Hamburg. Sie ist die Tochter des Budni-Gründers und mit 83 Jahren noch im Unternehmen aktiv. Ruth Wölke blickt auf eine erstaunliche Geschichte zurück.
Mittwoch ist ihr Tag. Dann steht sie ganz früh auf, um halb sechs schon, macht sich in Ruhe fertig und frühstückt. So richtig. Mit Schwarzbrot und Käse, manchmal mit einem Ei. Nicht so wie früher, wo es immer schnell gehen musste und sie erst auf der Arbeit einen Kaffee getrunken hat. Gegen halb zehn ist sie dann im Büro, spätestens. Auf ihrem Schreibtisch, direkt unter dem alten Ölgemälde ihres Vaters, liegt immer ein dicker Stapel mit Papieren zur Durchsicht. Papiere, die sich angesammelt haben und die sie über alles informieren sollen, was in der vergangenen Woche passiert ist. Seit ihrem letzten Besuch. Bei Budni. Bei ihrer Familie.
Wenn Ruth Wöhlke über Budni spricht, über das von ihrem Vater Iwan Budnikowsky gegründete Unternehmen, spricht sie immer von „ihrer Familie“. Und von „ihrem Zuhause“. Weil sie mit Budni aufgewachsen ist. Und weil das Unternehmen immer im Mittelpunkt stand. Im Leben ihres Vaters – und damit auch in ihrem eigenen. „Solange ich denken kann, hatte unser Geschäft Vortritt“, sagt Ruth Wöhlke. Sie macht eine Pause, überlegt. Und fügt dann hinzu: „Ich kann mir das auch gar nicht anders vorstellen.“ Auch jetzt nicht. Oder gerade jetzt nicht. Mit ihren 83 Jahren.
Eigentlich meidet Ruth Wöhlke die Öffentlichkeit. Sie gibt kaum Interviews, lässt sich ungern fotografieren. Aber diesmal macht sie eine Ausnahme. Vielleicht, weil ihr Vater in diesen Wochen 125 Jahre alt geworden wäre. Vielleicht, weil ihr Sohn Cord und ihre Enkelin Julia auch dabei sind. Und weil es nicht nur um sie gehen soll. Sondern um das Familienunternehmen Budnikowsky. Ein Unternehmen, das inzwischen in vierter Generation geführt wird – und in dem drei Generationen einer Familie zusammen tätig sind. Eine Seltenheit. Nur etwa jedes zehnte Familienunternehmen bleibt auch in der vierten Generation noch im Besitz der Familie. Sagen Experten. Der Vater erstellt’s, der Sohn erhält’s, beim Enkel zerfällt’s! Sagt der Volksmund.
„Ich möchte das für Budni tun“, sagt Ruth Wöhlke. Budni, das zwei Weltkriege überstanden hat, drei Währungsreformen. Das in Hamburg zwar Marktführer der Drogerieketten ist, durch die Konkurrenz von Rossmann und dm aber immer stärker unter Druck gerät. Doch darüber will sie heute nicht sprechen. Sondern über Budni. Und ihre Familie. Und damit meint sie nicht die Familie Wöhlke. Sondern die Familie, zu der alle Budni-Mitarbeiter gehören. Das ist ihre Unternehmensphilosophie, deren Grundstein sie vor mehr als einem halben Jahrhundert gelegt hat. Und an die sie bis heute glaubt.
