Birgit und Thorsten Hellmann arbeiten seit 25 Jahren für die Hamburger Baumarktkette. In der Winterhuder Filiale lernen sie sich kennen, werden ein Paar, heiraten. Am Freitag werden sie wegen der Insolvenz die Kündigung erhalten.
Hamburg. Auf den ersten Blick wird am heutigen Heiligabend bei ihnen alles so sein wie immer. Birgit und Thorsten Hellmann werden am Vormittag den Tannenbaum reinholen und mit Weihnachtsschmuck behängen. Die 52-Jährige geht anschließend in die Küche und backt einen Blitzkuchen. „Schließlich muss es Weihnachten immer schnell gehen“, sagt sie. Dann feiern sie mit Sohn Michel, 29, und Tochter Vanessa, 20. „Wir lassen uns das nicht vermiesen, haben das nach diesem Jahr verdient“, sagt der 43-Jährige. Die Familie rückt zusammen – doch die zweite Familie der Hellmanns droht auseinanderzufallen. So sieht es das Ehepaar.
„Ich bin immer noch stolz, Max Bahrler zu sein“, sagt Thorsten Hellmann. Er sitzt auf dem Sofa in der 64-Quadratmeter-Wohnung in Wilhelmsburg, drückt und dreht den Kaffeebecher in seiner Hand. „In meinen Adern fließt gelbes Blut.“ Seine Frau Birgit nickt. Über ihnen prangt ein Blechschild: „All you need ist love“ (Alles was du brauchst ist Liebe). Ein wenig Sicherheit über ihre berufliche Zukunft wäre ihnen in diesen besinnlichen Tagen zum Fest der Liebe aber auch lieb. Stattdessen wissen sie: Am 27.Dezember wird ihnen die Kündigung ins Haus flattern. Es ist die Folge der Insolvenz des 134 Jahre alten Hamburger Traditionsunternehmens. Fast 25 Jahre lang war die Baumarktkette für beide der Arbeitgeber – und noch viel mehr. Die Hellmanns sind eine richtige Max-Bahr-Familie, Arbeits- und Privatleben sind eng miteinander verwoben.
Schon als Schüler arbeitet Thorsten Hellmann für Max Bahr. Er jobbt in den Nachmittagsstunden und sonnabends als Parkeinweiser in der Bramfelder Filiale. 1989 beginnt er eine Lehre als Einzelhandelskaufmann in Winterhude und ist dem Markt (abgesehen von seiner Bundeswehrzeit) bis heute treu geblieben. Eigentümer Peter Möhrle begrüßt den jungen Auszubildenden mit Handschlag. Ein Jahr später tritt Birgit in sein Leben. Nachdem sie sich als ungelernte Kraft bei einer Drogeriekette bis zur Filialleiterin hochgearbeitet hat, sucht sie eine neue Aufgabe, sitzt zunächst in der Filiale am Krohnskamp an der Kasse, tippt Preise für Pinsel, Tapeten, Schrauben ein – und erobert Thorstens Herz.
„Und es war Sommer ...“, fängt er an zu singen und schmunzelt, als sie auf ihr Kennenlernen angesprochen werden. Mit insgesamt sechs Arbeitskollegen ging es am Wochenende in eine Disco nach Uelzen. „Da sind wir uns beim Schwofen nähergekommen“, sagt er. Am nächsten Abend greift er zum Telefon und ruft Birgit an. Als seine Eltern sich über die Dauerblockade des Apparats beschweren, nimmt er seine Groschen in die Hand und geht in eine gelbe Telefonzelle vor seinem Elternhaus. Am Ende eines fast endlosen Telefonats sagt er: „Ich habe mich in dich verliebt.“
Schnell werden sie ein Paar. Birgit bringt ihren Sohn Michel aus erster Ehe mit in die Beziehung – von der die Chefs lange nichts wissen. „Wir haben es uns nie anmerken lassen“, sagt Birgit, „erst als wir Eltern wurden, haben die etwas bemerkt.“ Thorstens dritten Heiratsantrag nimmt Birgit an, am 1. August 2001 geben sie sich in ihrem langjährigen Urlaubsort Gartow im Wendland das Jawort. Tochter Vanessa ist heute 20, lebt noch bei den Eltern und arbeitet als Betreuerin in einem Kindergarten. Sie gehört zu denjenigen in der Familie, die nicht bei Max Bahr gelandet sind.
