Hamburg. Immer mehr Rentner wollen ihr Leben in der dritten Lebensphase aktiv gestalten. Das Abendblatt stellt drei Hamburger vor.
Mit Risikobewertung kennt Frank Harraß sich aus. Der Mann war 45 Jahre lang Banker. Er hat Kredite vermittelt, Sparpläne entworfen und Häuslebauer bei der Baufinanzierung beraten. Immer wieder neue Herausforderungen, immer unter Strom. Vor einem Jahr war Schluss. Harraß ließ die Welt der Zinsberechnungen, Anlageoptionen und Hypothekendarlehen hinter sich – und ging in die passive Phase seiner Altersteilzeitreglung. Heute ist der 61-Jährige wieder fast vollbeschäftigt, nur die Risiken sind andere. Wie hilft man Rollstuhlfahrern über holpriges Kopfsteinpflaster in der Lübecker Altstadt? Wie organisiert man im Freiburger Restaurant einen Tisch, der auch für Menschen mit Handicap geeignet ist? Und wie schafft man es, morgens beim Anziehen von Thrombosestrümpfen zu helfen und pünktlich beim Frühstück zu sein.
Im schlimmsten Fall Krankheit
Rentner gehören schon lange nicht mehr zum alten Eisen. Sie wollen mehr, als Stiefmütterchen im Garten hegen oder ihr Golf-Handicap erhöhen. Es geht darum, das Leben zu gestalten und aktiv zu sein – ohne das Korsett eines festen Jobs. Denn die Freuden des Müßiggangs haben auch eine Kehrseite. Der Tagesrhythmus bricht weg, die Kontakte verengen sich. Es drohen Langeweile, Statusverlust, im schlimmsten Fall Krankheit oder Absturz. Besonders viel beschäftigte Manager haben oftmals sogar Angst vor dem Ruhestand, vor allem wenn er vor der normalen Altersgrenze und unerwartet kommt.
Frank Harraß begleitet Menschen mit Behinderung
„Mir war klar, dass ich mich vorbereiten muss“, sagt auch Frank Harraß. Schon ein Jahr vor dem Abschied aus dem aktiven Berufsleben machte er sich auf die Suche nach neuen Aufgaben. Bei der Freiwilligenbörse Aktivoli stieß er auf den Reiseveranstalter Weitsprung, der Reisen für Menschen mit Behinderungen anbietet. Harraß, braun gebrannt, kräftiger Händedruck, sonore Tonlage, war sofort begeistert. Inzwischen war er schon einige Male als Begleiter unterwegs, ehrenamtlich. „Ich bin aktiv, tue Gutes“, sagt der Hamburger, der zudem als Schatzmeister für die Rheuma-Liga die Bücher führt und Senioren der katholischen Pfarrgemeinde Sankt Sophien im Kirchenbus zur Messe fährt. Er sagt: „Mein Leben ist erfüllender als in der Berufszeit.“
Die Menschen in Deutschland werden immer älter und bleiben dabei gesünder. Nach einer Statistik der Deutschen Rentenversicherung waren 2015 knapp 76 Prozent der Neu-Rentner zwischen 63 und 65 Jahre alt, haben also in der Regel noch mindestens zehn aktive Jahre vor sich. Jeder Neunte in der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen ging im vergangenen Jahr laut Statistischem Bundesamt einer Erwerbstätigkeit nach, sogenannte Silver Worker.
Zahl der Silver Worker steigt
„Arbeit ist für viele Menschen nicht nur Last, sondern auch Lebensqualität“, sagt Jürgen Deller, Professor für Wirtschaftspsychologie und Geschäftsführender Sprecher des Instituts für Management & Organisation an der Leuphana Universität in Lüneburg, der seit Jahren zu dem Übergang von Beruf und Ruhestand forscht. Er beziffert die Zahl der Silver Worker auf etwa 1,5 Millionen. Tendenz steigend. „Die überwiegende Zahl der Ruheständler ist erwerbstätig, weil sie es wollen und nicht weil sie müssen“, sagt Deller.
Noch deutlich stärker ausgeprägt ist in der dritten Lebensphase das freiwillige Engagement. Eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ergab, dass sich fast jede zweite Person im Alter zwischen 58 und 73 Jahren ehrenamtlich engagiert. Zum Vergleich: 2013 waren es noch vier Prozentpunkte weniger.
Rolf Helmerdig unterstützt Unternehmen im Ausland
Rolf Helmerdigs erster Einsatzort war in Sibirien. Im Januar. „In meinem Freundeskreis haben mich viele für verrückt erklärt“, sagt der 73-Jährige und lächelt. Wenige Monate zuvor war der ehemalige Otto-Manager in Altersteilzeit gegangen, parallel hatte er sich beim Senior Expert Service (SES) beworben, der Fach- und Führungskräfte im Ruhestand oder in beruflichen Auszeiten als ehrenamtliche Unterstützer in die Welt schickt. Helmerdig sollte im russischen Tscheljabinsk in einem Einkaufszentrum für eine bessere Flächennutzung sorgen. Der Fachmann für Organisation und Logistik packte seine Koffer und flog los. „Letztlich haben wir das gesamte betriebswirtschaftliche Instrumentarium überarbeitet“, sagt er. Inzwischen hat er 26 Einsätze überwiegend im Ausland gemacht, war in Kasachstan, Pakistan, Kirgistan und auf den Philippinen. „Meine Aufgabe ist es, Veränderungen einzuleiten als Hilfe zur Selbsthilfe“, sagt Helmerdig. Im Schnitt ist er ein- bis zweimal im Jahr unterwegs, in der Regel drei bis vier Wochen.
