Teil 8: Seit rund 50 Jahren gibt es die Fleischerei von Uwe und Edith Anger in Eimsbüttel. Die beiden sind längst im Rentenalter und möchten sich zur Ruhe setzen. Doch sie finden keinen geeigneten Nachfolger
Als Erstes müssen Unklarheiten beseitigt werden. Ist er ein Metzger? Ein Schlachter? Oder ein Fleischer? Uwe Anger wurschtelt hinter der Frischetheke herum. Wiegt ein Stück Fleisch ab, wickelt es in gewachstes Papier ein, tippt Zahlen in die Kasse. Macht eine Pause, überlegt. „Eigentlich heißt es Fleischer“, sagt er. Aus diesem Grund heißt sein Laden in Eimsbüttel ja auch Fleischerei Uwe Anger. Auch wenn auf dem gerahmten Meisterbrief an der Wand „Schlachterhandwerk“ steht. Liegt vielleicht daran, dass er seinen Meister schon 1961 gemacht hat, die Bezeichnung Fleischer aber erst Mitte der 1960er-Jahre zur offiziellen Bezeichnung des fleischverarbeitenden Handwerks wurde. Die weiträumig fest etablierten Bezeichnungen wie Metzger und Schlachter konnten trotzdem nie ganz verdrängt werden.
„Nennen Sie es, wie Sie wollen“, sagt Uwe Anger, 76. Die Bezeichnung ist ihm gleich. Er hält nicht viel von großen Worten, will eigentlich gar nicht viel rumsabbeln. Sondern lieber den Kunden bedienen, der eine Kabanossi bestellt, eine von diesen langen Rohwürsten. Also soll seine Frau erst einmal erzählen. Erzählen, wie alles angefangen hat. Damals in Duvenstedt. 1963 muss das gewesen sein, als sie die Fleischerei am Mesterbrooksweg übernommen haben. Für 30.000 Mark. „Unten war der Laden, und oben haben wir gewohnt“, sagt Edith Anger, 75. Das Geschäft sei gut gelaufen, richtig gut. Doch irgendwann war dort alles zu klein. Die Wohnung für sie und die Kinder. Und der Laden für die vielen Kunden, die oft bis auf die Straße standen. „Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, oder?“, fragt Uwe Anger, wischt sich die Hände ab und kommt hinter der Theke hervor. Aber damals, als es noch nicht überall Supermärkte und Discounter gab, habe die Schlange bis vor die Tür gereicht. Da sei eine Fleischerei noch was wert gewesen.
Die Ablösesumme für ihr altes Geschäft in Duvenstedt haben sie nie erhalten
„Wissen Sie, wir hätten den Laden gerne umgebaut und größer gemacht. Aber das wurde vom Vermieter abgelehnt.“ Also hätten sie sich einen neuen Laden gesucht. Diesen hier, in der Bundesstraße 79. Vorher war dort auch ein Schlachter drinnen, dann habe der Laden aber lange leer gestanden. „Sie können es sich nicht vorstellen, wie es hier aussah“, sagt Edith Anger und erzählt von dem verschimmelten Gasherd, den sie nur noch auf den Müll werfen konnten, und abgetauten Kühltruhen, die unter Wasser standen. Und von der vielen Arbeit, die sie reinstecken mussten. Tagsüber waren sie in ihrem Geschäft in Duvenstedt, abends und am Wochenende in dem neuen Laden. 10.000 oder 12.000 Mark Ablösesumme mussten sie dafür bezahlen. Genau weiß Uwe Anger das heute nicht mehr. Aber er weiß heute, dass es zu viel war. Für einen „toten Laden wie diesen“, wie er ihn nennt. Einen Laden, der auch nach der Renovierung und Neueröffnung nicht lief. In den er monatelang reinstecken musste, ohne was rauszubekommen. „Hat sechs Monate gedauert, bis wir was verdient haben“, sagt Uwe Anger und erzählt, wie gering die Auswahl anfangs bei ihnen war – weil sie kein Geld für den Einkauf hatten.
