Hamburg. Torten, Kuchen, Baisers – Backen ist das neue Kochen. Neben vielen Traditionsgeschäften gibt es auch immer mehr Quereinsteiger.
Die meisten Hamburger kennen Anke Harnack als „Stimme der Hochbahn“. Sie ist die Frau, die in der U-Bahn die nächste Haltestelle ansagt. Im Radio ist sie regelmäßig in der Sendung „Der Morgen auf 90,3“ zu hören, und Zuschauer des 18-Uhr-„Hamburg Journals“ im NDR-Fernsehen kennen auch ihr Gesicht. Weniger bekannt ist, dass sie seit vergangenem Herbst auch Gebäck verkauft: Baisers. Die Moderatorin, Journalistin und studierte Wirtschaftsjuristin profitiert dabei vom neuen Trend in deutschen Küchen: Kekse backen, Kuchen anrühren, Torten aufwendig stylen.
Hergestellt werden Harnacks süße Küsse – das bedeutet das französische Wort Baiser – von Konditormeisterin Rose-Marie Patzer-Weber. Deren Ladengeschäft in der Hellbrookstraße in Barmbek kann man sich als eine Art Paradies für Liebhaber des Naschkrams aus geschlagenem Eiweiß und viel, viel Zucker vorstellen. Baiser in Weiß, Rosa, Hellblau, Lindgrün, in vielerlei Formen oder am Stiel – und in mehr als 100 Geschmacksrichtungen, zu denen auch Pfeffer, Tomate, Senf und Zwiebel zählen.
Derzeit experimentiert die 77 Jahre alte Konditormeisterin mit Gerstengras. „Eine Bekannte hat mich auf diese Idee gebracht. Es soll sehr gesund sein.“ Also hat sich Rose-Marie Patzer-Weber pulverisierte Gerstenblätter im Reformhaus besorgt und in den Eischnee gemischt. Mit dem Ergebnis ist sie sehr zufrieden. Die Konditorin und die Moderatorin, die ihre Enkelin sein könnte, lernten sich vor fünf Jahren kennen, als Anke Harnack einen Fernsehbeitrag über die Konditorei Weber drehte. 2014 wurde aus der Bekanntschaft eine Geschäftsbeziehung, die Moderatorin baute den Onlinevertrieb der Barmbeker Baisers auf. Seit dem 1. Oktober 2014 kann man sie auch im Internet bestellen.
Anke Harnack konzentriert sich auf Kunden außerhalb Hamburgs, denen der Weg in das Geschäft zu weit ist. Zwei Drittel der Bestellungen, schätzt sie, beziehen sich auf die Standardprodukte, das restliche Drittel sind Sonderbestellungen nach den Wünschen des Kunden. Etwa ein Feuer-und-Flamme-Baiser für Hamburgs Olympiawerber.
Ein Mecklenburger Hotelier legt seinen Gästen Gute-Nacht-Küsschen aus Barmbeker Baiser auf den Nachttisch. „Die Leute wollen etwas Individuelles, etwas Handgemachtes“, ist Anke Harnack überzeugt. Und die Kunden sind auch bereit, deutlich mehr zu bezahlen, als im Supermarkt. Knapp fünf Euro kostet die 100-Gramm-Tüte Baiser im Internet. „Es ist eben alles Handarbeit, und wir machen etwas, was andere nicht so gut können.“
Und weil sich der Onlinevertrieb auf runde Baisers konzentriert, die nur ein wenig größer sind als eine Zwei-Euro-Münze, erreicht er auch die wachsende Zielgruppe von Kunden, die mit dem Gebäck mehr vorhaben, als es nur schnell wegzunaschen. „Etwa ein Viertel der Kunden nutzt es zur Dekoration selbst gestalteter Torten“, schätzt Anke Harnack.
Der Anteil dürfte steigen. Denn die Lust am Backen, am Selbermachen von Keksen, Kuchen und aufwendig dekorierten Torten – in den USA und Großbritannien schon seit Langem weit verbreitet – wächst nun auch hierzulande spürbar. Nicolette Naumann, Trendexpertin der Lifestyle-Messe Ambiente in Frankfurt am Main, spricht von der „neuen Lust am Backen“.
