling‘, ,pling‘, ,pling‘ in unserem E-Mail-Fach“, sagt Wenke. Zum regulären Stückpreis von 19 Euro gab es noch ein Gratisexemplar dazu. 10.000 Bestellungen gingen ein. Mit einem Kraftakt dank der Hilfe von Freunden und Bekannten klappte die Produktion, auch wenn sich die Lieferzeit auf vier Wochen deutlich verlängerte. „Das war der Startschuss für viele Anfragen“, sagt von Hohenthal.
Wahrscheinlich dürfte viele Telekom-Kunden auch überzeugt haben, dass sie mit dem Kauf „etwas Gutes“ unterstützen können. Denn wer bei dem Angebot zuschlage, könne „die Säuberung der Weltmeere unterstützen“, hieß es in dem Newsletter: „Und das Beste: Zehn Prozent jeder Bestellung gehen an den Bracenet-Partner, die Meeresschutz-Organisation Healthy Seas.“ Schon nach ihrem Tansania-Urlaub hatten von Hohenthal und Wenke Kontakt mit Firmen und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) aufgenommen.
150 ehrenamtliche Taucher
Sie trafen sich mit den Meeresschutzorganisationen Healthy Seas und Ghost Fishing. Für diese sind in vielen Ländern wie Griechenland, Südkorea oder Libanon rund 150 Taucher am Wochenende ehrenamtlich tätig. Zwei- bis dreimal gehen sie pro Tag in bis zu 50 Meter Tiefe hinunter zu Schiffswracks. Dort befreien sie Fische und Seesterne aus den Netzen und schneiden diese dann in Handarbeit los.
Im großen Müllstrudel des Nordpazifiks sei beispielsweise festgestellt worden, dass 46 Prozent des Plastikmülls Geisternetze sind. Die Taucher blasen Atemluft in mitgebrachte leere Ballons und knoten diese an die Netze, sodass sie an die Oberfläche steigen. Ein gefährlicher Job: Die Sicht betrage mitunter nur einen halben Meter, bei der Arbeit wird Dreck aufgewirbelt, die Taucher können sich in den Netzen verfangen.
Die Netze, die Hunderte Jahre brauchen, bis sie sich zersetzen, werden dann an Land gebracht und meist auf den privaten Grundstücken der Taucher gelagert. Bis heute gibt Bracenet zehn Prozent an die Organisationen ab, die damit zum Beispiel auch Gefahrentrainings für die Taucher finanzieren. „Wir werden dieses Jahr 100.000 Euro an Spenden abführen“, sagt von Hohenthal.
Eine norwegische Firma reinigt die Netze
Bracenet holte sich noch einen zweiten Partner ins Boot. Das norwegische Unternehmen Nofir reinigt die Netze in einem speziellen Verfahren. Häufig kommt erst nach dem Säubern die Farbe zum Vorschein. Rohstoffe wie Blei werden abgetrennt, weiterverarbeitet und verkauft. Aus einem Teil der Netze werden Nylongarne gewonnen, aus denen zum Beispiel Teppiche gefertigt werden. Auch andere Unternehmen setzen auf recycelte Materialien. Das Hamburger Handelshaus Tchibo entwarf zum Beispiel Sport- und Bademode aus PET-Flaschen, die an Land und im Wasser gesammelt wurden. Adidas entwickelte Laufschuhe, bei den das Obermaterial weitgehend aus vor den Malediven gesammeltem Plastik besteht.
Bei Bracenet kommen die Netze im letzten Fertigungsschritt nach Deutschland. An mehreren Standorten werden die Armbänder hergestellt. Dabei wird auch mit Behindertenwerkstätten in Neumünster, Duisburg und Hamburg zusammengearbeitet. Die Zentrale der Firma, die insgesamt 22 Mitarbeiter beschäftigt, sitzt seit Anfang des Jahres in einem Hinterhofhaus am Jungfernstieg. Mitarbeiterinnen sortieren Bänder, kleben Verschlüsse und machen die Armbänder schließlich versandfertig.
70 Einzelhändler weltweit
„Wir haben jetzt vier Tonnen an Netzen für Armbänder verbraucht“, sagt von Hohenthal. Im Geschäftsjahr 2018/19 sei eine mittlere fünfstellige Zahl an Bracenets verkauft worden. Hinzu kommen weitere Produkte wie Schlüsselanhänger, Hoodies, Sweatshirts und Taschen aus einem Gemisch von recycelter Baumwolle und recyceltem Polyester. 70 Einzelhändler weltweit vertreiben die Waren. Auch Volleyballspieler können schon über ehemalige Geisternetze schmettern und baggern. Fußball-Bundesligaklub Werder Bremen verkauft ein grün-weißes Bracenet im Fanshop. Weitere Produkte sind geplant. So soll im Herbst eine Hundeleine erhältlich sein, die aus den Leinen besteht, mit denen die Netze befestigt werden.
Genaue Zahlen zu Umsatz und Gewinn nennen die Gründer nicht, der Jahresabschluss laufe derzeit noch. „Wir haben gar nicht diese wirtschaftlichen Ziele. Die Leute sollen den Sinn hinter den Produkten verstehen“, sagt Wenke. Man glaubt ihm das. Auch, dass weder er noch seine Frau jemals vorhatten, Unternehmer zu werden. Doch nach der Telekom-Aktion war klar, dass das Motto „ganz oder gar nicht“ lauten musste. Sie kündigten ihre Jobs, sind seit zwei Jahren selbstständig und werden seit Dezember von den Wirtschaftssenioren beraten.
Die Lufthansa war der nächste Konzern, mit dem das Start-up zusammenarbeitete. Mittlerweile sind es rund zwei Dutzend Fluglinien, bei denen Bracenets zum Beispiel im Bordshop verkauft werden. Ausgerechnet Firmen aus der Luftfahrt, die in der momentanen Klimadiskussion attackiert werden? Für Wenke kein Widerspruch: „Wir wollen keine Hardliner sein“, sagt der 34-Jährige. Mit jedem Geschäftskunden treffe man sich, spreche mit Verantwortlichen für die Nachhaltigkeit. Auch in den Unternehmen säßen Menschen, die etwas verändern wollen. „Meist sind wir überrascht, wie Teams bis in den Vorstand hinein für Veränderungen kämpfen“, sagt Wenke.
Gefragte Redner
Die Eheleute selbst sind mittlerweile als Redner gefragt. Sie sprachen beim Hamburger Otto-Konzern über ihr Projekt, auf Konferenzen vor CDU-Chefin Annegret Kamp-Karrenbauer, und Mitte August sollen sie ihre Arbeit vor der Regierung in Ecuador präsentieren. Die Kontakte in Politik und Wirtschaft wollen sie nutzen, um mehr auf das Problem aufmerksam zu machen. Strafen für das Versenken der Netze müssten erhöht werden. Ein Pfandsystem sollte eingeführt werden, wenn Fischer ihre ausrangierten Netze zurückbringen.
Mittlerweile würden sich schon mal Fischer bei ihnen melden, wenn sie ihre Fangmaschen aussortieren wollen, und fragen, ob sie das brauchen könnten. „Da haben wir gemerkt: Wir haben etwas erreicht“, sagt die 31 Jahre alte von Hohenthal. Und ihr Ehemann ergänzt etwas, das für einen typischen Unternehmer wohl unvorstellbar wäre: „Unser Oberziel ist, dass wir uns in den kommenden 15 bis 20 Jahren selbst abschaffen.“ Weil alle Netze aus den Weltmeeren verschwunden sind – und Bracenet damit die Existenzgrundlage entzogen worden wäre.