Ruth Wöhlke möchte Teil haben. Nicht nur mittwochs, wenn sie im Büro ist. Mittwochs, wenn der „RW-“Tag ist, wie einige Mitarbeiter ihn nennen. „Die Verantwortung für das Unternehmen habe ich zwar abgegeben. Verantwortlich fühlen tue ich mich aber weiter“, sagt Ruth Wöhlke. Aus diesem Grund nimmt sie aus dem Büro immer zwei große Taschen mit Dokumenten mit, die sie im Laufe der Woche durcharbeitet. „Wissen Sie, ich bin keine große Hausfrau. Das war ich noch nie. Ich beschäftige mich lieber mit Budni“, sagt sie. „Budni ist mein Leben!“
Budni. Jenes ehemalige Geschäft für Seifen und Putzmittel, das 1912 von Iwan Budnikowsky gegründet wurde. Ihrem Vater. Der immer wenig Zeit für die Familie hatte. Die „kleine Familie“, wie Ruth Wöhlke es nennt. Weil es nur sie und ihre Mutter gab. Weil sie das einzige Kind war, sie keine Geschwister hatte. „Leider!“, sagt sie. Ihren Vater habe sie als streng in Erinnerung. Aber bitte, damit keine Missverständnisse entstehen. „Ich habe nie einen Klaps bekommen!“ Das habe ihr Vater nur mit den Augen gemacht. So sei das damals eben gewesen. Damals, in den 1930er-Jahren. Als sie ein kleines Mädchen war und Budni 25 Filialen hatte. Als sie während ihrer Schulzeit in Harburg im Geschäft Seife und Soda abwog.
Sie erzählt noch mehr von ihrem Vater und ihrer Mutter, hält dann aber plötzlich inne. Und bittet, dass man das aber nicht schreiben möge. Das sei ihr dann doch zu persönlich. Das möge man doch bitte verstehen, fügt sie noch hinzu, bevor sie weitererzählt. Wie sie den Krieg in Hamburg erlebt hat, diese „schreckliche Zerstörung“, als von 25 Budni-Läden nur neun stehen bleiben – und davon auch nur deren Gerippe.
Nach dem Krieg wollte Ruth Wöhlke Journalistin werden
Wie sie nach dem Krieg Journalistin werden wollte, weil der Beruf für sie eine Freiheit symbolisierte, die während des Krieges für immer verloren gewesen schien. „Aber 1949 waren nicht Träume angesagt, sondern die Realität. Und die hieß: eine Ausbildung als Kauffrau im Einzelhandel.“ Doch trotz zahlreicher Bewerbungen bekam sie keinen Job bei einer anderen Firma. Trotz ihres Namens? „Nein“, sagt sie. Sondern gerade deswegen.
Julia Wöhlke, 34, sitzt neben ihrer Großmutter Ruth. Sie hat zugehört, einiges wusste sie selbst noch nicht. Jetzt schaltet sie sich ein, bestätigt den Eindruck. Erzählt aus eigener Erfahrung. Dass ein bekannter Name nicht automatisch „Tür und Tor“ öffnet, wie man das denken mag. Sondern dass er es einem Bewerber auf dem Arbeitsmarkt auch schwerer macht. „Weil viele Firmen Angst haben, dass man nicht dauerhaft bleibt, sondern auf kurz oder lang doch ins eigene Familienunternehmen geht“, sagt Julia Wöhlke. Sie ist 2008 bei Budni eingestiegen, seit 2012 sitzt sie in der Geschäftsführung. Zusammen mit ihrem Bruder Christoph, 37, und ihrem Vater Cord, 65.
Cord Wöhlke, der im gleichen Jahr geboren ist, in dem Ruth Wöhlke ihre Ausbildung bei Budni begann. 1949. Fragen stehen im Raum! Zeit, die Familienverhältnisse zu erklären. Zu erklären, dass Ruth Wöhlke nicht Cords leibliche Mutter ist, sondern seinen Vater Heinz Wöhlke geheiratet hat. 1966 war das. Als es den Begriff Patchwork-Familie noch nicht gab, sondern man von „Stiefmüttern“ sprach. Auch wenn die Familie Wöhlke das nie getan hat. „Ich habe zwei Mütter“, sagt Cord Wöhlke.