Gleich sieben Angehörige standen oder stehen dort auf dem Lohnzettel: zwei Schwestern und ein Bruder von Birgit, der Bruder von Thorsten und der Sohn. „Bei Familienfesten war Max Bahr das Gesprächsthema. So lange bis meine Mutter sagte: ,Schluss jetzt‘“, sagt Thorsten Hellmann. Michel wählt den Weg seines Ziehvaters, macht bei dem Baumarkt eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann und ist seit 13 Jahren in der Firma. „Für ihn sieht es schlecht aus“, sagt Birgit: „Der Markt in Harburg ist ja noch nicht mal verkauft.“ Aber auch die 27 Winterhuder Beschäftigten wissen nicht genau, wie es nach einem turbulenten Jahr für sie weitergeht.
Rückblick: Im März teilt die seit Langem angeschlagene Konzernmutter Praktiker mit, dass 2012 trotz Umsatzrückgangs der Fehlbetrag um zwei Drittel auf 189 Millionen Euro geschrumpft sei. Nur einen Monat später schockt der neue Firmenchef Achim Burger mit einem „grauslichen“ Quartal die Aktionäre. Weil die milden Temperaturen im Frühjahr auf sich warten lassen, werden Blumen und Gartenartikel zum Ladenhüter.
Der Fehlbetrag steigt um 64 Prozent auf 118 Millionen Euro. Das schlechte Bild verfestigen seit Langem immer wieder heftige Streitereien zwischen den Anteilseignern und mehrere Chefwechsel. Am 10.Juli gibt Praktiker mit Sitz im saarländischen Kirkel und Hamburg schließlich seine Zahlungsunfähigkeit bekannt. „Dass Praktiker den Bach runtergeht, haben wir uns schon gedacht“, erinnert sich Thorsten Hellmann. Die seit Jahren tobenden Rabattschlachten (Slogan: „20 Prozent auf alles – außer Tiernahrung“) konnten nicht gut gehen, ist die Meinung von ihm und vielen Kollegen.
Die seit 2007 zum Konzern gehörende Tochter Max Bahr bleibt ausgenommen von der Insolvenz. Wenige Tage später ist sogar von einem „Kern-Max-Bahr“ die Rede, in der die 180 bis 200 erfolgreichsten Märkte der insgesamt 315 Praktiker-Filialen in Deutschland integriert werden sollen. „Da habe ich schon gedacht, dass es weitergeht. Es wird auf Max Bahr umgeflaggt, wir werden gestärkt“, sagt Thorsten Hellmann. „Doch es war zu spät. Da war der Karren schon an die Wand gefahren.“
Am 25.Juli meldet auch Max Bahr Insolvenz an. „Das war ein Schock. Wir waren doch immer ein gesundes Unternehmen“, sagt Birgit Hellmann. Hauptgesellschafter Peter Möhrle hatte den richtigen Riecher gehabt. Er setzte ab 1956 auf den Trend zum Heimwerken und machte aus einer Holzhandlung eine Baumarkt- und Gartencenterkette mit 78 Filialen. Weil er fürchtet, allein nicht gegen die Konzerne mithalten zu können, verkauft er 2007 sein Lebenswerk an Praktiker. Unter den Möhrles sei es immer sehr familiär zugegangen – daran änderte sich auch unter den Eigentümern nichts.
Mit den 25 Kollegen pflegen die Hellmanns Freundschaften, gehen gemeinsam auf den Dom oder Weihnachtsmarkt, telefonieren und treffen sich auch nach Feierabend. „Der Markt in Winterhude ist unser zweites Zuhause“, sagen die beiden: „Das ist dort wie in einer Familie. Es wird sich mit Küsschen begrüßt.“ Offenbar schätzen auch die Kunden die Atmosphäre am Krohnskamp. Immer wieder bringen sie in den vergangenen Wochen selbst gebackenen Kuchen, Schokolade und Sekt vorbei, um die Belegschaft aufzumuntern. Dazu besteht auch mehrfach Anlass.
Während Anfang September die Abwicklung von Praktiker mit seinen 5300 Mitarbeitern beschlossen wird, gibt es für Max Bahr noch rund zehn Interessenten. Zwei Wochen später wirft der frühere Chef Dirk Möhrle, Sohn des ehemaligen Eigentümers Peter Möhrle, seinen Hut in den Ring. Zusammen mit dem Dortmunder Konkurrenten Hellweg will er die Traditionsfirma übernehmen. „Super! Unser Möhrle lässt uns nicht im Stich“, erinnert sich Birgit Hellmann an den Tag. Auch als der Vollzug des Geschäfts auf sich warten lässt, weil das Konsortium Hellweg/Möhrle die hohen Mieten der Märkte senken will, beunruhigt sie das nicht. Das dauert halt nur ein bisschen länger, dachte ihr Mann.
