Hamburg. Vildane Uludag kam als Kind nach Deutschland. Sie war Mutter und Hausfrau. Dann gründete sie ein islamisches Bestattungsinstitut.

Es riecht nach Rosenwasser. Den ganzen Tag schon, seit heute morgen. Jetzt ist es später Nachmittag. Vildane Uludag öffnet den Hintereingang und schiebt einen Holzkeil unter die Tür, damit sie nicht zufällt. Sie will einmal durchlüften. Die Leiche wurde weggebracht, zum Friedhof Öjendorf, bereits vor Stunden. Der Geruch von Rosenwasser ist geblieben.

Doch Vildane Uludag nimmt ihn nicht wahr. Nicht nach all den Jahren, in denen sie ihren Job als Bestatterin schon macht. Es ist spät am Freitagnachmittag, Feierabend gleich. Vildane Uludag kontrolliert ein letztes Mal die Räume. Damit alles perfekt ist, wenn der nächste kommt. Sie weiß nie, wann das ist.

Alles muss stimmen im Abschiedsraum

Im Abschiedsraum zupft sie die Vorhänge richtig, schiebt zwei Stühle zurecht, richtet den Koran auf dem Stehpult aus. Dann blickt sie sich ein letztes Mal um und schaltet das Licht aus. Weiter, den Flur entlang. Rechts der Gebetsraum, Namaz Odasi, links der Waschraum, Gasilhane.

Die Worte stehen in deutscher, türkischer und arabischer Schrift auf kleinen Schildern. Vorsichtig schiebt sie die Tür zum Waschraum auf und schaltet das Licht ein. Über der Tür geht ein Schild an. „Frau“ ist zu lesen. Daneben ein zweites Leucht-Schild. Mit dem Wort „Man“. Es bleibt dunkel. „Damit man sieht, wer gerade drinnen ist“, sagt Vildane Uludag. Unvorstellbar, dass ein Mann hereinkäme, wenn gerade eine Frau drinnen ist und gewaschen wird.

1973 nach Deutschland gekommen

Vildane Uludag achtet streng auf religiöse Vorschriften, traditionelle Riten. Deswegen kommen die Menschen zu ihr und vertrauen ihr. Weil sie ihren Glauben kennt, teilt, lebt. Weil sie eine von ihnen ist. Eine Türkin, Muslimin, Migrantin. 1973 ist sie nach Deutschland gekommen – zu ihren Eltern, die vorgegangen waren. Erst ihre Mutter, dann ihr Vater. Schließlich sie. Damals war sie acht Jahre alt. Sie hat eine Ausbildung gemacht, geheiratet, Kinder bekommen. Eine Rolle gelebt, ihre Aufgabe erfüllt.

Doch irgendwo, tief in ihr drinnen, war da dieses Gefühl, dass es noch mehr gibt. Dass sie noch mehr erreichen will, noch mehr schaffen kann. Studieren zum Beispiel. Also fing sie mit Betriebswirtschaft an, abends, wenn die Kinder längst schliefen. Aber an ein eigenes Unternehmen hat sie nie gedacht. Bis ihr Vater sie zur Gründung von Uludag Cenaze überredete. Ein islamisches Bestattungs- und Überführungsinstitut. Ein Novum in Norddeutschland. Vildane Uludag war vermutlich die erste türkischen Bestatterin in Deutschland.

Die Leiche wird rituell gewaschen

Vildane Uludag spricht ein Gebet.
Vildane Uludag spricht ein Gebet. © Marcelo Hernandez

Am Anfang, sagt sie, seien die Bedenken groß gewesen. Die Vorbehalte ihr gegenüber. Trotzdem sind die Leute zu ihr gekommen. „Es gab ja niemanden anderes“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Sie hat gelernt, damit umzugehen. Sie hat gelernt, sich durchzusetzen. Heute respektieren die Menschen sie. Schätzen sie. Obwohl sie eine Frau ist. Oder gerade deswegen. „Frauen leiden mehr mit“, sagt sie. Gestern war ein junger Mann bei ihr, der seine Mutter verloren hat. Und dann, ein paar Wochen später, seinen Vater. In Momenten wie diesen weint sie mit, leidet mit, tröstet. Bis sie sich die Nase putzt und loslegt. Papiere anfordert, die Überführung organisiert, den Verstorbenen für die Bestattung vorbereitet lässt.

Nach islamischem Vorgaben wird der Leichnam mehrfach rituell gewaschen – Männer von einem Iman oder männlichen Angehörigen, Frauen von weiblichen Familienangehörigen. Im Waschraum steht ein großer Granittisch mit einem Abfluss am unteren Ende. An der Decke baumelt ein Wasserschlauch. „Als erstes drückt man dem Verstorbenen sanft auf den Bauch, damit die Exkremente entweichen“, sagt Vildane Uludag und zeichnet mit der Handfläche auf dem Granittisch die Umrisse eines Menschen nach.