Selbstgemachtes sei ein internationaler Metatrend, und in einer von vielen Menschen als sehr schnelllebig empfundenen Zeit gebe es das Bedürfnis nach Entschleunigung. „Da passt Backen als Tätigkeit, die alle Sinne anspricht und Kindheitserinnerungen weckt, perfekt dazu“, sagte Naumann der Fachzeitschrift ProGusto, die in ihrem Juli-Heft die neuen Backtrends zum Schwerpunktthema erhebt. Im Bereich Tortendekoration täten sich für den Handel sogar ganz neue Märkte auf, so Nicolette Naumann.
„Backen liegt eindeutig im Trend, und die Händler sind sehr glücklich darüber“, sagt auch Thomas Grothkopp, Geschäftsführer des Bundesverbandes für den gedeckten Tisch, Hausrat und Wohnkultur (GPK), dem viele große Unternehmen aus der Branche angehören. Backen – so scheint es – ist auf dem besten Weg, das neue Kochen zu werden.
Alfred Biolek, der mit seiner eher betulichen Küchen- und Plaudersendung „alfredissimo!“ vor mehr als zwei Jahrzehnten eine längst inflationäre Abfolge von Koch-Shows und -Duellen im deutschen Fernsehen auslöste, hat unter anderem in der ehemaligen MTV-Musikclip-Moderatorin Enie van de Meiklokjes eine Nachfolgerin im Trendsetting gefunden. Im Sender Sixx läuft derzeit die vierte Staffel von „Sweet & Easy – Enie backt“. In einer der jüngsten Folgen unter anderem Zitronen-Käse-Kuchen. Sat.1 präsentiert „Das große Backen“ und auf Vox bittet Ruth Moschner zur „Tortenschlacht“.
Bei den Privatsendern treten zumeist ambitionierte Laien mit Handmixer, Sahnespritze und eigenen Rezepten gegeneinander an. Das ZDF dagegen suchte im Herbst vergangenen Jahres in der Handwerkerschaft nach „Deutschlands bestem Bäcker“.
Cupcakes waren nur der Anfang, jetzt kommt das Torten-Styling
Zunächst war es die Cupcake-Welle, die nach Deutschland schwappte. Die Küchlein aus der etwa tassengroßen Form gelingen leicht und sind mit Zucker- oder Schokoguss und Streuseln auch schnell dekoriert. Derzeit sind Whoopies im Kommen. Das Weichgebäck wird mit süßer Creme gefüllt und sieht aus wie ein Mini-Burger.
Als die hohe Kunst aber gilt das Torten-Styling, das aufwendige Verzieren und die individuelle Gestaltung der Eigenkreation aus Kuchenboden, Sahne und Buttercreme. Je bunter und filigraner, desto besser. Dazu braucht es vor allem viel Fingerspitzengefühl und Fondant.
Beides versucht der Däne Jannich Nissen den Deutschen näherzubringen. Er tut es von Hamburg aus, er tut es auf mehreren Wegen und er tut es erfolgreich. Nachdem er in seinem Heimatland drei Geschäfte für Back- und Tortenstyling-Zutaten und -Zubehör eröffnet und einen – auch deutsch- sprachigen – Onlineversand aufgebaut hatte, wagte Nissen den Schritt nach Deutschland. 2011 eröffnete er das Geschäft KDTorten in den Colonnaden. Dort lassen nur bunte Tortenheber und -platten auf den ersten Blick erkennen, worum es hier überhaupt geht. Die Regale sind gefüllt mit Lebensmittelfarben und Aromen, Fondant-Paketen sowie Formen und Förmchen aus Silikon. In sie wird die Fondant-Zuckerpaste hineingepresst, um ihr ein Muster zu geben, bevor die Torte mit ihr eingekleidet wird.
