Hamburg. Mehr Linien, mehr Ziele, mehr Passagiere – der ZOB kann das kaum noch bewältigen. Viel Gewinn macht das Unternehmen trotzdem nicht.

Es ist kurz vor 10 Uhr am Vormittag und an der Bustasche 5 des Hamburger ZOB stehen mehr als ein Dutzend Fahrgäste mit voluminösem Gepäck. Erst die Koffer im Bauch des weißen Busses verstauen, dann den Sitzplatz einnehmen. Wie jeden Tag startet die Fernfahrt der Firma Bozur um 10 Uhr. Das Ziel heißt Bijelo Polje und ist ein 16.000-Einwohner-Städtchen im Nordosten Montenegros. In der näheren Umgebung soll es bemerkenswerte serbisch-orthodoxe Kirchen geben. Wer die 120 Euro teure, mehr als 1800 Kilometer lange und 34 Stunden dauernde Fahrt bis zur Endhaltestelle auf sich nimmt, hat ziemlich sicher ein anderes Ziel. In Bijelo Polje kreuzen sich wichtige Straßen und Bahnlinien. Von dort kommt man schnell weiter auf dem Balkan.

Die anderen 15 Abfahrtsplätze des Zentralen Omnibusbahnhofs (ZOB) an der Adenauerallee werden um diese Vormittagsstunde fast im 15-Minuten-Takt neu belegt. Die Passagiere sind weniger schwer bepackt und die Zielorte auf den elektronischen Anzeigetafeln weniger exotisch: Flensburg, Kiel, Dresden, Karlsruhe über Frankfurt, Rostock, Greifswald, Tübingen, Leipzig – und immer wieder Berlin.

Es ist eine der Tageszeiten, über die ZOB-Geschäftsführer Andreas Ernst sagt: „Wir geraten fast an die Kapazitätsgrenze.“ Und es ist eine der Tageszeiten, in denen die explosionsartigen Zuwächse im Fernbusmarkt ablesbar sind am Menschengewimmel auf dem ZOB. Nutzten 2013, im ersten Jahr nach der Liberalisierung, bundesweit etwa acht Millionen Fahrgäste die neuen Fernverbindungen, waren es im Jahr darauf schon doppelt so viele. 2015 kamen noch einmal vier Millionen hinzu.

Für dieses Jahr erwartet der Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer erneut ein Plus in dieser Größenordnung auf dann 24 bis 25 Millionen Passagiere. In Fernzügen der Bahn saßen im vergangenen Jahr etwa 131 Millionen Fahrgäste. Die Entwicklung ist auch an der Zahl der Abfahrten von Linienfernbussen am ZOB abzulesen: Im vergangenen Jahr waren es 53.100, zwei Jahre zuvor erst 15.900. „Mittlerweile gibt es Zeiten, für die wir Anfragen der Unternehmen nach einer weiteren Abfahrt ablehnen müssen“, sagt Geschäftsführer Ernst.

Marktführer Flixbus bietet 44 Linien und 180 Zielorte an

Welche und wie viele Ziele die Fernbusse vom Hamburger ZOB aus ansteuern, vermag niemand ganz genau zu sagen, weil das nirgendwo zentral erfasst wird. Es gibt nur grobe Schätzungen. Im Herbst 2014 war noch von „mehr als 100 Zielen“ die Rede. Heute bietet allein der Marktführer Flixbus nach eigenen Angaben von Hamburg aus 44 Linien und 180 Zielorte an. Die meisten davon sind Zwischenhalte auf einer langen Verbindung. So lässt der Flixbus von Hamburg nach Saarbrücken unterwegs knapp ein Dutzend Mal Passagiere aus- und zusteigen, unter anderem in Bad Arolsen und Frankenberg. Mit einmal Umsteigen seien mit den grünen Bussen der Firma sogar 426 Ziele in Europa erreichbar, so Flixbus. Das Unternehmen beschäftigt auf dem Omnibusbahnhof inzwischen um die 20 Mitarbeiter. Sie verkaufen an bis zu fünf Schaltern Tickets und helfen den Fahrgästen, zügig einzusteigen. Nur ein rollender Bus verdient Geld.

Berlinlinienbus, ein weiterer großer Anbieter, steuert von Hamburg aus nach eigenen Angaben zwölf nationale und vier internationale Ziele an. Mit Umstiegen erhöhe sich die Zahl der Verbindungen aber auf mehrere Hundert. Erst Mitte dieser Woche sind einige Ziele neu hinzu gekommen. Das Unternehmen hat eine Verbindung zwischen Rostock und Bremen mit je drei Hin- und Rückfahrten täglich eingerichtet, die allesamt über Hamburg fahren. Zudem wurde die Linie nach Frankfurt bis nach Freiburg verlängert. Ins Ausland fahren nach einer sehr vorsichtigen Schätzung des ZOB etwa 30 Buslinien. Aber das ist nur die Zahl der Endhaltepunkte. Die tatsächliche Zahl der Auslandsziele dürfte um ein Vielfaches höher sein.

„Die Netze sind weitgehend gesponnen“, sagt Ernst. Nach den ersten Jahren, in denen eine Vielzahl von Anbietern mit neuen Verbindungen auf den Markt drängte und mit Niedrigpreisen um Fahrgäste warb, läuft jetzt eine Phase der Konsolidierung. Mehrere Anbieter wie etwa der ADAC haben sich zurückgezogen. Flixbus ist seit der Fusion mit MeinFernbus Anfang 2015 mit etwa 70 Prozent der Fahrten der unangefochten größte Anbieter in Hamburg. Mittlerweile überprüfen und straffen die Busfirmen ihre Linien. Der Fahrplan ändert sich fast wöchentlich. Auch deshalb ist kaum zu sagen, wie viele Ziele die Busse von Hamburg aus ansteuern.

