Frankfurt/Main. Die Nestlé-Deutschland-Chefin sieht Essen zunehmend als Statement über die Persönlichkeit. Béatrice Guillaume-Grabisch im Gespräch.

Neunter Stock. Aus ihrem lichtdurchflutetem Büro hat Béatrice Guillaume-Grabisch einen Rundblick vom Frankfurter Bankenviertel über den Stadtwald bis zum Flughafen. Vor ihr starten Flieger im Minutentakt – viele in eines der 191 Länder, in die Nestlé seine Produkte verkauft oder dort herstellt. Die Deutschland-Chefin des weltgrößten Lebensmittelherstellers versprüht Aufbruchsstimmung. Qualität und digitale Vernetzung haben für die 53-Jährige Vorstandsvorsitzende hohe Priorität. Ein Gespräch über Ernährung, Verantwortung und die Zukunft des Konzerns.

Was ist für Sie ein gutes Essen?

Béatrice Guillaume-Grabisch: Es ist mit sehr guten Zutaten, Genuss und Liebe zubereitet. Ein gutes Essen schmeckt nicht nur gut, sondern wird auch schön präsentiert – dafür nimmt man sich gerne Zeit.

Geht dies auch mit Produkten aus ihrem Sortiment?

Guillaume-Grabisch: Auf jeden Fall. Wenn man zum Beispiel unsere Schinkenprodukte mit Orangenscheiben und Pfeffer kombiniert, mit unserer Mayonnaise oder Senf den Geschmack unterstützt, danach noch einen Nespresso – das ist eine Wonne. Wir bietet zudem allein 80 Pizzasorten - von Salami, über vegetarisch bis glutenfrei.

Die Weltgesundheitsorganisation ist da kritischer und sieht Fertigprodukte als eine Ursache dafür, dass immer mehr Menschen übergewichtig und fettleibig sind. Sehen Sie sich hier mitverantwortlich?

Guillaume-Grabisch: Jedes Unternehmen trägt die Verantwortung für seine Produkte – wir für die Lebensmittel. Jeder Mensch muss aber für sich entscheiden, wieviel er sich im Leben bewegt – also Kalorien verbraucht – und wieviel er im Gegenzug wieder zu sich nimmt. Dies ist je nach Lebensstil und Alter individuell verschieden. Kinder brauchen etwas anderes als Erwachsene. Entscheidend ist die Dosierung. Darüber entscheidet jeder Erwachsene selbst. Hier gibt es eine Eigenverantwortung.

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    Salz, Zucker und Fette gelten als größte Übel in Fertigprodukten. Warum werden diese nicht reduziert?

    Guillaume-Grabisch: Wir haben Zucker in unseren Cerealien bereits stark reduziert. Ebenso das Salz im Maggi. Dies erfolgt nicht schlagartig, sondern in einem kontinuierlichen Prozess, Schritt für Schritt, da der Konsument eigentlich das Süße und Salzige mag.

    Was heißt das konkret?

    Guillaume-Grabisch: Seit 2014 haben wir den Zuckergehalt in Deutschland um gut sechs Prozent reduziert – und in den nächsten Jahren soll er europaweit um weitere fünf Prozent sinken. Das bedeutet bis 2020 eine Einsparung von 18.000 Tonnen Zucker. Bei dem Schokoriegel Kit Kat haben wir im deutschen Markt durch eine neue Rezeptur 235 Tonnen eingespart – das sind 1500 Badewannen voll.

    Dennoch: Salz und Zucker werden nicht gänzlich aus unseren Produkten verschwinden. Sie sind Geschmacksträger und dienen seit dem Mittelalter der Konservierung – Fleisch wurde mit Salz, Früchte mit Zucker haltbarer gemacht.

    Heute können wir diese Zutaten aber sparsamer einsetzen, weil die Ernährung und der Geschmack besser erforscht sind. Wir brauchen immer eine Balance: Es soll gesund sein und schmecken. Denn niemand isst etwas erneut, was ihm beim ersten Mal nicht geschmeckt hat.

    Verbraucherschützer fordern eine klarere Kennzeichnung von Fett, Salz und Zucker durch eine Nährwert-Ampel. Nestlé hat nun mit weiteren Konzernen ein eigenes Modell vorgelegt, das als beschönigend und inakzeptabel kritisiert wird. Weil sie nach Portionen statt auf 100-Gramm-Basis bewerten wollen. Warum der neue Vorschlag?

    Guillaume-Grabisch: Wir wollen die Informationen über Nährstoffe so einfach wie möglich vermitteln, ohne ihn zu verwirren. Sie müssen zudem europaweit einheitlich sein, von allen Regierungen akzeptiert sein, damit wir unsere Produkte weiter überall verkaufen können. Zudem muss die Regel für alle Produkte von Pizza, Getränke bis zu Schokolade anwendbar sein. 100 Gramm-Angaben sind für Verbraucher zu abstrakt, Portionen sind ihm geläufiger.