Ruth Wöhlke lächelt und legt ihm eine Hand auf den Arm. „Ich hatte zu deiner Mutter immer einen sehr guten Draht. Nachdem ich deinen Vater und dann auch dich kennengelernt habe, bin ich zu ihr nach Bremen gefahren und habe gefragt, ob du zu uns nach Hamburg ins Unternehmen kommen darfst“, sagt Ruth Wöhlke. Drei Kinder aus erster Ehe hatte Heinz Wöhlke, doch nur Cord als Ältester ging mit seinem Vater nach Hamburg – und stieg ins Unternehmen ein. Anfang der 1970er-Jahre war das. Im selben Jahr wurde die Selbstbedienung eingeführt.
„Erzähl doch mal, Ruth“, sagt Cord Wöhlke immer wieder zu seiner Mutter. Und dann erzählt sie. Wie sie schließlich nach der Mittleren Reife bei Budni angefangen hat, mit 17, kurz vor ihrem 18. Geburtstag. Wie sie sich an ihrem ersten Tag beim damaligen Prokuristen vorstellen musste und er ihr einen Ausbilder zuwies. Herrn Riehm, einen Kommunisten, der für seine Überzeugung im KZ gewesen war. Und wie dieser Mann sie geprägt habe. „Alles, was ich gelernt habe, verdanke ich ihm“, sagt Ruth Wöhlke. Er habe sie offen aufgenommen. Obwohl sein eigener Sohn kurz vorher gestorben war, sei er dadurch nicht verzweifelt oder verbittert geworden, sondern habe sie als jungen Menschen aufgenommen und gefördert. „Er war ein Vorbild für mich“, sagt Ruth Wöhlke. Klingt nach einer Vaterfigur? Die Frage schießt durch den Kopf. Aber irgendwie wäre es taktlos, sie zu stellen!
„Fräulein Budni“ wird Ruth Wöhlke in der Lehrzeit genannt. Einen Bonus habe sie nicht bekommen, die Zeit sei hart gewesen. „Heute bin ich dankbar dafür, damals war das aber sehr schwer für mich.“ Die geschäftlichen Differenzen mit ihrem Vater seien so schwerwiegend gewesen, dass sie ihm einmal sogar ihre schriftliche Kündigung überreicht habe. Morgens, im Geschäft. Nicht zu Hause.
Cord Wöhlke lacht, er kennt die Anekdote. Doch dann wird er ernst. „Es ist harte Arbeit, als Familie ein Unternehmen zu führen“, sagt er. Und meint: Die Zusammenarbeit so zu gestalten, dass jede Generation Freiheiten hat. Sich zu reiben, aber nicht zu zerreiben. Berufliches und Privates zu trennen. Gleichzeitig Geschäftsführer und Vater zu sein. „Verletzungen lassen sich da nicht verhindern“, sagt Cord Wöhlke. Denn auch wenn alle das gleiche Ziel hätten – über die Wege müsse man streiten. Er weiß, wovon er spricht. Weil er ja selbst mal Sohn war, als sein Vater in der Geschäftsführung war. Und weil er im Laufe der Jahre die verschiedenen Rollen kennengelernt, die Perspektive gewechselt hat. „Früher war ich die junge Generation, die Druck im Kessel gemacht hat“, sagt er. Heute seien das seine Kinder, während er eine „Bremsfunktion“ hätte, wie er es nennt.
Seine Kinder Christoph und Julia, die für ihn immer Sohn und Tochter sein werden – aber auch gleichberechtigte Partner in der Geschäftsführung. Ein Balanceakt. „Aus diesem Grund arbeiten Ehepartner nicht mit im Unternehmen“, sagt Julia Wöhlke. „Denn je mehr Menschen mit persönlichen Beziehungen es in der Unternehmensführung gibt, umso schwieriger wird es.“ Julia Wöhlke ist kaufmännische Geschäftsführerin, verantwortet bei Budni schwerpunktmäßig den Bereich Personal. 1900 Mitarbeiter. Sie ist seit sieben Jahren im Unternehmen, hat aber schon mit 14 in einer Filiale in Harburg gejobbt – wo sie wegen ihrer dunklen Haaren von Kunden mitunter auf Türkisch angesprochen worden sei.
