Hamburg. Schwache Konjunktur lässt Arbeitslosigkeit steigen. Warum es dennoch erstmals eine Million Beschäftigte in Hamburg geben wird.
Jahrelang lief es glänzend auf dem Hamburger Arbeitsmarkt. Von Jahr zu Jahr waren weniger Menschen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, zugleich kletterte die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von Rekord zu Rekord. Laut der jüngsten Erhebung waren es Ende April genau 996.800. Doch jetzt gibt es eine überraschende Entwicklung: Seit April steigt die Zahl der Jobsuchenden in Hamburg wieder leicht.
Bundesweit und auch in den beiden Nachbar-Bundesländern Schleswig-Holstein und Niedersachsen ging sie im Juni hingegen weiter zurück. Und: Im ersten Halbjahr verloren 35.600 Hamburger ihren Job – 3,4 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Ist das Ziel von weniger als 60.000 Arbeitslosen jetzt noch realistisch? Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Wer bekommt sie zuerst zu spüren? Droht eine Wende am Arbeitsmarkt? Wie wird sich die Zahl der Beschäftigten entwickeln? Das Abendblatt sprach mit Experten und beantwortet die wichtigsten Fragen.
Wie ist die Lage am Hamburger Arbeitsmarkt?
In den vergangenen Monaten gab es einen Dämpfer. Im Juni stieg die Zahl der Arbeitslosen auf 64.691. Es war bereits der zweite Anstieg gegenüber dem Vormonat in Folge. Gleichzeitig melden die Unternehmen weniger freie Stellen an die Arbeitsagentur – offensichtlich, weil sie aufgrund der konjunkturellen Entwicklung weniger Bedarf an zusätzlichen Mitarbeitern haben. Gleichzeitig gibt es aber noch 16.800 freie Stellen in Hamburg.
Auch die Zahl der Arbeitssuchenden insgesamt ist innerhalb der letzten zwei Monate um rund 2000 auf 125.960 Hamburger gestiegen. In dieser Zahl sind neben den Arbeitslosen, die dem Arbeitsmarkt sofort zur Verfügung stehen, auch Personen enthalten, die Qualifikationen oder Sprachkurse absolvieren oder aufgrund ihres Alters nicht mehr aktiv vermittelt werden. Im ersten Halbjahr 2019 haben sich insgesamt 40.294 Hamburger arbeitslos gemeldet. Das sind knapp vier Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. An- und ungelernte Mitarbeiter werden immer zuerst entlassen, und sie haben es auch deutlich schwerer, wieder einen neuen Job zu finden.
Wie beeinflusst die Konjunktur den Arbeitsmarkt?
„Die seit dem dritten Quartal 2018 schwache deutsche Konjunktur ist am Arbeitsmarkt angekommen“, sagt Eckart Tuchfeld von der Commerzbank. Der Arbeitskräftebedarf lasse spürbar nach. In diesem Jahr rechnet das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) nur noch mit einem Wirtschaftswachstum von 0,9 Prozent nach 1,4 Prozent im Vorjahr. Auch die Bundesregierung hat ihre Prognose auf 0,5 Prozent abgesenkt. Viele große Unternehmen haben Stellenstreichungen angekündigt. Der Technologiekonzern Siemens will in der Energiesparte 2700 Jobs abbauen, der Autobauer VW plant die Streichung von 25.000 Stellen, und Rivale Daimler will mit 10.000 Arbeitsplätzen weniger auskommen.
„Es ist richtig, dass die Risiken für die Großkonzerne wachsen“, sagt Henning Vöpel, Direktor des HWWI. Das sei aber mehr dem strukturellen Wandel geschuldet und werde nicht die gesamte Wirtschaft, insbesondere nicht den Mittelstand, erfassen. „Wenn die Geldpolitik weiter so locker bleibt und die Handelskonflikte zwischen den USA und China und Europa nicht weiter eskalieren, rechne ich schon bald wieder mit einer anziehenden Dynamik der Wirtschaft“, sagt Vöpel. Außerdem laufe die Binnenwirtschaft noch sehr stabil. „Konjunktur und Arbeitsmarkt werden sich eher aufwärts als abwärts entwickeln.“
Wird 2019 die Zahl der Arbeitslosen in Hamburg noch unter 60.000 fallen?
Diese Prognose hatte Sönke Fock, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit, zum Jahresende 2018 im Abendblatt für diesen Sommer abgegeben. „Im Laufe des Jahres sind die Konjunkturprognosen nach unten korrigiert wurden“, sagt Fock jetzt. Das habe sich bisher aber nur geringfügig auf die Dynamik des Hamburger Arbeitsmarktes ausgewirkt. Fock ist deshalb überzeugt: „Wenn sich der Beschäftigungsanstieg in Hamburg im Rahmen von zwei bis zweieinhalb Prozent fortsetzt wie bisher, sind in diesem Jahr durchaus noch 60.000 oder zumindest 62.000 Arbeitslose für einzelne Monate möglich.“
Gibt es verstärkt Kurzarbeit?