Am häufigsten jedenfalls fahren sie nach Berlin (siehe unten). Es ist eine hart umkämpfte Strecke. Trotz der wochentags annähernd 50 Verbindungen täglich und der – an der Entfernung gemessen – selbst für Fernbusse vergleichsweise niedrigen Ticketpreise hat Berlinlinienbus den Fahrplan in dieser Woche noch einmal verdichtet und fährt statt 14- jetzt 16-mal pro Tag in die Hauptstadt. „Berlinlinienbus.de ist mit der Auslastung so zufrieden, dass der Takt erneut erhöht werden konnte“, erklärt das Unternehmen.

Die Firma ZOB GmbH profitiert nicht von der rasanten Entwicklung

Mehr Ziele zu niedrigen Preisen für die Fahrgäste, mehr Passagiere in den Bussen und mehr Umsatz für die Anbieter. Die Firma ZOB Hamburg GmbH dagegen profitiert bislang kaum von der rasanten Entwicklung. Kurioserweise sind im vergangenen Jahr Umsatz (etwa 1,3 Millionen Euro) und Gewinn (um die 65.000 Euro) sogar gesunken. Auf einem Parkplatz, der zuvor reichlich Einnahmen brachte, werden jetzt Elektrobusse aufgeladen.

Vor allem aber legt es der ZOB gar nicht auf Gewinnmaximierung an. Das Unternehmen, das zu knapp 70 Prozent der städtischen Hamburger Hochbahn AG (HHA) gehört, soll bislang in erster Linie sicherstellen, dass Fern- und Reisebusse nicht an vielen unterschiedlichen Punkten in der Stadt Fahrgäste aufnehmen und absetzen. Das wäre durchaus möglich, denn die Busunternehmen sind nicht gezwungen, den ZOB zu nutzen. Sie können eine Linienkonzession für jede beliebige Haltestelle als Start und Endpunkt beantragen. Wenn die Behörden keine guten Gründe dagegen vorbringen, müsste das genehmigt werden.

Um die Anbieter nicht zu vergraulen, und wohl auch, weil eine Reihe alteingesessener Reise- und Busfirmen zum Kreis der zehn Gesellschafter gehören, ist der Kostenbeitrag für eine Abfahrt minimal. Etwas über acht Euro sind für die ersten 20 Minuten Standzeit in einer der Bustaschen fällig. Die meisten Unternehmen zahlen weniger, denn schon ab 30 Abfahrten pro Monat kostet eine davon nur noch 4,40 Euro. Für längere Standzeiten wird mehr berechnet, aber nicht sehr viel. Manche Fahrer zahlen lieber einen niedrigen zweistelligen Eurobetrag für eine zweistündige Pause, als lange nach einem Stellplatz in der Stadt zu suchen. Ihr Bus blockiert dann aber zwei Stunden lang eine der Taschen.

Die Buslinien von Hamburg nach Berlin könnten künftig in Wandsbek starten

Andreas Ernst, der sich bei der Hochbahn mit strategischen Fragen beschäftigt und in Nebenfunktion seit Herbst 2015 auch Geschäftsführer des Zehn-Mann-Betriebs ZOB Hamburg GmbH ist, will jetzt einerseits die Kapazitäten des Busbahnhofs besser nutzen, andererseits die Einnahmen verbessern. „Die Preise sind im Vergleich zu anderen Städten günstig, zugleich kommt der 2003 eröffnete ZOB in die Jahre, Reparaturen werden fällig“, sagt er. Es gibt Überlegungen, die Mieten der Gastronomie und für die Schalter der Anbieter in den ZOB-Gebäuden stärker an den Umsatz zu koppeln. Die Nutzungsentgelte für die Busse könnten so verändert werden, dass lange Standzeiten künftig deutlich teurer sind. Das wäre ein Anreiz für die Firmen, den Busbahnhof schneller wieder zu verlassen, und würde insgesamt mehr Abfahrten ermöglichen.

Es gibt zwar noch einige andere Ideen, wie sich der begrenzte Raum intensiver nutzen lässt, doch dass sie ausreichen, den wachsenden Bedarf zu bewältigen, ist unwahrscheinlich. Daher gibt es neue Überlegungen. „Ich denke, wir werden kleine Ableger des ZOB in der Stadt haben müssen“, sagt Ernst. Das Unternehmen sei bereits im Gespräch mit den Fernbus-Anbietern über andere Standorte mit ebenso guter Nahverkehrsanbindung wie am Hauptbahnhof. Gut möglich, dass die Berlin-Busse eines Tages von und nach Wandsbek statt St. Georg fahren. Auch um die Veddel und den neuen Fernbahnhof Altona ranken sich jetzt Gedankenspiele.

Einstweilen aber ist der ZOB noch das, was sein Name besagt: die Zentrale. Dort startet jeden Sonnabend um 15 Uhr eine Linienbusfahrt, die Passagiere vor noch größere Herausforderungen stellt als die 34 Stunden bis Bijelo Polje. Das Ziel heißt Mineralnye Wody und liegt im Nordkaukasus unweit der russisch-georgischen Grenze. Fahrplanmäßig erreichen die Passagiere mit dem 155-Euro-Ticket die Haltestelle an der Sovjetskaja-Straße nach mehr als 3000 Kilometern am Montag um 22 Uhr. Das klingt allerdings etwas langwieriger, als es tatsächlich ist. Wegen der Zeitverschiebung sind es nur 53 Stunden vom Hamburger ZOB nach Mineralnye Wody.