Mitte November platzt die Übernahme der 73 Märkte mit 3600 Arbeitsplätzen endgültig. Der ebenfalls insolvente Hauptvermieter Moor Park will die Mieten nicht senken. Die erste Hoffnung der Hellmanns löste sich in Luft auf. „Da war die Stimmung auf dem Nullpunkt“, sagt Thorsten Hellmann.
Wenige Tage später fährt die Gefühlsachterbahn der Beschäftigten wieder nach oben. Die saarländische Handelskette Globus zeigt wieder Interesse an Max Bahr. Doch am 27.November ist der Schlussstrich unter 134 Jahren Firmengeschichte perfekt. Auch Globus kann sich mit Moor Park nicht auf ein Senken der Mieten einigen. „Die zweite Seifenblase ist geplatzt“, sagt Thorsten Hellmann. „Da war mir klar, dass Max Bahr tot ist.“ Für viele Mitarbeiter sieht es nach einem abgekarterten Spiel aus, als Rivale Bauhaus nur einen Tag später ankündigt, 24 Märkte von Max Bahr zu übernehmen.
In Hamburg gehören die Filialen in Bramfeld, Langenhorn, Stellingen und Wandsbek dazu. Am 4.Dezember greift die Soltauer Hagebau-Gruppe zu und sichert sich 16 Standorte, darunter an der Elbe die Filialen in Altona, Eilbek, Rahlstedt und Winterhude. Die Beschäftigen sollen „größtenteils übernommen“ werden, heißt es damals aus dem Umfeld von Hagebau. Unterschrieben ist aber noch nichts. In der vergangenen Woche legt ein Stammkunde in der Filiale am Krohnskamp eine Unterschriftenliste aus, in der die „jahrelange kompetente und freundliche“ Beratung gelobt und von dem neuen Eigentümer Hagebau die Übernahme der Angestellten gefordert wird.
„Dieses ewige Auf und Ab, dieses Schwanken zwischen Hoffen und Bangen macht einen fix und fertig“, sagt Birgit Hellmann. Die Krankmeldungen nähmen zu wegen der seelischen Belastung. „Die Kollegen wünschen sich, dass jetzt ein Signal von Hagebau kommt“, sagt Thorsten Hellmann. „Von uns gibt es ein ganz klares Ja zu Hagebau. Wir hoffen auf die dritte Chance.“
Gesamtbetriebsratschef Ulli Kruse ist für das Personal in den übernommenen Märkten verhalten optimistisch: „Sie könnten mit einem blauen Auge davonkommen. Es sieht so aus, als ob die Mannschaften in den Filialen meist in Gänze zusammenbleiben.“ Doch wann die Märkte unter den neuen Eigentümern wieder öffnen, ist offen. Es kann drei, vier, fünf Monate oder ein ganzes Jahr dauern.
Derzeit ist das Team in Winterhude damit beschäftigt, die Mängel zu kaschieren. Teilweise holen sie sogar mit dem Privatwagen Ware aus anderen Märkten. Weil Lacke aus sind, füllt jetzt Wandfarbe die leeren Regale. Birgit Hellmann arbeitet auf einer Vier-Fünftel-Stelle im Logistikteam. Doch weil kaum noch neue Ware angeliefert wird, sorgt sie meist nur noch für Ordnung im Laden. Thorsten Hellmanns Vollzeitjob ist der Bereich FaTaBo – Farben, Tapeten, Bodenbeläge. Spätestens Ende Februar wird die Filiale aber endgültig schließen. „Wir möchten bis zum letzten Tag in unserem Zuhause sein“, sagt Birgit Hellmann. „Max Bahr ist doch unser Leben.“
Im März werden die Hellmanns für sechs Monate in eine Transfergesellschaft gehen, die die Beschäftigten weiterqualifizieren und für Bewerbungen fit machen soll. 80 Prozent des letzten Nettogehalts bekommen sie ausgezahlt, sagt Thorsten Hellmann. Seine Frau wird ihre Bausparverträge ruhen lassen, die 24 Euro monatlich für Ver.di spart sie bereits. Auch wegen der mangelnden Unterstützung im Insolvenzverfahren sei sie aus der Gewerkschaft ausgetreten. „Es wird finanziell eng, aber wir werden irgendwie durchkommen“, sagt Thorsten Hellmann.
Doch trotz allem freuen sich die Hellmanns erst einmal auf Weihnachten. Am Abend werden Birgit, Vanessa, Thorsten und Michel im Wohnzimmer sitzen und Fondue essen. Sicherlich wird auch über Max Bahr gesprochen. Zum Ausklang des Heiligabends wird dann eine Runde gespielt – Mensch ärgere Dich nicht.