Eine 600 Kilometer lange Fernleitung soll Süddeutschland mit Windstrom aus dem Norden versorgen. Viele Menschen an der Trasse reagieren mit Skepsis und Ablehnung
An einer Landstraße bei Brunsbüttel ragt neues Metall auffällig aus den Feldern hervor, eine Phalanx von Masten, Gestängen und Transistoren neben grün gestrichenen Zweckbauten. Eine ähnlich komplexe Anlage entsteht nur wenige Kilometer entfernt neben dem Atomkraftwerk Brunsbüttel. Die beiden neuen Umspannwerke sind Wegmarken für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland. In der Wilstermarsch, zwischen Nord-Ostsee-Kanal und Elbe, soll die größte Konzentration von Strom aus Windkraftwerken gebündelt werden, die es hierzulande je gab. Die Energie von mehr als 1000 Anlagen aus Windparks an und vor der Westküste Schleswig-Holsteins wird an diesem Ort, so ist es vorgesehen, von Beginn des kommenden Jahrzehnts an in eine Fernleitung eingespeist werden, um damit Bayern und Baden-Württemberg zu versorgen. Auch Strom aus norwegischen Wasserkraftwerken, importiert durch die geplante Nordseeleitung NordLink, soll bei der Kleinstadt Wilster künftig in das deutsche Stromnetz gelangen.
Die Küste wird zum Kraftwerk für den Süden Deutschlands. Windstrom soll bis spätestens zum Jahr 2022 die Leistung der süddeutschen Atomkraftwerke zumindest teilweise ersetzen, die im Zuge des Atomausstiegs vom Netz gehen müssen. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Eine 600 Kilometer lange Stromtrasse soll von Schleswig-Holstein nach Bayern verlegt werden und von dort aus in einer Abzweigung noch einmal 200 Kilometer weiter nach Baden-Württemberg. Gegen den möglichen Widerstand Hunderttausender Anrainer längs der vorgesehenen Trasse indes kann das Großvorhaben nicht durchgesetzt werden. Ablehnung und Skepsis müssen in Zustimmung verwandelt werden, zumindest in Neutralität.
Das ist die Aufgabe von Tom Wagner. Er geht in einem Saalbau im Zentrum von Wilster von Tisch zu Tisch, von Landkarte zu Landkarte, spricht freundlich mit Menschen, verweist sie weiter an seine Mitarbeiter. Das Colosseum inmitten der Stadt, ein historischer Klinker- und Fachwerkbau, der als Tanzsaal und Veranstaltungshalle genutzt wird, dient an diesem Nachmittag als Ausstellungsraum für das Projekt SuedLink. Wagner, 30, Referent für Bürgerbeteiligung beim Stromnetzbetreiber TenneT, stellt die neue Fernleitung gemeinsam mit seinen Kollegen vor. Wilster ist das 19. von insgesamt 23 Bürgerforen, die TenneT seit März in Städten entlang der geplanten Trasse veranstaltet. „Die Zeiten, in denen solche Großprojekte im stillen Kämmerlein geplant wurden, sind lange vorbei“, sagt Wagner, studierter Politikwissenschaftler, der seit zwei Jahren für TenneT arbeitet. „Wir bekommen bei diesen Veranstaltungen Kritik, aber auch äußerst viele konstruktive Anregungen und Hinweise. Und vor allem Kontakte zu Anliegern und Lokalpolitikern.“
Für die Energiewende insgesamt und für TenneT im Besonderen hängt vom Projekt SuedLink viel ab. Ohne diese Fernleitung wäre das enorme Potenzial der Windkraft in Norddeutschland für den Süden nicht wirtschaftlich nutzbar zu machen. Das Unternehmen TenneT wiederum, das für die Übertragungsnetze im Zentrum Deutschlands in einem durchgehenden Korridor von der Küste bis in den Süden Bayerns zuständig ist, wird von der Politik mit Argwohn beobachtet: Offshore-Windparks vor der deutschen Nordseeküste wurden mit teils monatelangen Verzögerungen an das Landnetz angeschlossen, wofür TenneT mitverantwortlich war. Das Prestigeprojekt SuedLink hingegen soll von Beginn an präzise laufen.
