Hamburg. Deutschlands ältestes Presswerk Pallas in Diepholz profitiert kräftig vom Vinylboom. Eine Geschichte über die Liebe zur Musik.
Holger Neumann (56) ist ein sympathischer Dickkopf. Der Chef der niedersächsischen Firma Pallas strahlt die Gelassenheit eines Mannes aus, der schon viele Trends hat kommen und gehen sehen in der schnelllebigen Musikbranche. Er hat sie alle überlebt, hier in seiner Heimat Diepholz, wo das Land so flach ist wie das Produkt, das Pallas seit fast 70 Jahren herstellt.
Kurz vor der Jahrtausendwende, als die CD das Maß aller Dinge war, da verschrotteten die Konkurrenten gleich reihenweise ihre alten Schallplattenpressen. Braucht eh’ keiner mehr, sagten alle. Die Zukunft ist digital. Neumann und sein Vater ließen ihre Maschinen hingegen in einer unbenutzten Fabrikhalle stehen, hielten sich mit CDs und Vinyl-Kleinstauflagen über Wasser und warteten ab. Kann auch wieder besser werden, dachten sie sich.
Es zischt wie vor 40 Jahren
Heute zischt und rattert es bei Pallas wie vor 40 Jahren. Der beißende Geruch von heißem Polyvinylchlorid liegt in der Luft, während die betagten Maschinen vom Typ Toulex Alpha die schwarze, zähe Masse zusammenpressen und binnen 30 Sekunden in ein Stück Musikkultur verwandeln. Neil Youngs „After The Gold Rush“ wird gerade nachgefertigt, das dritte Album des knorrigen Kanadiers aus dem Jahr 1970. Kein schlechter Soundtrack für die Lage der Musikbranche, die nach den goldenen Jahren der Vinyl- und CD-Ära versucht, wieder auf die Beine zu kommen.
„Schallplatten sind einfach das schönste Medium für Musik, das es gibt“, sagt Neumann selbstbewusst. „Und sie klingen nun mal angenehmer als CDs oder MP3-Dateien.“ In dritter Generation führt er das wohl älteste, noch aktive Schallplattenwerk Deutschlands, das 1948 von Neumanns Großvater gegründet wurde. Der heutige Chef ist in der Fabrik aufgewachsen, hat schon als Schüler in der Verpackung gearbeitet und später alle Stationen durchlaufen. „Hier steckt mein Herzblut drin“, sagt er.
Dank des seit Jahren anhaltenden Vinyl-Revivals haben die Niedersachsen derzeit prall gefüllte Auftragsbücher. Jeder Pop- oder Rockmusiker, der etwas auf sich hält, veröffentlicht seine Alben mittlerweile wieder auf Schallplatte. Dazu kommen die Majorlabels, die viele bereits vor Jahrzehnten veröffentlichten LPs von Abba über Dire Straits bis Led Zeppelin nachpressen lassen. Selbst Jugendliche, die mit Streamingdiensten wie Spotify aufgewachsen sind, greifen zu den schwarzen Scheiben. Die einen begeistern sich für die üppigen Cover, die anderen sind im Strom von Millionen verfügbarer Titel untergegangen und wollen endlich mal wieder ein Stück Musik in fester Form in der Hand haben.
20 Euro pro Platte
Um gut 40 Prozent auf 70 Millionen Euro sind die bundesweiten Erlöse mit LPs im vergangenen Jahr gestiegen. Angesichts eines Gesamtumsatzes von fast einer Milliarde Euro ist das zwar weiter eine Nische, aber bei einem Durchschnittspreis von 20 Euro pro Platte eine durchaus lukrative.
