Berlin. Ab Donnerstag verhandeln die Gewerkschaften über die Tarife für 160.000 Beschäftigte der Bahn. 79 Forderungen liegen auf dem Tisch.

Mit Sorgen und Wünschen von Beschäftigten kennt sich Martin Seiler aus. Und zwar aus Arbeitgeber- als auch aus Arbeitnehmersicht. Der 54-jährige Personalvorstand der Deutschen Bahn war vor seinem Eintritt in den Staatskonzern zu Jahresbeginn nicht nur als Arbeitsdirektor bei der Telekom tätig, sondern auch jahrelang bei Gewerkschaften.

Nicht zuletzt von seinem Verhandlungsstil in den diese Woche beginnenden Tarifverhandlungen hängt es ab, ob der Deutschen Bahn ein heißer Herbst mit Arbeitsniederlegungen und sogar Warnstreiks bevorsteht – und damit Millionen Fahrgästen wie in der Vergangenheit Zugverspätungen und Ausfälle drohen.

Große Herausforderungen für die Tarifverhandlungen

Grundsätzlich gibt sich Seiler aber zuversichtlich: „Wir wollen am Verhandlungstisch zügig vernünftige Lösungen finden.“ Diese sollen den Konzern als Arbeitgeber attraktiver machen – und die Auswirkungen für die Kunden möglichst gering halten.

Die Herausforderungen für die Tarifverhandlungen sind groß. Denn der Konzern muss sich mit zwei mächtigen Gewerkschaften zusammensetzen, deren Streikkraft vielen in Erinnerung ist: der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) mit 34.000 Mitgliedern und der größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).

An getrennten Tischen sollen für die rund 160.000 Mitarbeiter in Deutschland ähnliche Abschlüsse gefunden werden, um betriebsinterne Konflikte zu vermeiden.

7,5 Prozent mehr Lohn gefordert

Die Forderungen der Gewerkschaften liegen seit September auf dem Tisch: Beide fordern 7,5 Prozent mehr Lohn – verteilt auf zwei Jahre. Doch hinter dieser Zahl versteckt sich eine Vielzahl an Wünschen.

So hat die GDL einen Forderungskatalog mit 43 Punkten, die EVG mit 36 Punkten vorgelegt. Die Lokführer-Gewerkschaft fordert unter anderem höhere Zuschläge in der Nacht, an Sonn- und Feiertagen, berechenbare Schichtpläne und Arbeitszeiten sowie mehr Wertschätzung.

Die Mitglieder der EVG wünschen sich mehr Unterstützung bei der Altersvorsorge und Langzeitarbeitskonten. Es geht aber auch um den Abbau von Überstunden, digitale Erreichbarkeit, mobile Arbeit oder Freistellung bei Krankheiten.

Beide Gewerkschaften plädieren für eine höhere Bezahlung der Auszubildenden. Und vor allem für noch mehr individuelle Wahlmöglichkeiten, ob sie die Tariferhöhung bar ausgezahlt bekommen oder als Freizeit.

Bahn musste 1500 neue Mitarbeiter einstellen

Diese Wahlfreiheit wurde in der vergangenen Tarifrunde erstmals bei der Bahn ausgehandelt – und kam bei den Beschäftigten sehr gut an. 58 Prozent der Mitarbeiter entschieden sich für sechs Tage mehr Urlaub statt der zuletzt ausgehandelten 2,62 Prozent Lohnplus pro Jahr in bar. Nur zwei Prozent reduzierten ihre Wochenarbeitszeit von 39 auf 38 Stunden. 40 Prozent wollten mehr Geld sehen.

Jede dieser drei Optionen kostet die Bahn unterm Strich etwa gleich viel Geld. Allerdings ist die Wahl der Urlaubsvariante für den Konzern am aufwendigsten und braucht einen Vorlauf von etwa zwei Jahren.

Denn: Um die ausfallende Arbeitszeit auszugleichen musste die Bahn 1500 Mitarbeiter zusätzlich einstellen. Ein Unterfangen, das in den aktuellen Zeiten von Fachkräftemangel und niedriger Arbeitslosigkeit kein Selbstläufer ist.

Allein in diesem Jahr rekrutiert die Deutsche Bahn etwa 20.000 neue Mitarbeiter – von denen bis Ende August schon 17.000 einen Einstellungsvertrag hatten. Besonders schwierig ist die Situation bei Lokführern – und zwar branchenweit.

In der Schweiz werden Lokführer bereits mit monatlichen Zusatzboni von umgerechnet rund 500 Euro gelockt. In Deutschland müssen Eisenbahnunternehmen im Regionalverkehr immer wieder Zugverbindungen streichen, weil krankgemeldetes Personal nicht kurzfristig ersetzt werden kann.

Ein Prozent Tariferhöhung kostet 90 Millionen Euro

Teuer wird der Abschluss für die Deutsche Bahn allemal: Jedes Prozent der Tariferhöhung entspricht laut Bahn etwa 90 Millionen Euro Mehrkosten im Jahr. Die Reisenden bekommen die Auswirkungen bereits mit Beginn des Winterfahrplans zu spüren, wenn die Preise im Fernverkehr um 0,9 Prozent angehoben werden.

Im Vergleich zu anderen Branchen gewährte die Deutsche Bahn in den vergangenen zehn Jahren mit die großzügigsten Tariferhöhungen.

Die Gewerkschaften geben sich willensstark, ihre Forderungen durchzusetzen. „Wir wollen einen guten Abschluss“, heißt es bei der GDL. Bei der EVG seien viele auch „zu Arbeitskämpfen bereit“, sagte ein Sprecher. Doch zunächst setzen alle auf gute und konstruktive Verhandlungen.

Die erste Runde beginnt am Donnerstag in einem Berliner Hotel mit der EVG und am Freitag mit der GDL. Weitere Treffen sind für Ende Oktober und Mitte November geplant. „Uns liegt ein breiter Strauß an Forderungen vor, den es Schritt für Schritt zu bewerten und zu besprechen gilt“, sagt der DB-Personalvorstand Seiler.

Ziel sei es, gleiche Ergebnisse für gleiche Berufsgruppen zu erzielen. Der Bahnvorstand würde sich einen Abschluss vor Weihnachten wünschen. Wichtiger als das Tempo sei es aber, so Seiler, „ein Gesamtpaket zu schnüren, das sowohl die Leistungen der Mitarbeiter wertschätzt, als auch unser Kerngeschäft im Blick hat“.