Nach Angaben der Arbeitsagentur gibt es keine Auffälligkeiten bei Kurzarbeit und Massenentlassungen. Lediglich 27 Betriebe haben 380 Mitarbeiter zur Kurzarbeit angemeldet. Wenn man das auf Vollzeitstellen umrechnet, dann geht es lediglich um 60 Arbeitslose mehr.
Wie wird sich Hamburgs Arbeitsmarkt im Jahresverlauf weiterentwickeln?
Für Juli und August rechnet die Arbeitsagentur Hamburg mit einem weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahl. Das ist in den Sommermonaten üblich: Viele Unternehmen machen Betriebsferien, die Besetzung neuer Stellen wird einstweilen verschoben. Zudem laufen Ausbildungsverträge aus, ohne dass es sofort zu einer Anschlussbeschäftigung kommt. Von September an werden die Arbeitslosenzahlen aber voraussichtlich wieder sinken. „Im Jahresdurchschnitt rechnen wir mit 64.000 bis 65.000 Arbeitslosen“, sagt Fock. Verglichen mit dem Vorjahr wäre das eine leichte Verbesserung. 2018 waren im Jahresdurchschnitt 65.600 auf Jobsuche. „Ich rechne also nicht mit einer generellen Verschlechterung am Hamburger Arbeitsmarkt“, sagt Fock.
Wie wird sich die Zahl der Arbeitsplätze entwickeln?
Hamburg liegt bei der Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze über dem Bundesdurchschnitt. Während in den ersten vier Monaten des Jahres die Beschäftigung in der Hansestadt um 2,5 Prozent zunahm, betrug der bundesweite Wert nur zwei Prozent. „Bleibt die Beschäftigungsentwicklung so positiv wie in den vergangenen Monaten, werden wir im Oktober dieses Jahres berichten können, dass in Hamburg erstmals mehr als eine Million sozialversicherungspflichtige Beschäftigte arbeiten“, sagt Fock.
Mehr Jobs und mehr Arbeitssuchende. Wie passt das zusammen?
In Hamburg sind viele Pendler aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen tätig. Rund 355.000 Arbeitnehmer kommen aus anderen Bundesländern zum Job nach Hamburg. „Doch neue Stellen und der bestehende Arbeitsmarkt bilden kein geschlossenes System, das ineinandergreift. Es treten verstärkt Menschen in den Arbeitsmarkt ein, die vorher nicht arbeitslos waren, sondern sich der Kindererziehung oder der Pflege von Familienangehörigen gewidmet haben“, sagt Fock. Etwa 90 Prozent der freien Stellen am Hamburger Arbeitsmarkt sind für Fach- und Führungskräfte ausgeschrieben, doch 57,3 Prozent der Arbeitslosen sind an- oder ungelernt.
Warum schneidet Schleswig-Holstein besser ab als Hamburg?
Im bundesweiten Vergleich der Arbeitslosenquoten erreicht Hamburg (6,1 Prozent) nur Rang elf von 16 Bundesländern. Das Nachbarland Schleswig-Holstein steht mit 4,9 Prozent deutlich besser da. Allein aus dem Bundesland im Norden kommen 176.400 Pendler zum Arbeiten nach Hamburg. Strukturell ist der Arbeitsmarkt in Schleswig-Holstein mit Tourismus und Landwirtschaft auch ganz anders aufgestellt als in Hamburg. Das führt zu stärkeren saisonalen Schwankungen, in deren Folge die Arbeitslosigkeit in Schleswig-Holstein im Frühjahr und Sommer stärker sinkt.
Von diesem Trend profitiert der Arbeitsmarkt im Norden insbesondere zu Beginn der Feriensaison. Im Herbst und Winter jedoch steigt die Arbeitslosigkeit dort wieder stärker an als in Hamburg. Tourismus und Landwirtschaft haben dann weniger Bedarf an Arbeitskräften. Vielfach passen in Hamburg die Anforderungen der Arbeitgeber nicht zum Profil der Arbeitslosen. Das betrifft vor allem Jobsuchende ohne abgeschlossene Berufsausbildung, die in Großstädten für gewöhnlich stärker vertreten sind als in ländlichen Regionen. Im Hamburger Bezirk Mitte etwa ist die Arbeitslosenquote mit 7,9 Prozent die höchste in den sieben Bezirken. Gleichzeitig gibt es mit 7900 die meisten unbesetzten Jobs.