Der drahtige Rentner gehört zu den mehr als 12.000 Experten aus allen Berufssparten, die bei der SES-Zentrale in Bonn registriert sind und auf Anfrage ihr Fachwissen weltweit weitergeben. Sie arbeiten ehrenamtlich, bekommen aber ein kleines Taschengeld. Dem Experten entstehen keine Kosten für Reise, Unterkunft, Verpflegung. Seit der Gründung als Stiftung der Deutschen Wirtschaft für internationale Zusammenarbeit 1983 hat der SES mehr als 40.000 Einsätze in mehr als 160 Ländern durchgeführt. Helmerdig organisiert das Hamburger Büro mit 700 SES-Experten in der Region, davon 340 aus Hamburg. Das Beispiel hat Schule gemacht: Diverse Unternehmen, Vereine oder auch Hochschulen, darunter etwa „Erfahrung Deutschland“, vermitteln quer durch die Republik Fachkräfte im Ruhestand. Die Nachfrage steigt. Auch Firmen wie Bosch holen ehemalige Mitarbeiter befristet für Projektaufgaben zurück.
Es ist eine Win-win-Situation
„Gesellschaftlich ist die Entwicklung eine Win-win-Situation“, sagt Experte Deller. Für die Betroffenen sei es gut, weil sie aktiv blieben und sich weiter einbringen könnten. Ohne das Engagement würden viele Bereiche, etwa in der Schulaufgabenhilfe oder in der Flüchtlingsarbeit, nicht bearbeitet. „Zudem zahlen die Arbeitgeber der Silver Worker oft auch in die sozialen Sicherungssysteme ein“, sagt Deller. Wie sich die Rente mit 67 auswirkt, ist noch offen. „Es könnte sein, dass Engagement und Arbeitsbereitschaft etwas weniger werden“, so der Wirtschaftspsychologe. Allerdings bleibt es auch weiterhin eine individuelle Entscheidung, früher aus dem Erwerbsleben auszusteigen und dafür auf Geld zu verzichten. „Viele wünschen sich den Freiraum, arrangieren die Arbeit drum herum. Aber nicht mehr umgekehrt.“
Elfriede Pohle-Raju coacht Schüler und Azubis
Elfriede Pohle-Raju ist seit 2006 im Ruhestand. „Ich hatte mich sehr darauf gefreut, endlich ausschlafen zu können und keine Verpflichtungen mehr zu haben“, sagt die gelernte Hauswirtschaftsleiterin, die in den unterschiedlichsten Bereichen auch im Ausland gearbeitet hatte. „Aber nach einem Vierteljahr war die Freude am verordneten Nichtstun vorbei.“ Zunächst jobbte sie weiter in dem Seniorenzentrum, in dem sie zuletzt tätig war, dann meldete sie sich beim SES. 2008 brach die Wandsbekerin zum ersten Mal nach Bolivien auf, um ein Restaurant mit dem Namen Kartoffel „auf Zack zu bringen“. Doch Lage, Führungsstruktur und Mitarbeiter seien so wenig Erfolg versprechend gewesen, dass sie den Betreibern nach vier Wochen riet, das Lokal zu schließen und einen anderen Standort zu suchen. „Das war natürlich hart“, erinnert sie sich. Aber letztlich erfolgreich. Bei einem weiteren Einsatz im Land im Jahr darauf entdeckte sie die Kartoffel wieder: an einer belebten Straße und gut besucht.
Inzwischen ist die 74-Jährige auch in Hamburg im Einsatz. Seit fünf Jahren arbeitet sie an einer Stadtteilschule in Jenfeld als Förderlehrerin in Deutsch, Mathe, Englisch. Außerdem coacht sie im Rahmen der SES-Initiative Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen, kurz VerA, ehrenamtlich Lehrlinge. Immer freitags kommt die angehende Konditorin Lisa Maaßen, um mit Elfriede Pohle-Raju für die Gesellenprüfung zu pauken. „Was sind die Bestandteile von Kuvertüre“, fragt die erfahrene Hauswirtschaftsleiterin. Lisa überlegt kurz: „Kakaopulver, Kakaobutter und Zucker.“ Für die 20-Jährige ist das Prinzip der 1:1-Betreuung perfekt. „Ich habe Schwierigkeiten, allein zu Hause zu lernen“, sagt sie. Für Elfriede Pohle-Raju ist es eine „Bereicherung“. „Ich könnte bequemer leben. Aber es geht mir besser, weil ich so viel bewirken kann.“
Sinnstiftende Aufgabe
Auch Frank Harraß vermisst kaum etwas aus seinem Berufsleben. „Reisen war immer meine Leidenschaft“, sagt er. Als Begleiter für Menschen mit Behinderungen verbindet er das mit einer sinnstiftenden Aufgabe. „Ich sehe das Leben mit einer anderen Brille“, sagt der aktive Neu-Rentner. Der nächste Trip geht an die Nordsee. Irgendwann würde er auch gern die Australien-Rundreise begleiten oder die Biker-Tour auf der Route 66 durch die USA. Dass man sich dann auch auf ganz unverhoffte Fragen einstellen muss, hat er schon bei der ersten Fahrt festgestellt. Eine Teilnehmerin wünschte sich auf einer Schwarzwald-Reise zusätzlich einen Besuch in der Klinik im Glottertal, in der die TV-Serie „Schwarzwaldklinik“ gedreht wurde. Harraß: „Das haben wir auch hinbekommen.“