    Aber für jeden ist eine Portion unterschiedlich groß – für den einen bedeutet sie eine Handvoll Chips, für den anderen die ganze Packung …

    Guillaume-Grabisch: Unsere Idee ist ein gemeinsam mit Experten entwickelter Vorschlag, den wir nun mit unseren Stakeholdern – Verbänden, Handel und Ministerien – besprechen wollen. In Deutschland ist dies derzeit etwas schwierig, da die neue Regierung noch nicht steht. Wir wollen eine Kennzeichnung aus Verantwortung für den Verbraucher schaffen, die von allen mitgetragen wird.

    Doch dies ist ein Prozess. Ein Termin für die Einführung steht deshalb noch nicht fest. Wir bemühen uns aber auch heute schon um Aufklärung. Wir machen auf allen Produkten die Inhaltsstoffe transparent. Zudem setzen wir stark auf individuelle Beratung im Internet und über unser Ernährungsstudio, wo wir gezielt Fragen beantworten.

    Was halten Sie vom Vorschlag der WHO, die Werbebeschränkungen für Süßwaren fordert?

    Guillaume-Grabisch: Nestlé verfolgt bereits das Prinzip, Kinder unter zwölf Jahren nicht zu bewerben. Wir informieren Eltern über unsere Produkte, die dann selbst entscheiden können, was sie ihren Kindern geben. Aber die Kinder selbst schützen wir durch selbstgesetzte Werbebeschränkungen.

    Woher beziehen Sie ihre Zutaten? Setzen sie auf Regionalität und Bio?

    Guillaume-Grabisch: Dies ist unterschiedlich. Als internationales Unternehmen haben wir unsere Quellen weltweit. Kaffee, Kakao und Schokolade kommen natürlich nicht aus Europa, da sie hier nicht angebaut werden. Die Salami oder der Schinken für die Wagner-Pizza dagegen stammt von einem benachbarten Bauern unserer Fabrik im Saarland. Wir verwenden bereits seit sechs Jahren nur Eier aus Bodenhaltung.

    Beim Fleisch setzen wir auf Tierwohl-Standards. Auch gibt es Bio-Qualitäten. Zudem sind alle Zutaten rückverfolgbar, woher sie stammen. Im Vordergrund steht die Qualität, dort sehen wir unsere größte Verantwortung.

    Wie sieht die Ernährung der Zukunft aus?

    Guillaume-Grabisch: Essen wird wieder mehr wertgeschätzt. Natürliches und Nachhaltiges ist gefragt, Flexitarier und Vegetarier sind im Trend. Dabei ist Essen zunehmend ein persönliches Statement über die Persönlichkeit, den Lebensstil und die Lebensphilosophie. Ich bin, was ich esse.

    Wer sagt, ich bin Veganer oder Vegetarier verrät mehr über sich selbst, als über das, was er isst. Ist das Essen gut für meine Gesundheit und den Planeten? Abendessen wird zum neuen Treffpunkt, während das Mittagessen an Bedeutung verliert. Die Vertriebswege verschmelzen und überlappen sich. So bieten Supermärkte, die bislang für die Versorgung zuständig waren, nun auch Essen „To go“. Ebenso Restaurants oder Kantinen.

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      Wie reagiert Nestlé darauf?

      Guillaume-Grabisch: Unsere Produkte werden in einem ständigen Prozess den Wünschen der Konsumenten angepasst. Wir haben unser Sortiment um vegetarische, glutenfreie, lactosefrei Produkte – wie Milchkaffee auf Sojabasis – erweitert. Einflüsse aus anderen Ländern – wie Asien oder dem Orient– greifen.

      Auch die Portionsgrößen werden vielfältiger. So bieten wir Schinken auch in kleinen Snack-Varianten an. Zudem reicht es heute nicht mehr, nur das Produkt anzubieten, sondern auch den Service drumherum. Wir liefern heute schon Rezepte, deren Zutaten die Verbraucher per Internet bei Rewe bestellen können und nach Hause geliefert bekommen.

      Was halten Sie von Fleischzucht im Reagenzglas oder Pizza aus dem Drucker?

      Guillaume-Grabisch: Noch sind wir technisch nicht soweit, dass wir dies in unsere Produktpalette aufnehmen könnten. Aber auch wir forschen beispielsweise über Insekten als Nahrungsmittel. Doch wir müssen dies auch ganzheitlich prüfen, ob es nicht dem Planeten schadet, wenn diese Tiere zur Ernährung genutzt werden.

      Gibt es einen typisch deutschen Geschmack?