Das geht nur mit einer intensiven Einbindung der Bürger. Gegner des Projekts im ganzen Land machen mobil. Von Waffensen bei Rotenburg an der Wümme bis Kaisten im bayerischen Landkreis Schweinfurt bringen Bürgerinitiativen ihre Bataillone in Stellung, haben aufgebrachte Anlieger bereits Unterschriftenlisten mit Tausenden Stimmen bei TenneT abgegeben, in denen sie die Trasse entweder rundweg ablehnen oder aber deren Verlegung möglichst weit außer Sichtweite der eigenen Gemarkung verlangen. Wagner, verbindlich, kompetent und gut gelaunt, nimmt den Druck scheinbar gelassen zur Kenntnis: „Wir sind überwältigt von der guten Resonanz auf unsere Veranstaltungen vor Ort“, sagt er. „Es gibt für dieses Projekt insgesamt großes Verständnis bei den Anrainern, aber auch oft den Einwand, warum muss es denn ausgerechnet bei uns sein.“ 300 bis 500 Bürger kämen zumeist zu den Vorortterminen bei TenneT, sagt Wagner. In Wilster sind es kurz nach der Öffnung des Colosseums an diesem Nachmittag bereits mehr als 100.
Die Fernleitung SuedLink ist das zentrale Projekt der Energiewende
An den Tischen und Stellwänden vertiefen sich die Besucher in die Landkarten, die den Verlauf der Trasse zeigen. Sie diskutieren miteinander oder mit den Experten von TenneT. Manche genießen einfach nur Suppe und Brötchen, Kaffee und Cola, die TenneT ihnen spendiert. In den ausgelegten Fragebögen können die Anwohner ihre Anregungen notieren. „Jeder, der einen Vorschlag mit seinen Kontaktdaten hinterlässt, bekommt später eine Rückmeldung, was daraus geworden ist“, sagt Wagner. Schleswig-Holstein ist mit seinem hohen Aufkommen an Windkraftstrom eines der Kernländer der deutschen Energiewende. Die Landesregierung in Kiel baut für die Weiterentwicklung der regionalen Wirtschaft in den kommenden Jahrzehnten fest auf den Export von Ökostrom. Aber auch im nördlichsten Bundesland gibt es Widerstand, sei es gegen die von TenneT geplante Hochspannungsleitung an der Westküste oder gegen Großwindturbinen der neuesten Generation.
In Wilster hingegen überwiegt die Zustimmung zu dem Projekt – auch deshalb, weil die Kleinstadt mit den neuen Einspeisepunkten für die SuedLink-Trasse zu einem der wichtigsten Orte für die künftige Stromversorgung des gesamten Landes wird. „Die Windparks an Land in Schleswig-Holstein sind das Fundament für SuedLink“, sagt Wagner, „wichtiger noch als die Offshore-Windparks auf der Nordsee.“ 4000 Megawatt Kapazität soll SuedLink bekommen, das entspricht der fünffachen Leistung, die einst aus dem 2007 abgeschalteten Atomkraftwerk Brunsbüttel kam. Rund 2000 Megawatt Leistung werden den bisherigen Planungen zufolge allein in Wilster an die neue Fernleitung angeschlossen.