Ein Kunde kommt in den Laden. Ein älterer Herr mit Enkelkind. Er lässt sich acht Kabanossi einpacken, „von denen, die aufgefädelt sind“, bestellt ein Paar Wiener. Fragt: „Haben Sie meine Mettwurst, Herr Anger?“ Herr Anger weiß sofort, welche er meint. Seit 25 Jahren kommt er zu ihm. Früher hat er nebenan gewohnt, heute fährt er extra hierher. „Weil es hier die besten Sachen gibt. Und die nettesten Inhaber.“ Er habe Herrn Anger noch nie gnaddelig gesehen. „Ich auch nicht“, ruft seine Frau von hinten aus der Küche. Noch nie in 55 Jahren, die sie verheiratet sind. „Liegt daran, dass mich nicht viel aufregt“, sagt er. Oder: Nicht mehr. Früher habe es da aber schon ein paar Sachen gegeben. Als er sich während der Ausbildung nicht mit seinem Chef verstanden habe und den Betrieb wechseln musste. Oder als er den Laden in Duvenstedt für 38.000 Mark an seine Nachfolger abgetreten hatte – das Geld aber nie bekam. „Sind einfach abgehauen“ sagt er. Erst von einem Nachbarn habe er erfahren, dass das junge Ehepaar ausgezogen sei und der Laden geschlossen worden war. „Wir haben zwar einen Anwalt eingeschaltet, gebracht hat das aber nichts“, sagt er. Bei denen sei nichts zu holen gewesen.
Die nächste Kundin kommt. Frau Anger eilt aus der Küche herbei, schmiert für die junge Frau ein belegtes Brötchen, wiegt durchwachsenen Speck ab. Zeit für Uwe Anger weiterzuerzählen. Dass er in Hamburg geboren ist, an der Vereinsstraße, nach der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg aber in ein Behelfsheim nach Barmstedt geflüchtet sei. Dass er nach der Schule zwischen einem Job beim Schuster und beim Schlachter wählen konnte. Und sich für den Schlachter entschied, weil er immer Hunger hatte. 40 Mark habe er als Geselle bekommen. Pro Woche. „Wir haben nichts umsonst bekommen, mussten alles selbst kaufen“, sagt Uwe Anger und schüttelt den Kopf. Er hat seinen „Mädchen“, wie er seine Mitarbeiterinnen nennt, immer was kostenlos gegeben.
Eine Aushilfe hat er derzeit, aber nur manchmal, vor allem sonnabends. Meistens sind er und seine Frau aber allein. „Lohnt nicht, wenn so wenig zu tun ist wie jetzt“, sagt er. Neun Euro Stundenlohn zahlt er dem Mädchen. Da muss der Laden schon brummen, damit sich das rechnet. Uwe Anger hat sich auf die Bank neben dem Eingang gesetzt, die Knie sind kaputt. Er hat mal am Schlachthof eine Tür dagegengeknallt bekommen, ist aber nie zum Arzt gegangen. Weil er keine Zeit hatte. Nicht ausfallen wollte.
Für ein belegtes Brötchen wird jede Scheibe Wurst frisch abgeschnitten
Frau Anger steht jetzt hinter der Frischetheke. Bedient. Zwei Schulkinder kaufen je eine Frikadelle für 1,50 Euro, eine junge Frau einen Zipfel Leberwurst. Früher hatten sie bis zu 300 Kunden am Tag, heute sind es zwischen 120 und 140. Viele Polizisten oder Feuerwehrleute von nahe gelegenen Wachen, aber auch viele Schüler, die sich ein belegtes Brötchen kaufen, für 1,50 Euro oder so. Der Preis hängt vom Belag ab, jede Scheibe wird einzeln abgewogen und berechnet. Uwe Anger schätzt, dass sie pro Tag zwischen 700 und 800 Euro Umsatz machen. Die Kosten für Waren liegen täglich bei 300 bis 400 Euro, hinzu kommen die laufenden Ausgaben. Allein für Strom fallen im Monat 560 Euro an, außerdem 300 Euro für Benzin wegen des langen Arbeitsweges von Heiligenstedten bei Itzehoe nach Hamburg. Das Fazit von Uwe Anger: „Wir können davon leben.“ Und meint: dass es für sie beide reicht. Dass sie mal in den Urlaub fahren können. Dass sie ihrer Tochter Geld geben konnten, als sie ein Haus gebaut hat. „Ich geb lieber mit warmen Händen, als mit kalten – wenn ich tot bin“, sagt Uwe Anger.
