Birgit Rohde und Sam Bomboma betreiben die Modeboutique Marose in Altona – eine afrikanisch-deutsche Kooperation. Eins ihrer Kleider hat sogar schon Werbung für Ikea gemacht.

Hamburg. Manchmal fragt sich Birgit Rohde, was sie heute wohl machen würde, wenn sie vor sieben Jahren nicht spontan in diesen Club gegangen wäre. Wenn sie stattdessen wie geplant in der Jazz-Bar nebenan etwas getrunken hätte und dann einfach wieder nach Hause gefahren wäre. Wenn sie nicht kurz entschlossen ins Keteke abgebogen wäre. Wenn sie nicht Sam kennengelernt hätte.

Manchmal fragt sich Sam Bomboma, was er heute wohl machen würde, wenn er damals nicht auf seine Freunde gehört hätte. Wenn er einen anderen Club ausprobiert hätte, wie er es vorgehabt hatte. Wenn er mit seinen Kumpels nicht wieder in seinem Lieblingslokal in der Gärtnerstraße gelandet wäre. Wenn er nicht Birgit getroffen hätte.

Manchmal, wenn Birgit und Sam über jenen Sonnabend im Mai 2007 sprechen, überlegen sie, wie ihr Leben wohl ohne den anderen ausgesehen hätte. Ob sie dann heute noch im Hotel und der Logistik arbeiten würden. Oder ob sie auch alleine einen Laden eröffnet hätten. Ob sie heute ihre Träume leben würden. Oder weiter ihr Leben träumen würden, wie es heißt.

Nein! Würden sie nicht. Da ist sich Birgit Rohde, 57, sicher. Sie ist eine Frau, die anpackt. Die ihre Ziele verwirklicht. Sich nicht unterkriegen lässt. Die an sich und ihre Träume glaubt. Auch wenn sie zuerst gar nicht von einem eigenen Laden geträumt hat, sondern von einem Label. Einem Modelabel mit Wickelkleidern im Stile der Modeschöpferin Diane von Fürstenberg. Der Name: „Marose“ – was so viel bedeutet wie „anderen ein gutes Gefühl geben“. Denn das wollte Birgit Rohde: Frauen ein gutes Gefühl geben. Zuerst mit ihrer eigenen Kleidermarke, jetzt mit ihrem Modegeschäft.

Marose. Den Namen des Ladens kennen sicher die wenigsten Hamburger. Das Kleid dahinter schon. Denn mit einem roten Kleid von Marose hat das Modehaus Ikea Mitte des Jahres für seine neue Filiale in Altona geworben. Unter dem Motto „Hej Nachbarn! Zur Eröffnung machen wir gemeinsame Sache“ gab es gemeinsame Anzeigenmotive mit benachbarten Einzelhändlern in der Großen Bergstraße – zum Beispiel Tee vom nahe gelegenen Teeladen, Äpfel vom Gemüsehändler und eben ein Kleid von Marose, direkt gegenüber. Das Plakat gibt es immer noch. Es hängt im Laden neben dem Eingang. Das Kleid ist längst weg. Ausverkauft. 40 Exemplare hat Marose davon verkauft. So viel wie von keinem anderen Kleid jemals zuvor. „Viele Leute sind nur zu Ikea, um nach unserem Kleid zu fragen“, sagt Birgit Rohde. Stolz. Weil es zeigt, dass ihre Mode den Geschmack trifft. Dass das Konzept von Marose aufgehen kann. Dass der Weg stimmt. Auch wenn das für den Umsatz noch nicht gilt.

Der Weg, der Lebensweg, von Birgit Rohde gleicht einer Zickzack-Naht. Voran, aber hin und her, hin und her. Sie ist an der Nähmaschine groß geworden, ihre Mutter war Schneiderin. Trotzdem, oder gerade deswegen, studierte sie nach dem Abitur Literatur und Geschichte in Hamburg, wollte sogar promovieren. Bis sie sich während eines Ferienjobs auf Sylt in ihren Mann Niels verliebte, dessen Familie ein Hotel auf der Insel hat. Zickzack: Gastro statt Geisteswissenschaft. Hotel statt Hörsaal. Bereut hat sie diese Entscheidung nie. Nicht, als sie auf der Hotelfachschule am Tegernsee war. Nicht, als sie Hotelchefin im Familienbetrieb ihres Mannes wurde. Nicht, als sie ihre Tochter bekam. Nicht, als sie irgendwann „alle“ war, wie sie es nennt. Und auch nicht, als ihre Ehe kaputtging. Als sie Sylt verließ und nach Föhr zog. Alleine. Ohne ihre Tochter.