      Guillaume-Grabisch: Deutsche mögen gerne Salziges, Milchiges und Süßes. Also lieber Vollmich- statt Bitterschokolade. Rund 70 Prozent trinken hierzulande Kaffee mit Milch, während die Italiener am liebsten Espresso mögen. Die beliebteste Beilage ist Brot. Wasser wird hier meistens mit Sprudel getrunken, in Frankreich ohne. Jedes Land hat seine Geschmacksrichtung und Spezialitäten. Europaweit gibt es viele Unterschiede.

      Wie wollen Sie die deutsche Nestlé fit für die Zukunft machen?

      Guillaume-Grabisch: Wir haben dazu fünf Spielfelder (Gamechanger) in den Fokus genommen, damit Nestlé auch in 150 Jahren noch existiert: Wir wollen die Reputation der Lebensmittelbranche durch Qualität stärken, Trends fürs Sortiment aufnehmen, unterschiedliche Handelskanäle nutzen, die Digitalisierung vorantreiben und die Bevölkerungsentwicklung berücksichtigen.

      Das Wichtigste: Wir wollen das Unternehmen komplett digital transformieren. Eine Webseite reicht dazu nicht. Dazu gehören alle Konzernbereiche. Als Unternehmen kann man heute nicht mehr alles alleine machen. Man braucht Partnerschaften. So entwickeln wir die moderne Küche mit Samsung oder die digitale Zustellung von Lebensmitteln mit Handelspartnern. Mein Motto lautet: Gewinnen am Markt, während wir uns intern transformieren.

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        Wie wichtig ist Deutschland für den Konzern?

        Guillaume-Grabisch: Deutschland ist weltweit der fünftgrößte Umsatzbringer von Nestlé – nach den USA, China, Frankreich und Brasilien. International haben die Bereiche Wasser, Tiernahrung, Babynahrung und Kaffee konzernweit Priorität. Als einer der weltgrößten Kaffeekonsumenten sind die Deutschen ein bedeutender Absatzmarkt. Eine deutsche Besonderheit ist Maggi mit Sitz in Singen. Dort werden auch alle Rezepte für den weltweiten Markt entwickelt.

        In Biessenhofen produzieren wir Babynahrung, die bis nach China exportiert wird. Die Smarties aus Hamburg gehen bis nach Argentinien. Das Kaffeewerk in Schwerin produziert Dolce Gusto für Europa. Allerdings wird der Geschmack auf die jeweiligen Länder abgestimmt. Beispiel: Nescafé ist eine internationale Marke, doch die Rezeptur an den Geschmack des jeweiligen Landes angepasst. So ist er in der Türkei stärker als in Deutschland. Nicht zu vergessen: Der Gründer Heinrich Nestlé wurde in Frankfurt geboren, bevor er in die Schweiz auswanderte.

        Sind 2018 größere Veränderungen geplant?

        Guillaume-Grabisch: Aktuell nicht. Zuletzt haben wir in Schwerin eine Kaffeefabrik eröffnet, aber zum Jahresende die Fabrik in Mainz geschlossen. Wir werden etwa 160 Mitarbeiter durch Umstrukturierungen abbauen, aber jeden begleiten. Weltweit haben wir 330.000 Mitarbeiter, davon 10.500 in Deutschland. Hier gibt es einen regen internationalen Austausch.

        Nespresso-Kapseln geraten als Müllsünder immer wieder in der Kritik. Planen Sie hier Änderungen?

        Guillaume-Grabisch: Ihr Ruf ist schlechter als die Realität. Die Kapseln halten perfekt das Aroma, sind aus Aluminium und können zu 100 Prozent recycelt werden. Man kann sie in den gelben Sack geben oder in jedem Nespresso-Laden abgeben.

        Nestlé wird auch insbesondere in Entwicklungsländern für seinen Aufkauf von Wasserrechten kritisiert, das danach in Flaschen – für viele Menschen unerschwinglich teuer - verkauft wird. Wie halten Sie es im Umgang mit Wasser?

        Guillaume-Grabisch: Wasser zählt im Konzern zu den wichtigen Geschäftsfeldern, die ausgebaut werden. In Deutschland verkaufen wir unser Wasser, produzieren aber keines. Aber wir achten auf einen sparsamen Umgang mit Wasser und versuchen in unseren Werken die Wasserverwendung immer weiter zu reduzieren.

        Welches sind ihre Grundprinzipien der Führung?

        Guillaume-Grabisch: Werte, Transparenz und Respekt sind meine Leitlinien für gute Zusammenarbeit und Vertrauen. Wichtig finde ich Vielfalt und Integration. Unternehmen, die die Verschiedenheit der Menschen, ihre Religionen, Vorlieben akzeptieren und integrieren, haben die größten Chancen auf Erfolg. Das ist mein Mantra.