Man könnte es fast für einen Scherz halten, für einen flapsigen Spruch. Nicht aber, wenn man die Geschichte von Uwe und Edith Anger kennt. Eine Geschichte, in der es nicht nur um ihr Geschäft geht. Sondern auch um ihre Kinder. Nicole und Michael. Nicole, zu der sie vor acht Jahren ins Haus gezogen sind, als das erste Enkelkind unterwegs war. Die ihren Eltern im Haushalt hilft und einen guten Job als Beamtin hat. Die erlebt hat, wie schwer ihre Eltern arbeiten mussten und den Laden nicht übernehmen will. Und Michael, der Computerexperte, wie ihn seine Mutter nennt. Der früher ganz in der Nähe des Ladens gewohnt hat. Und der mit 34 Jahren plötzlich gestorben ist. An einer geplatzten Hauptschlagader. „Es gibt nichts Schlimmeres für Eltern, als das eigene Kind zu beerdigen“, sagt Edith. Dann sagt sie nichts mehr. Weil es dazu nichts mehr zu sagen gibt. Weil es keine Worte gibt, um das Unbeschreibliche zu beschreiben.
Pause. Stille. Räuspern. Themenwechsel: Die Angers möchten noch etwas zu ihrem Laden sagen. Dazu, wie schwer es ist, einen geeigneten Nachfolger zu finden. Interessenten habe es schon einige gegeben. „Der eine wollte ein Delikatessengeschäft daraus machen, der andere einen Imbiss“, sagt Uwe Anger. Sogar ein Geschäft für koscheres Fleisch sei mal im Gespräch gewesen. Doch geklappt hat bisher nichts. Weil sich die Pläne in dem kleinen Geschäft dann doch nicht umsetzen ließen. Oder weil die Bank keinen Kredit bewilligt hat. Kein Einzelfall. Michael Durst, Obermeister der Fleischerinnung Hamburg, kennt das Problem. „Die meisten Banken wollen dieses Risiko nicht eingehen“, sagt er. „Selbst wenn es genug Sicherheiten gibt, verlangen die Banken so hohe Zinsen, dass viele diese kaum aufbringen können.“ Zwischen 200.000 und 500.000 Euro müssten investiert werden, wenn man eine neue Fleischerei eröffnen will – oder ein altes Geschäft übernimmt und modernisiert.
Der Laden von Uwe und Edith Anger scheint aus der Zeit gefallen. Mit altmodischen Kieferregalen, Spitzenbordüren, bemalten Porzellantellern. In den Frischetheken stehen ein paar Joghurts, drei Liter Milch, Päckchen mit Kakaodrink. Rund 40 Quadratmeter Verkaufsfläche sind es vorne. Daran angeschlossen eine ebenso große Küche mit Fleischwolf und Elektroherd, wo sie Schnitzel, Frikadellen oder Karbonaden braten. Unten im Keller stehen die Kühltruhen sowie die Gasbräter, in denen sie den Schweinebraten für den Aufschnitt selbst machen. Zum Beispiel für die Firma Wiesner, die Hotels, Feinkostgeschäfte und Marktbeschicker beliefert. Aber auch für Privatkunden zu Hause. So ähnlich wie ein Partyservice. Früher haben sie noch selbst geschlachtet, außerhalb von Hamburg. Aber heute lohne sich das nicht mehr. Weil man heute anders isst, anders kocht. Zu viel übrig bleibt, nicht verkauft oder verwertet werden kann. Schweinepfoten zum Beispiel, die früher in die Suppe getan wurden, damit sie sämig wird. „Heute geht ja nichts mehr, was fettig ist“, sagt Uwe Anger.
Er holt seine Ware morgens vom Schlachthof, rund 50 Kilo jedes Mal, während seine Frau ab 5.30 Uhr im Laden steht. Sie befüllt die Auslage, schmiert Brötchen. Bis 18 Uhr sind sie im Laden, danach geht die Arbeit zu Hause weiter. Mit der Buchführung. „Sollte man täglich machen, damit nicht so viel liegen bleibt“, sagen sie. Das haben sie in mehr als 50 Jahren im Geschäft gelernt. Auf die meisten Fragen wissen sie eine Antwort. Aber wie es weitergeht, das wissen sie nicht. „Wir müssen weitersuchen“, sagt Uwe Anger und erhebt sich schwerfällig. Er hat zu lange gesessen. „Schließlich können wir den Laden ja nicht einfach zumachen und das Inventar wegschmeißen“, sagt er. Wie lange sie den Job jedoch noch schaffen, weiß Uwe Anger nicht, der schon jetzt einer der ältesten Fleischer Hamburgs ist. Trotzdem will er weitermachen. Bis er einen Nachfolger findet. Schließlich geht es nicht nur um ihn. Sondern um den ganzen Stadtteil. Um die Menschen. Die Polizisten und Feuerwehrleute, die Schüler und Hausfrauen. Die Kinder. „Wo sollen die denn sonst ihre geschmierten Brötchen, Würstchen und Fleisch kaufen“, sagt er. Es ist keine Frage. Sondern eine Antwort. Das ist klar.
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