Lübeck. Schleswig-Holsteins größter Industriebetrieb spürt die Krisen in Russland und China. Ein neues Werk soll Kosten senken.
Stefan Dräger, dunkler Anzug, rote Krawatte, tritt im Konferenzraum an das bodentiefe Fenster. Der Blick schweift über das Firmengelände mit seinen historischen Backsteingebäuden und Hallen groß wie eine Stadt in der Stadt. Im Hintergrund ragen die Türme Lübecks in den hellblauen Himmel. Doch Dräger schaut nicht in die Ferne, er blickt auf den Boden. „Da unten“, zeigt er mit dem Finger auf den Asphalt sieben Stockwerke tiefer, „parkt mein Fahrrad“. Der Erbe des größten Industriearbeitgebers Schleswig-Holsteins, mit einem Vermögen, das die Milliardenmarke knackt, radelt zur Arbeit. „Manchmal treffe ich dann den Bürgermeister und wir wechseln ein paar Worte“, sagt er. Und Dräger hat viel zu erzählen, schließlich plant das Medizintechnik-Unternehmen eine Großinvestition.
Unkompliziert, bodenständig, humorvoll, so wirkt Dräger im Gespräch. Allerdings soll der Elektroingenieur, der nach eigenen Worten bereits im zarten Alter von drei Jahren Telefone auseinandergebaut hat, mit seiner Akribie auch schon mal für verdrehte Augen bei seinen Angestellten sorgen. Vielleicht befördert diese Mischung aus Umgänglichkeit und Perfektionismus aber auch die Erfolge des Unternehmers. Und die hat er mit seinem Anbieter für Medizin- und Sicherheitstechnik unbestritten. Weltweit beschäftigt Dräger 13.000 Mitarbeiter, an verschiedenen Standorten in Lübeck sind es 5000 Fachkräfte. Sowohl im laufenden als auch im nächsten Jahr rechnet der Vorstandschef mit einer „wachsenden Mitarbeiterzahl“. Er sucht Ingenieure, Controller und IT-Spezialisten.
Nicht nur das: In seiner Heimat an der Trave setzt das Unternehmen jetzt ein Zeichen, in Form neuer Gebäude. Dräger investiert 70 Millionen Euro, auch als Signal für den Standort Deutschland. Ein neues Werk mit kürzeren Wegen abseits der alten Backsteinromantik soll die Produktionskosten senken. Und eine moderne Zukunftsfabrik soll den Ingenieuren helfen, immer neue Innovationen auf den Markt zu bringen. „Die Ausgaben für die Entwicklung steigen überproportional zum Umsatz“, sagt Dräger zur Wichtigkeit von technischen Weiterentwicklungen. Derzeit investiere der Konzern knapp zehn Prozent des Umsatzes in die Entwicklung.
Mit Erfindungen sind die Lübecker schließlich reich geworden – und bekannt in der ganzen Welt. An der Wand des Konferenzraumes hängt ein Bild in knalligen Farben. Das Motiv aus dem amerikanischen Superman-Comic zeigt eine Szene aus einem eingestürzten Kohlenschacht, die Bergleute erwarten dringend Hilfe. „There comes the Draegerman“, rufen die verzweifelten Männer und ihre Gesichter hellen sich auf. Denn „Draegerman“ bedeutet Überleben für die Arbeiter, das Wort steht im Amerikanischen für die Grubenretter. Ohne Technologie von Dräger hätte es diesen Berufsstand niemals gegeben, nur die Atemschutzgeräte „made in Lübeck“ ermöglichten es den Helfern schon Anfang des vergangenen Jahrhunderts, in die Schächte zu gelangen, ohne selber zu ersticken. Heute wird die weiterentwickelte Technologie vor allem nach China geliefert. „Der Energiehunger in China ist riesig, der Bergbau wird hier immer weiter ausgebaut“, sagt Dräger.
Auch der Spezialisierung von Ärzten zu Anästhesisten hat Dräger vor mehr als hundert Jahren den Weg bereitet. 1907 entwickelte Heinrich Dräger, der Ururgroßvater des heutigen Firmenchefs, einen zuverlässigen Tröpfchendosierer für Chloroform. „Ohne dieses Gerät wirkte die Narkose manchmal für immer“, sagt Dräger schmunzelnd. Nur durch die millilitergenaue Gabe der Wirkstoffe konnten Ärzte zu Wächtern über Schmerz und Schlaf werden.
Neueren Datums ist die Innovation der Elektrischen Impedanztomografie. Dieses Gerät macht in Krankenhäusern die Funktion des Beatmungsgerätes sichtbar. Es zeigt, ob die Lunge gleichmäßig mit Luft versorgt wird und kann bei Problemen eine Anpassung der Beatmung auslösen. „Das Gerät kann direkt neben dem Bett auf der Intensivstation aufgebaut werden und macht den belastenden Transport ins MRT unnötig“, sagt Dräger. So einleuchtend der Nutzen solcher Erfindungen in der Medizintechnik ist, eingesetzt werden sie nur dort, wo das Gesundheitswesen auch das Geld dafür ausgibt. „Die Märkte sind sehr konservativ“, umschreibt Dräger die Herausforderung, gute Ideen in geschäftlichen Erfolg umzusetzen. Auch in Deutschland ist es längst keine Selbstverständlichkeit mehr, dass sich Kliniken immer die neueste Technologie leisten: Dräger erzielt knapp 90 Prozent seiner Erlöse im Ausland.
Zwar hat der Anbieter kürzlich eine Gewinnwarnung herausgegeben, die Geschäfte sind in wichtigen Märkten wie Russland und China ins Stocken geraten, Ertrag und Rendite stehen unter Druck. Aber die längerfristige Entwicklung bei Dräger ist positiv. Der Umsatz stieg in den vergangenen fünf Jahren von knapp zwei Milliarden Euro auf 2,4 Milliarden Euro. 2014 legten die Erlöse währungsbereinigt um vier Prozent zu.
Wie sieht die Zukunft der Lübecker aus? Dräger sieht sich in seiner Rolle als Chef des börsennotierten Unternehmens, das aber in der Mehrheit im Familienbesitz ist, wie „ein Fahrer eines Geldtransporters“. Er müsse dafür sorgen, das Unternehmen, das ihm anvertraut ist, „ohne Unfall und ohne Überfall, ohne feindliche Übernahme“ ans Ziel zu bringen. Und eventuell das Geld noch zu mehren: „für die, die nach mir kommen“. Der 52-Jährige ist Vater von drei Kindern, im Alter von 15, 18 und 21 Jahren. Ob der Nachwuchs Interesse an der „Technik für das Leben“ hat, wie Dräger für seine Produkte wirbt, will der Patriarch bewusst nicht thematisieren bei dem Gespräch mit dem Abendblatt. „Die Kinder sollen in Freiheit aufwachsen und ihre Neigungen entdecken“, sagt Dräger, der seine eigene Kindheit unbelastet vom Erbe seiner Familie erlebt hat. „Bis zu meiner Einschulung hat mir mein Vater nicht gesagt, was er beruflich macht.“