Anekdoten wie diese gibt es viele. Wie Cord Wöhlke und seine hochschwangere Frau Gabriele auf der Einweihung einer neuen Budni-Filiale waren – und wenig später die Wehen einsetzten und Sohn Christoph geboren wurde. Wie Christoph schon mit sieben Jahren bei Budni Regale eingeräumt hat und dafür 50 Pfennig pro Stunde bekam – die Vater Cord Wöhlke der Filialleiterin zuvor aus eigener Tasche zugesteckt hatte. Aber bitte nicht falsch verstehen! Die Kinder seien nie gedrängt worden, ins Unternehmen einzusteigen. Das sei ihre eigene Entscheidung gewesen. „Wir sind mit Budni aufgewachsen – und da reingewachsen“, sagt Julia Wöhlke. Das unterscheidet sie und ihre Brüder Christoph und Nicolas von ihrem Vater Cord Wöhlke. Der schon fast 20 Jahre alt war, als er das erste Mal mit Budni in Berührung kam – durch die Hochzeit seines eigenen Vaters mit der Budni-Tochter Ruth. „Sonst hätte ich etwas ganz anderes gemacht“, sagt Cord Wöhlke, der nach Mittlerer Reife und Banklehre gerne studiert hätte. Politik oder Geschichte, vielleicht aber auch Philosophie oder Theologie. Religion fasziniert ihn – fesselt ihn. Weil man so viel aus ihr lernen kann. „Weil sie eine Vision hat und auf eine über 2000-jährige Geschichte zurückblicken kann mit allen Höhen und Tiefen. Und weil vom Unternehmen Kirche mit seiner Jahrtausende alten Tradition auch weltliche Unternehmen lernen können.“
Eigentlich sei er ja ein 68er, sagt Cord Wöhlke. Naja, kein richtiger Hippie. Aber jemand, dessen Herz links geschlagen habe. Der alles in Frage gestellt und sich gegen das Establishment gewehrt habe. Gegen die starren Strukturen, die Moral, die Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus. Jemand, der den Wehrdienst verweigert und für seine Überzeugungen auf die Straße gegangen sei, auf Demos. „Mit den Wasserwerfern im Nacken“, sagt er und lacht. „Ich werde nie vergessen, wie schnell ich da laufen musste.“
Cord Wöhlke hat bereits Verantwortung auf seine Kinder übertragen
Mehr als 45 Jahre ist das jetzt her, fast ein halbes Jahrhundert. Cord Wöhlke hat sich verändert. Budni auch. Und das sei gut so. „Handel ist Wandel“, sagt Cord Wöhlke und erzählt von seinem Einstieg ins Unternehmen. Als sein Vater ihn mit in jede Filiale genommen hat, 25 waren es damals. Als er ihm eingeschärft hat, im ersten halben Jahr „nichts zu sagen“. Und als sie alles selbst gemacht haben. Einmal habe er sogar einen Lkw gefahren, obwohl er das noch nie zuvor gemacht habe. Und dann seien da diese alten Kassen gewesen, die nur bis 9,99 Mark gingen. Cord Wöhlke hat immer noch die Preise von damals im Kopf. 100 Gramm Seife für 58 Pfennig, 150 Gramm für 87. Buttermilchseife 39 Pfennig.
Cord Wöhlke ist jetzt 65. Pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum von Budni hat er einen Teil seiner Verantwortung auf seine Kinder übertragen und seine „Energie auf andere Bereiche umgeleitet“, wie er es nennt. Um der nächsten Generation, der vierten inzwischen, den nötigen Freiraum einzuräumen. Aber ein endgültiger Ausstieg? Neulich hat ihm seine Assistentin erzählt, dass sie noch 17 Jahre bis zur Rente hat. „Vielleicht höre ich dann auch auf“, sagt Cord Wöhlke. Dann ist er so alt wie Ruth. „Bestimmt kommst Du dann auch noch ins Büro“, sagt Julia Wöhlke. Und wenn es nur ein Tag pro Woche ist. Vielleicht wird man diesen Tag dann „CW“-Tag nennen.