Fekadine Bomboma, genannt Sam, kennt die Geschichte. So wie Birgit seine kennt. Eine Geschichte, die vor 34 Jahren in Togo begann. Eine Geschichte voller Unterdrückung, Perspektivlosigkeit. Voller Armut. Angst. Eine Geschichte, die Sam nicht gerne erzählt. Weil er vieles verdrängt hat. Weil das Vergessen das Einzige ist, um die Vergangenheit bewältigen zu können. Die Flucht mit gefälschten Pässen, das Auffanglager, das Leben als Asylbewerber. Als „Asylant“, wie die Menschen ihn oft abschätzig genannt haben. „Am schlimmsten war das Rumsitzen. Das Warten. Das Nichtstun. Untätig sein“, sagt Sam Bomboma. Als Asylbewerber habe er nicht arbeiten dürfen, noch nicht mal einen Sprachkurs machen können. Deutsch bringt er sich selbst bei. Als er auf dem Sperrmüll einen Kassettenrekorder findet, kauft er sich ein Lehrbuch mit Kassette. Sam zuckt mit den Schultern. Mehr gebe es eigentlich nicht zu sagen, findet er. Birgit findet das nicht. Und erzählt, was Sam nicht erzählen möchte. Wie er sich in Afrika politisch engagiert hat. Für Minderheiten. Für Verfolgte. Bis er dann selbst verfolgt wurde.

Es ist selten, dass Birgit und Sam zusammen im Laden sind. Weil sie beide noch andere Jobs haben. Weil sie beide noch nicht nur aus den Einkünften von Marose leben können. Aus diesem Grund arbeitet Sam morgens in einer Autowerkstatt und Birgit nachmittags und abends oft im Campus, einem Restaurant in Eppendorf. Es gehört ihrem Ex-Mann. Nein, nicht dem Sylter, sagt sie und lacht. Sondern ihrem zweiten Mann Ervin, den sie während ihrer Zeit auf Föhr kennengelernt hat. Du meine Güte, könnte sie viel erzählen. Wie sie in Albanien gegen den Willen ihrer Familien geheiratet haben. Wie sie nach Hamburg gezogen sind und das Campus aufgezogen haben. Und wie sie sich getrennt haben. In aller Freundschaft, versteht sich. Sonst würde sie bei ihm ja nicht mehr arbeiten.

Das Marose ist leer. „Leider“, sagt Birgit Rohde und guckt aus dem hinteren Teil des 55 Quadratmeter großen Ladens immer wieder nach vorne, ob nicht vielleicht doch noch ein Kunde kommt. Manchmal sind es nur fünf am Tag, manchmal aber auch bis zu 20. Es reiche, um zu überleben. Aber nicht, um davon zu leben. Wie viel Umsatz sie machen? Oder wie viel sie an einem Kleid verdienen? Darüber wollen die beiden Geschäftsinhaber nicht sprechen. Sie probieren es mit Umschreibungen: „Die Situation ist besser als nach der Eröffnung 2008, als tagelang niemand kam. Aber immer noch nicht gut.“ Aus diesem Grund leben sie sparsam, haben kein Auto, fahren Bus. Und veranstalten regelmäßig Ladenpartys mit Livemusik und Weinprobe sowie Verkaufsevents bei Kunden zu Hause. Um mehr zu verkaufen. Mehr Umsatz zu machen.

Jürgen Dax ist Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes des Deutschen Textileinzelhandels (BTE) und spricht offen über die Probleme der Branche. Über steigende Mieten und Energiekosten, die Verdrängung durch Filialisten, die Konkurrenz durch Factory Outlet Center, den unerbittlichen Preiswettkampf und die geringe Gewinnspanne. „Ich weiß nicht, ob ich in der heutigen Zeit den Mumm hätte, ein Geschäft zu eröffnen“, sagt er.

Nach Schätzungen machen Damenoberbekleidungsgeschäfte jährlich im Durchschnitt rund 3300 Euro brutto Umsatz je Quadratmeter Verkaufsfläche, Herrenbekleidungsgeschäfte rund 4300 Euro. Was davon unter dem Strich übrig bleibt? Das hat der BTE für den mittelständischen Modefachhandel anhand eines T-Shirts vorgerechnet. Demnach stehen einem Verkaufspreis von 29 Euro im Durchschnitt anteilige Kosten des Händlers in Höhe von 28,48 Euro gegenüber. „Bei den Kunden kursieren weit überhöhte Vorstellungen, wie viel der Handel am Verkauf eines Kleidungsstücks verdient.“