„Viele unserer Produkte haben Erklärbedarf, deshalb ist es so wichtig, dass es einen Laden mit Beratung gibt“, sagt Harald Schultz, der Online-Manager der Firma. Die Umsatzentwicklung des Geschäfts sei deutlich besser als die des Onlineversands. „Gegenüber dem Startjahr hat der Umsatz sich verfünffacht“, sagt Schultz. Die Steigerungsraten im Vergleich zum Vorjahresmonat lägen dauerhaft im zweistelligen Prozentbereich und im Durchschnitt gebe jeder Kunde mehr als 50 Euro pro Einkauf aus.
Das Lager und die Büro-Arbeitsplätze sind im Herbst 2014 aus einem 60 Quadratmeter großen Nebenraum des Ladengeschäfts in eine 500-Quadratmeter-Halle in Bahrenfeld umgezogen. Anfangs hatte Jannich Nissen zwei Mitarbeiter, derzeit sind es 17. Es gibt Pläne, in Süddeutschland einen zweiten Laden zu eröffnen. „Studien zeigen, dass das Thema Torten-Styling gerade erst groß wird. Sie prognostizieren Wachstumspotenzial für die nächsten zehn bis 15 Jahre“, sagt Schultz.
Einstweilen wird im Laden noch Basisarbeit geleistet: Eine Konditorin gibt Kurse in den unterschiedlichen Disziplinen. Das Angebot reicht von „Cupcakes und Plätzchen für Kinder und Eltern“ über „Icing/Eiweißspritzglasur, Blüten und Blätter“ bis zu „Zuckerblüten – Orchideen“. Die Kurse sind zumeist schnell ausgebucht, die Teilnehmer reisen für sie aus ganz Norddeutschland an.
Und dann gibt es noch die Cakeworld-Messe in Schnelsen. Eine andere Nissen-Firma organisierte sie Anfang 2014 erstmals. Es kamen um die 40 Aussteller und 8500 Besucher. In diesem Jahr waren es mehr als 60 Aussteller und mehr als 9000 Besucher an drei Tagen. In Friedrichshafen am Bodensee ist die Cakeworld 2015 schon gelaufen, Wien und Hannover folgen im Herbst. In Niedersachsens Landeshauptstadt hatte die Messe schon 2014 gastiert. „Die Messegesellschaft hatte angefragt, ob wir während der Erlebnismesse infa in einer Nebenhalle präsent sein wollen“, sagt Harald Schultz.
Natürlich gibt es bei jeder Cakeworld einen Tortenwettbewerb, die Aussteller zeigen Zutaten und Zubehör und professionelle Torten-Styler aus der Region ihr Können.
Tortendesigner werden zur Konkurrenz der Konditoren
Das sind zumeist keine ausgebildeten Konditorinnen und Konditoren, sondern Autodidakten mit Fachfortbildungen, die ihr Hobby zum Beruf gemacht haben. Und damit zu Konkurrenten der alteingesessenen Handwerksbetriebe werden.
„Es gibt ganz viele junge und neue Kollegen in Eppendorf, Winterhude und der Schanze und ich habe gar nichts dagegen“, sagt Thomas Horn, Obermeister der Hamburger Konditor-Innung. Er selbst war zwei Sendestaffeln lang als einer der „Torten-Tuner“ im Fernsehsender Kabel 1 unterwegs, macht „fünf bis zehn Prozent“ seines Betriebsumsatzes mit den sogenannten Sondertorten nach Kundenwunsch und ist überzeugt, dass Schwarzwälder Kirsch und Nusstorte allein den dauerhaften Erfolg eines Betriebs nicht sicherstellen können. Längst gibt es auch Anbieter veganer Torten in der Stadt. So bietet die Bio-Konditorei Eichel in der Osterstraße (Eimsbüttel) auf ihrer Internetseite acht Varianten an, die ganz ohne Butter, Sahne, Eier, Milch und Honig gebacken sind – und das sind nur die acht bei den Kunden beliebtesten veganen Torten.
Rose-Marie Patzer-Weber hat mit den Baisers ihre Nische gefunden. Vegan kommt für sie natürlich nicht infrage. Baiser ist schließlich aus Eiweiß. Jannich Nissen erprobt derweil bereits das nächste Ladenkonzept. In der Lübecker Innenstadt hat er ein weiteres Zutaten- und Zubehör-Geschäft eröffnet. Es heißt Brot und Backen.