Respekt vor den Verstorbenen

„Hier“, sagt sie und zeigt vom Bauchnabel über den Intimbereich bis hin zu den Knien. „Hier ist der Körper aus Respekt vor dem Verstorbenen mit einem Tuch verhüllt.“ Hier wird nur unterhalb des Tuches gewaschen. Mit dem Kopf deutet sie auf den Wasserschlauch an der Decke. „Mit fließendem Wasser werden die Hände bis zum Handgelenk gewaschen, der Mund ausgespült, die Nasenlöcher gereinigt und danach das Gesicht gewaschen. Dann die Hände bis zum Ellbogen und der Kopf von den Haaren bis zum Hals sowie der Körper von der rechten Seite beginnend.“

Das Wasser ist lauwarm. Wie für Babys, sagt sie. Tausende Male hat sich jeder Gläubige so vor dem Gebet gereinigt, jetzt erweisen ihm andere diese letzte Ehre. Nach der ersten Waschung wird die Leiche oft mit Duft besprengt. Damit der Leib gut riecht, der Verwesungsgeruch überdeckt wird. Vildane Uludag nimmt am liebsten Rosenwasser. Sie mag die Waschung. Weil der Verstorbene danach irgendwie anders aussieht. Friedlich.

Idee kam vom Vater

Früher konnte sie das nicht, eine Leiche sehen, riechen, berühren. Mit früher meint sie damals, Mitte der 1990er-Jahre, als ihr Vater die Idee mit dem islamischen Bestattungsinstitut hatte. Während seiner Arbeit als Sektionsgehilfe in der Pathologie eines Krankenhauses erlebte er damals oft, welche Probleme muslimische Familien bei der Bestattung ihrer Angehörigen nach islamischen Riten hatten.

Bei der Organisation von Papieren und Pässen, der rituellen Waschung, der Überführung. „Mein Vater wollte einfach helfen. Ihm ging es nicht darum, ein Unternehmen zu gründen und ein erfolgreiches Geschäft aufzubauen, sondern Hilfestellung zu leisten“, sagt Vildane Uludag. Sie weiß, dass das wie eine Phrase klingt. Aber so war es. Konnte ja keiner ahnen, wie sich das alles entwickelt. Anfangs haben sie alle paar Wochen eine Bestattung organisiert. Heute sind es jeden Monat mehrere. Tausende in all den Jahren. Zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime leben in Deutschland.

Berührungsängste am Anfang

Vildane Uludag weiß noch, welche Bedenken sie früher hatte – und welche Berührungsängste. Am Anfang hat sie nur im Büro gesessen und sich um den Papierkram gekümmert. Irgendwann ist sie selbst den Leichenwagen gefahren und hat bei den Waschungen geholfen.

Manchmal, wenn Vildane Uludag von damals erzählt, fasst sie sich unbewusst an ihr Kopftuch und zupft die Enden zurecht. Früher hat sie kein Kopftuch getragen. Bis sie irgendwann eines Morgens ein Kopftuch aus dem Schrank holte und sich verhüllte. Sie war bereit dafür. „Der Glaube wird im Alter stärker, vor allem, wenn man mit dem Tod zu tun hat“, sagt sie. Sie hat das beobachtet. Bei sich und bei den anderen. Die zu ihr kommen, um einen Angehörigen bestatten zu lassen. Egal wie integriert, sozialisiert, jemand gewesen sei – am Ende des Lebens überwiege die Religion. Die Leichenwaschung, das Totengebet auf Arabisch, die Bestattung mit dem Gesicht nach Mekka, eingebettet in ein schlichtes, ungesäumtes Leichentuch.

"Im Tode sind alle gleich"

„Im Tode vor Allah sind alle gleich“, sagt Vildane Uludag und streicht mit ihrer Hand über einen dicken Stoffballen, den Kefen, ungesäumt, 49 Knoten, importiert aus Istanbul. Daraus wird für jeden Verstorbenen das Leichentuch zurecht geschnitten. Über dem Kopf und unterhalb der Füße wird das Leichentuch mit Stoffstreifen zusammengebunden. Laut Islam sollen Verstorbene in einem Leichentuch bestattet werden. Nicht aber in einem Sarg. „Das war lange Zeit ein großes Problem für uns“, sagt Vildane Uludag und meint: Für uns als Bestatter. Für uns als Muslime. Denn in Deutschland gab es lange eine Sargpflicht. Manchmal spricht sie sogar von Sargzwang. Sie zupft einen losen Faden von dem Leichentuch-Ballen und schaltet das Licht im Waschraum aus. Jetzt ist alles fertig. Für den nächsten.