Acht bis elf Wochen Wartezeit müssen Kunden derzeit in Kauf nehmen, wenn sie eine Pressung bei Pallas in Auftrag geben. „Wir fertigen in drei Schichten rund um die Uhr“, sagt Neumann. Etwa fünf Millionen Schallplatten presst das Unternehmen im Jahr und ist damit die deutsche Nummer zwei hinter Optimal in Mecklenburg-Vorpommern, das zur Hamburger Edel-Gruppe gehört. Nicht nur Konzerne wie Universal lassen in Diepholz pressen, sondern auch kleine, aber feine Labels wie Speaker’s Corner, die Soul, Jazz und Klassik auf Grundlage analoger Mastertapes wiederveröffentlichen. „Angesichts der gewaltigen Nachfrage könnten wir auch leicht die doppelte Menge absetzen. Wir bauen die Kapazitäten aber nicht weiter aus, weil dann die Qualität leiden würde.“
Die Produktion einer Schallplatte funktioniert heute praktisch noch so wie vor dreißig oder vierzig Jahren. Das Verfahren ist aufwendig, dreckig, personalintensiv und ausgesprochen fehleranfällig. Kleinste Ungenauigkeiten können zu Knacksern, Schlieren oder Wellen führen, die insbesondere deutsche Musikfans prompt reklamieren. „Früher waren Hintergrundrauschen oder ein leichtes Knistern auf einer Schallplatte ganz normal“, sagt Neumann. „Heute erwarten die Kunden hingegen, dass sich eine Schallplatte genauso perfekt anhört wie eine CD. Das ist aber selbst bei höchsten Qualitätsstandards nicht möglich.“
Begehrte Fachleute
Die Geburt einer LP beginnt nicht bei Pallas selbst, sondern in einem der wenigen, weltweit verbliebenen Schneidestudios. Dort wird die im Studio aufgenommene Musik mithilfe eines beheizten Stichels in den Lack einer beschichteten Folie geschnitten. Ingenieure, die noch die hohe Kunst des Vinyl-Masterings beherrschen, sind heute begehrte Fachleute und werden in der Szene der Audiophilen fast wie Kultfiguren verehrt. Immerhin ist die Arbeit von US-Experten wie Bernie Grundman oder Kevin Gray mitverantwortlich dafür, ob eine Platte einfach nur durchschnittlich klingt oder so, als würden die Musiker mitten im Wohnzimmer eines Hörers sitzen.
Bei Pallas landen die fertigen Lackfolien zunächst in der Galvanik, wo die Matrizen für die Plattenpressen hergestellt werden. Feucht-heiß wie in den Tropen ist es hier, aus brodelnden Tanks steigen scharfe, chemische Dämpfe auf. Mitarbeiter in T-Shirts und Schürzen beugen sich über die Becken, nehmen glänzende Scheiben heraus und brausen sie mit Wasser ab. Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Küche und Chemielabor.
Scherzhaft ließe sich die Galvanik auch als die Familienabteilung eines Presswerks bezeichnen, denn hier ist viel von Vätern, Müttern und Söhnen die Rede. Der „Vater“ ist im Platten-Jargon das erste Negativ, das von der Lackfolie gezogen wird. Es entsteht, indem die mit Silber beschichtete Folie in ein Nickelbad getaucht wird. Legt man hier Strom an, dann bildet sich an der Folie eine Nickelschicht, die später abgezogen werden kann. In einem weiteren galvanischen Prozess entstehen mehrere Positive, die sogenannten „Mütter“, die dann als Vorlagen für die eigentlichen Pressmatrizen („Söhne“) dienen.
Udo Karduck ist bei Pallas dafür verantwortlich, all jene Fehler zu korrigieren, die bei diesem Hin- und Herkopieren auftreten. Sein Reich ist ein geschlossener Raum in der Galvanik, tapeziert mit Picture-Discs von Madonna oder der Comicfigur Werner. Der hagere Mann mit Pferdeschwanz ist der sogenannte Mutterstecher, der mithilfe eines Stichels winzige Unreinheiten in den Plattenrillen beseitigt. Eine heikle Aufgabe angesichts der Tatsache, dass eine Rille gerade mal zwei Zehntel Millimeter breit ist und nur unter dem Mikroskop genau betrachtet werden kann. „Einmal abrutschen und die Mutter ist hinüber“, sagt Karduck.
Rock ist angenehmer zu kontrollieren als Techno
Um die Fehler zu finden, spielt Karduck die Mutter auf einem umgebauten Plattenspieler ab und markiert knisternde oder knackende Stellen mit einem Wachsstift. Heute morgen hat er eine Platte des Jazzpianisten Keith Jarrett bearbeitet, jetzt ist es „irgendwas mit Pop“. „Ganz ehrlich, die Musik nehme ich gar nicht mehr wahr. Ich höre nur noch die Fehler“, sagt der 49-Jährige. Trotzdem gibt es Genres, die er lieber auf dem Plattenteller liegen hat als andere. „Rock, Folk oder Klassik sind in Ordnung, Techno nervt eher wegen der lauten Bässe.“
Die eigentliche Vinylpressung läuft bei Pallas in einer Halle auf der anderen Straßenseite, die nach einem Brand in der CD-Fertigung des Unternehmens 2013 neu errichtet wurde. Hier rattern und zischen die alten Toolex-Alpha-Pressen so lautstark vor sich hin, dass audiophile Vinylfans mit ihren empfindlichen Ohren wohl Reißaus nehmen würden. Die jahrzehntealten Geräte pressen nicht nur die Platten aus dem erhitzten Kunststoffgranulat, sie schneiden auch überstehende Ränder ab und tüten die LPs automatisch ein.