Das Problem: Angesichts der Berichterstattung über die zum Teil indiskutablen Produktionsbedingungen in Asien, wonach die Herstellung von Hemden oder T-Shirts nur wenige Cent kostet, würden die Verbraucher davon ausgehen, der Modehandel könnte horrende Rendite einfahren. „Das ist aber vollkommen falsch“, sagt Dax, wie das Beispiel des T-Shirts für 29 Euro zeige. Die Rechnung des Verbands: Allein 12,99 Euro fallen als Einkaufspreis für das Shirt an, weitere 4,64 Euro müssen als Mehrwertsteuer abgeführt werden. Zu diesen warenbezogenen Kosten in Höhe von insgesamt 17,63 Euro kommen noch anteilige Personalkosten (5,83 Euro), Miete inkl. Nebenkosten (2,23 Euro), Kosten für Werbung (0,84 Euro), für Zinsen und Abschreibungen (0,70 Euro) und sonstige Kosten (1,25 Euro). Dem Modefachhandel bleibt damit beim Verkauf eines Bekleidungsstücks zum Preis von 29 Euro im Durchschnitt lediglich ein Gewinn in Höhe von 0,52 Euro. Hiervon seien dann noch Ertragssteuern abzuführen.

Zurück in der Großen Bergstraße. Der Laden ist immer noch leer. Birgit Rohde nutzt die Zeit, um über die Anfänge von Marose zu sprechen. Wie sie und Sam sich kennengelernt haben. Wie sie die Idee hatten, ein Label für schöne Wickelkleider zu gründen. Wie sie die Produktion in Albanien aufgezogen haben und wieder einstellen mussten. Wie sie mit einem Kreuzfahrtunternehmen über den Verkauf der Kleider verhandelt haben. Und wie sie schließlich einen eigenen Laden aufgemacht haben. „Wir waren auf dem Weg zu Sams Anwältin, um Fragen wegen des Aufenthaltsrechts zu klären, als wir das Geschäft gesehen haben“, sagt Birgit Rohde. Anfang 2008 muss das gewesen sein, im August haben sie eröffnet. Mit einer großen Party, vielen Gästen. Doch danach kam erst mal niemand mehr. Birgit Rohde winkt ab. Eigentlich will sie gar nicht mehr daran denken, wie das war. Jeden Tag auf Kunden zu warten. Keine Umsätze zu machen, aber laufende Kosten zu haben. Angst zu haben. Existenzangst. Und Todesangst. Denn ausgerechnet zu dieser Zeit wird bei ihr ein malignes Melanom gefunden. Schwarzer Hautkrebs.

Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum Birgit Rohde so zurückhaltend mit den Zahlen ist. Warum sie nicht über die finanzielle Situation reden möchte. Warum sie nicht jammert. Sondern lieber alles positiv sieht. Warum sie Sätze sagt wie: „Mir geht es besser als den meisten Menschen auf der Welt. Warum sollte ich mich also beklagen?“ Sie spricht lieber über ihre Freude am Kundenkontakt. Darüber, dass sie die Waren nicht im Internet verkaufen will, weil ihr die persönliche Beratung so wichtig ist. Sie erzählt von den Firmen, mit denen sie zusammenarbeiten und bei denen sie wissen, wie die Ware produziert wird.

Am liebsten spricht sie aber über die sozialen Projekte, die sie ins Leben gerufen haben: Die Theresa-Bomboma-Stiftung im Lomé, benannt nach Sams verstorbener Mutter, die in Not geratene Familien finanziell unterstützt und die Kosten für die Schul- oder Berufsausbildung der betroffenen Kinder übernimmt. Und dann gibt es da noch das neue Kissen-Projekt mit der selbst gegründeten Manufaktur, in der rund 20 junge Menschen eine Ausbildung bekommen und Kissen für Marose nähen sollen. In der sie eine Chance bekommen. „Wir möchten etwas weitergeben von dem, was wir haben“, sagt Birgit. So, als sei das vollkommen normal.

Manchmal fragen sich Birgit und Sam, was sie heute eigentlich machen würden, wenn sie sich nicht kennengelernt hätten. Manchmal. Meistens fragen sie sich aber, wie es weitergeht. Was sie noch erreichen wollen. Welche Ziele sie haben. Zum Beispiel ihre afrikanischen Kissen mithilfe von Möbelhäusern zu vertreiben. Vielleicht sogar mit Ikea von gegenüber. Schließlich habe die Kooperation ja schon einmal geklappt. Und sonst? Heiraten würde sie gerne noch mal, den Sam natürlich, sagt Birgit und lacht. Darüber denkt sie nach. Zumindest manchmal.

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