Kalt ist es geworden. Vildane Uludag kickt mit einem Fuß den Keil unter der Hintertür hervor und lässt die Tür ins Schloss fallen. Im Hinterhof steht der Leichenwagen. Durch das Fenster ist ein Sarg zu sehen. „Den brauchen wir, um eine Leiche aus dem Krankenhaus hierher zu bringen – oder von hier zum Friedhof“, sagt sie und schiebt dann schnell hinterher: „… oder zum Flughafen, natürlich.“ Für sie ist das natürlich. Dass die Leichen ausgeflogen werden, überführt werden. In die Türkei. Schätzungsweise 80 Prozent der Verstorbenen werden ins Heimatland gebracht. Im Frachtraum einer Airline, in einem mit Metall ausgekleideten Sarg. Damit nichts ausfließen kann.

Traum vom eigenen Flugzeug

Früher, als noch mehr als 90 oder 95 Prozent der Leichen überführt wurden, hat sie mal davon geträumt, ein eigenes Flugzeug zu haben. Eine kleine Cessna. Ihr Mann hatte sogar schon den Pilotenschein gemacht. „Heute braucht man so was aber nicht mehr“, sagt sie und meint nicht den Pilotenschein. Sondern ein eigenes Flugzeug. Heute, wo es immer mehr Linienverbindungen gibt, mindestens drei Maschinen pro Tag von Hamburg Richtung Istanbul oder Ankara abheben. Heute ist sie geschieden und in zweiter Ehe verheiratet.

Vildane Uludag reibt sich über die Augen, sie ist müde. Um drei Uhr war sie heute Nacht wach und konnte nicht mehr einschlafen. „Zu viele Gedanken im Kopf“, sagt sie und steigt langsam die Treppen ins Obergeschoss hoch. Hier hat sie ihr Büro. Ein offizielles, wenn sie Angehörige empfängt, mit einem großen Besprechungstisch und schweren Stühlen. Und ihr privates, wo sie den Papierkram erledigt.

Kalter Tee auf dem Schreibtisch

Im Radio läuft ein türkischer Sender, auf dem Schreibtisch steht eine Tasse mit Tee. Er ist kalt, sie hatte noch keine Zeit, ihn zu trinken. Es war viel zu tun heute, Totenscheine mussten angefordert, Konsulate kontaktiert werden, um Überführungen zu organisieren. Der Sargzwang ist in den meisten Bundesländern längst aufgehoben worden und eine Bestattung in Leichentüchern mag inzwischen vielerorts auch hier möglich sein – die Verbundenheit mit der alten Heimat und den dort lebenden Familienangehörigen ist es noch nicht. Vildane Uludag versteht das. Manchmal fragt sie sich, wo sie mal bestattet werden möchte. In Deutschland, wo sie seit 45 Jahren lebt, wo sie zu Hause ist? Oder in der Türkei, mit der sie sich irgendwie immer noch verbunden fühlt? Sie weißt es nicht.

Familie hat ein Grab in der Türkei – für 15 Personen

Vor ein paar Jahren ist ihr Vater gestorben. Er wollte in seiner Heimat beigesetzt werden, einem kleinen Dorf, 120 Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt. Die Arbeit hatte ihn nach Deutschland geführt, das Alter, der Ruhestand führte ihn zurück in die Heimat. Die Familie hatte dort bereits ein Grab gekauft, für zehn bis 15 Personen. Der Islam schreibe nicht vor, wo ein Muslim beerdigt wird – aber wann. Ohne unnötige Zeitverzögerung. Früher bedeutet das, bevor zwei Nächte vergehen, heute heißt es innerhalb von 24 bis 48 Stunden. Manchmal, sagt Vildane Uludag, gehe es schneller, jemanden in die Türkei überführen zu lassen – als hier zu bestatten. Und billiger sei es meistens auch. Ein Verstorbener gilt als Fracht. „Die Kosten hängen vom Gewicht des Toten ab“, sagt Uludag. Sie spricht fließend Deutsch und Türkisch, lernt Arabisch. Früher hat sie mit den Kindern Türkisch gesprochen, im Reflex. Jetzt meist Deutsch. Es fällt ihr dann leichter, sich auszudrücken.

Draußen ist es dunkel geworden, sie will nach Hause, zu den Kindern. Ihrem Mann. Den Tee lässt sie stehen. Sie nimmt ihr Handy vom Schreibtisch und steckt es ein. Sie ist immer erreichbar. Viele Anrufe kommen nachts. Vildane Uludag schaltet das Licht aus, zieht die Tür ins Schloss, schließt ab. Im Vorgarten liegen ein paar Grabsteine. „In der Türkei legen wir oft nur einen kleinen Stein an die Stelle, wo der Kopf des Toten liegt“, sagt Vildane Uludag und geht weiter. Aber in der Fremde hätten sich viele angepasst, deutsche Bräuche übernommen. Sie bietet keine Grabsteine mehr an, das hat früher ihr Mann gemacht. Die Arbeit ist ihr zu schwer geworden. Alte Grabsteine stehen im Vorgarten, zum Teil verwittert. Ein Ast mit Dornen rangt zwischen zwei Steinen hindurch. Es ist eine Rose.