180 und 140 Gramm schwere Scheiben werden bei Pallas gepresst, je nach Kundenwunsch. Ob mehr Gewicht nun auch besseren Klang bedeutet, darüber tobt in der Vinylszene schon seit Jahren ein Glaubenskrieg. „Mit 180 Gramm schwerem Vinyl lassen sich Höhen und Tiefen in einer Aufnahme besser wiedergeben“, meint Pallas-Chef Neumann. Das sei unter anderem bei Klassikaufnahmen mit hoher Dynamik wichtig. Manche Experten sehen im Trend zu „180 gram heavy weight vinyl“, mit dem Labels heute gern auf ihren Covern werben, allerdings eher eine Marketingmasche, um Besitzer alter LPs dazu zu bewegen, sich ihre Schätze in neuer, angeblich besserer Qualität noch mal anzuschaffen.
Sondereditionen gepresst
Eine andere Modeerscheinung des aktuellen Vinylbooms sind farbige Pressungen, die von den Plattenfirmen gern als Limited Editions auf den Markt geworfen werden in der Hoffnung, dass sich diese zu besonders hohen Preisen absetzen lassen. Auch solche Sondereditionen werden bei Pallas gepresst. Transparent, mehrfarbig, alles ist machbar. Dazu werden Farbpartikel ins eigentlich milchige Polyvinylchlorid gemischt. Allerdings leidet bei mehrfarbigem Vinyl und bei Picture-Discs die Klangqualität, weil mehrere Materialien gleichzeitig verwendet werden.
Eine echte Herausforderung ist für die Pallas-Techniker die Arbeit mit den betagten Schallplattenpressen. Aufgrund des Alters geben diese mitten in der Produktion gerne mal den Geist auf. Gerade muss eine Maschine repariert werden, ein Steuerchip hat sich verabschiedet. Jetzt müssen die Techniker sehen, ob sie aus einer anderen Presse noch ein altes Ersatzteil ausbauen können. „Improvisation ist alles“, sagt der Pallas-Chef.
Die neuen Pressen von Pallas wollten sogar Chinesen kaufen
Allerdings ist Neumann seit einigen Jahren nicht mehr ausschließlich auf die alten Pressen angewiesen. In grauen Sicherheitskäfigen stehen fünf Geräte, um die der Chef von vielen Wettwerbern weltweit beneidet wird: neue Schallplattenpressen, die Neumann nach dem Vorbild der alten hat konstruieren lassen. Ein Unternehmen aus dem Nachbarort hat sie für Pallas produziert. „Ihr könnt Maschinen bauen, wir haben das Know-how“, sagte der Pallas-Chef zu seinen Partnern. „Lasst uns das alles in einen Trichter schmeißen und schauen, ob unten was Gutes rauskommt.“ Seit 2013 sind die neuen Geräte im Einsatz und arbeiten ebenso präzise wie die alten. „Damit habe ich für die nächsten zehn bis 15 Jahre kein Ersatzteilproblem mehr“, meint Neumann zufrieden.
Was in anderen Branchen einen ganz normalen Vorgang darstellt, ist für die Schallplatten-Produzenten eine kleine Sensation: Fehlende Maschinen sind die größte Bremse für den weltweiten Vinylboom. Viele Unternehmen sind daher dabei, neue Pressen zu entwickeln oder alte, längst ausrangierte wieder in Betrieb zu nehmen. Doch aufgrund des kaum noch vorhandenen Wissens scheitern diese Versuche oft kläglich. So verkündete der Polygram-Nachfolger EDC in Hannover vor zwei Jahren noch stolz, jetzt auch wieder in die Vinylfertigung einzusteigen. Die Produktion funktionierte aber nicht richtig. Mittlerweile ist EDC pleite.
Angesichts des akuten Mangels an Schallplattenpressen könnte Neumann mit seinen neuen Maschinen gutes Geld verdienen. Sogar Investoren aus China waren schon in Diepholz zu Gast und wollten den Pallas-Chef davon überzeugen, für sie ein neues Werk in Fernost aufzubauen. Doch Neumann winkte ab: „Ich ziehe mir doch nicht meine eigene Konkurrenz heran.“ Da ist er dann ganz wieder der Diepholzer Dickschädel.