„Mal sehen, ob das alles tatsächlich funktioniert“, sagt Erich Wendte, 83. Jahrzehntelang hatte der Diplomingenieur für Starkstromtechnik bei einem „energieintensiven Unternehmen der Bauwirtschaft“ gearbeitet, wie er sagt. Wendte kennt sich aus: „SuedLink soll den Strom aus dem Norden als Gleichstrom nach Süden transportieren, weil das in dieser Form weniger Übertragungsverluste mit sich bringt“, sagt er. „Normalerweise fließt durch unsere Hochspannungsleitungen Wechselstrom. Eine Gleichstromleitung von dieser Dimension und Länge hat es in Deutschland noch nie gegeben.“
Alles ist neu bei diesem Vorhaben: die Größenordnung, mit der erneuerbare Energien wie Windkraft, Biogas oder Solarstrom künftig das Fundament der Energieversorgung in Deutschland bilden sollen, aber auch Technologien wie Offshore-Windparks, Gleichstromleitungen, neue Verteilnetze und Energiespeicher, ohne die es eine Energiewende nicht geben kann. Rechtliche und planerische Ansprüche stellen Politik und Behörden vor Anforderungen, die es seit dem Wiederaufbau in der Nachkriegszeit so nicht mehr gab.
In einem mehrstufigen und mehrjährigen Verfahren will TenneT unter Regie der Bundesnetzagentur bis voraussichtlich 2019 die Planungen und das Baurecht für SuedLink erarbeiten. Tausende Details müssen dafür geklärt werden, unter anderem auch, wo anstelle der gut 70 Meter hohen Überlandleitungen Erdkabel installiert werden könnten. Eine unterirdische Verlegung wäre weniger konfliktträchtig, aber nach Einschätzung von Experten bis zu achtmal so teuer wie eine klassische Hängeleitung an Stahlmasten.
Noch gut acht Jahre dauert es bis zur endgültigen Umsetzung des Atomausstiegs. Tatsächlich aber ist die Zeit extrem knapp, um neue Energie aus dem Norden nach Süden zu führen. Schrittweise gehen in den kommenden Jahren die Atomkraftwerke vom Netz, die Süddeutschlands Städte und Industriezentren mit Strom versorgen. Schon im Mai 2015 will der Stromkonzern E.on das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld abschalten, sieben Monate früher als zuvor geplant, teilte der Konzern im März mit. Die Anlage lasse sich nicht länger wirtschaftlich betreiben.
Die großen Infrastrukturprojekte wie SuedLink sind auf Kante genäht. Wenn die Energiewende im großen Stil vorankommen soll, darf in den Ablaufplänen nichts dazwischenkommen. Wagner weiß das: „SuedLink ist das Herzstück für ein ganzes System neuer Übertragungs- und Verteilnetze in ganz Deutschland“, sagt er. „SuedLink ist die Hauptschlagader der Energiewende.“
In Wilster ist man mittendrin. Die neuen Großwindanlagen, die nachts mit zahlreichen Lichtern zum Schutz des Flugverkehrs befeuert werden müssen, „blinken wie eine Dorfdisco. Das müsste man noch verbessern“, sagt hinter seinem Tresen Michael Mehrens, der Betreiber des Colosseums, der sich über den Sonderumsatz durch die TenneT-Veranstaltung freut und den Besuchern Kaffee einschenkt. „Das wird noch richtig teuer“, pflichtet ihm Rentner Erich Wendte bei.
Der Starkstromveteran verfolgt die Entwicklung mit professionellem Blick. 1979 baute Wendte in Wilster ein Haus, wenig später wurden in der Wilstermarsch die ersten kleineren Windturbinen installiert – Pionierprojekte der Energiewende in Deutschland. Heute hat er 13 Windkraftwerke mit Nachtbefeuerung vor der Tür. Die neue Fernleitung SuedLink soll künftig gut einen Kilometer von seinem Haus in 70 Meter Höhe verlaufen, entnimmt Wendte der ausgelegten Landkarte, was er zuvor bereits im Internet nachlesen konnte. Das sei schon in Ordnung, sagt er. Doch um den Fernsehempfang macht er sich Sorgen: „Meine Frau wollte keine Satellitenschüssel auf dem Haus. Wir haben stattdessen eine Fernsehantenne unterm Dach. Da könnte der Gleichstrom empfindlich stören.“