Das wird teuer: Die ersten US-Anwälte bereiten schon die Sammelklagen gegen BP vor – und verlangen 60 Milliarden Dollar für die Ölpest-Folgen.

Der einzige Roman, den Daniel Becnel in den vergangenen Jahren gelesen hat, war der über ihn selbst. Der Krimiautor John Grisham hat ihn unter einem anderen Namen in einem Buch verewigt. „King of Torts“ heißt das Werk: König des Schadenersatzrechts, in Deutschland ist es unter dem Titel „Die Schuld“ erschienen. Der Protagonist des Buches wacht jeden Morgen mit der Frage im Kopf auf, wen er denn heute verklagen soll. „Grisham hat sich schon mehrfach bei mir Tipps für seine Bücher geholt“, sagt Daniel Becnel nicht ohne Stolz.

Neuen Stoff für einen Krimi dürfte ihm auch der größte Fall liefern, an dem der Anwalt derzeit arbeitet. Becnel hat sich den Ölkonzern BP vorgenommen.

An dem Tag, als die Ölplattform „Deepwater Horizon“ unterging, hielt Becnel in Las Vegas eine Rede vor Kollegen. Als er fertig war, kam ein Freund auf ihn zu und fragte, ob er einer Witwe helfen könne, deren Mann bei der Explosion auf der Plattform ums Leben gekommen war. „In dem Moment wusste ich, das wird gigantisch“, sagt Becnel. „Das muss geplant werden wie die Invasion der Alliierten am D-Day. Denn das ist Krieg.“


Daniel Becnel ist 66 Jahre alt, seine Kanzlei hat er nie aus seinem Heimatort verlegt. Wer ihn engagieren will, findet ihn hier, in Reserve, einem 10.000-Einwohner-Städtchen im US-Bundesstaat Louisiana. Reserve ist von Tanklagern und Raffinerien umgeben, die Gäste in der örtlichen Kneipe genehmigen sich schon um die Mittagszeit die Dose Budweiser zum Preis von 1,75 Dollar. Hier ist Becnel groß geworden. Hier sieht er in seinem blau- weiß gestreiften Anzug mit goldenen Manschettenknöpfen und den weißen Schuhen vornehm aus und nicht albern. Und von hier aus macht er internationalen Konzernen das Geschäft zur Hölle.

Becnel gehört zu den erfolgreichsten Spezialisten für Sammelklagen in den USA, er hat für seine Klienten schon Millionensummen von der Tabakindustrie, von Pharmaunternehmen und Autoherstellern erstritten. Gegen Bayer geht er derzeit vor, weil deren Antibabypille Yasmin angeblich das Risiko eines Herzinfarkts erhöht. Von Toyota will er Entschädigung für die Opfer, deren Autos unkontrolliert beschleunigten.

Und als nächsten Kontrahenten hat er eben BP im Visier. Bis zu 60 Milliarden Dollar will er von dem Konzern, zehn Sammelklagen bei verschiedenen Gerichten in den USA hat er bereits eingereicht. Die 35.000 Klienten, die er dabei vertritt, müssen ihm keinen Cent zahlen. Dafür erhält Becnel, wenn er gewinnt, einen bestimmten Prozentsatz der Summe, die den Klägern vor Gericht zugesprochen wird. Die Beträge können astronomisch sein, denn das amerikanische Haftungsrecht kennt bei schuldhaftem Verhalten über den eigentlichen Schadenersatz hinaus auch den sogenannten Strafschadenersatz.

An Selbstbewusstsein mangelt es Becnel nicht. Im Eingang seiner Anwaltskanzlei hängt ein Bild des legendären amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln. Direkt daneben eines von Becnel selbst. Lincolns Bild ist ein einfacher Druck, Becnels Porträt dagegen ist ein Ölgemälde und doppelt so groß.

Geld ist auch genug da, längst müsste Becnel nicht mehr arbeiten. Aus seiner Schreibtischschublade fischt er einen Kontoauszug seiner Bank Merrill Lynch heraus. In den vergangenen paar Monaten hat er aus zwei Millionen Dollar das Doppelte gemacht, geht aus dem Stück Papier hervor. Und das ist nur eine von vielen Geldanlagen.

„Geld interessiert mich persönlich nicht“, fügt Becnel hinzu. Zum Beweis greift er wieder unter seinen Schreibtisch und wirft dieses Mal sein Scheckbuch auf den Tisch. So wie andere Leute morgens Brötchen kaufen, hat er an diesem Tag einfach mal 10.000 Dollar an eine Schule im Nachbarort gespendet, damit die neue Computer kaufen kann. „Ich übernehme solche Fälle, weil ich mich moralisch dazu verpflichtet fühle“, sagt Becnel.

Er sei katholisch, aber „nicht sonderlich religiös“. An besondere Werte außer den üblichen glaubt er auch nicht: „Bringe keinen Menschen um, stehle nicht, und tue Gutes“, sagt er. „Das ist meine Moralvorstellung.“ Aber er glaubt an die Macht des Geldes. Becnel kennt für jeden Schaden eine Summe, die ihn wiedergutmachen kann.

Vor ein paar Tagen war er im Badeort Destin in Florida. Dort erwarten die Anwohner jeden Tag, dass das Öl von BP bald auch ihre puderzuckerweißen Strände verklebt. Becnel hat in Destin mit Immobilienmaklern gesprochen, denen nun die Käufer für ihre Ferienhäuser abspringen. Akribisch tragen er und seine Mitarbeiter Fälle zusammen, bei denen den Leuten ein wirtschaftlicher Schaden wegen der Ölkatastrophe entsteht. Dazu gehören nicht nur Fischer, sondern auch Bewohner, deren Häuser an Wert verlieren. Genauso gut kann sich aber auch eine Lehrerin in New York beschweren, dass ihr Pensionsfonds in Aktien von BP investiert hat und sie nun um ihre Altersvorsorge bangen muss. Das amerikanische Recht setzt klagefreudigen Bürgern kaum Grenzen.

Und eine der Grenzen, die es gibt, verschwindet gerade. Eigentlich ist die Ölindustrie durch ein Gesetz geschützt, das die maximale Schadenersatzsumme auf 75 Millionen Dollar beschränkt. Im Gegenzug haben die Konzerne für jedes Barrel Rohöl, das sie selbst gefördert oder in die USA eingeführt haben, acht Cent in den Sonderfonds „Oil Spill Liability Trust Fund“ eingezahlt. „Ich bin überzeugt“, sagt Becnel, „dass sie das Gesetz nachträglich ändern werden“ – und dass der Washingtoner Kongress die möglichen Ansprüche von Klagenden auf Entschädigung drastisch nach oben korrigieren werde.

Dafür braucht der Anwalt keineswegs hellseherische Fähigkeiten. Becnel hat gute Verbindungen. In seinem Büro hat er zahlreiche Fotos von sich und Amerikas Politgrößen aufgestellt. Eines zeigt ihn in jungen Jahren neben dem republikanischen Präsidenten Ronald Reagan. Doch auf den meisten Bildern sind Demokraten zu sehen, gleich mehrfach ist Becnel neben Bill und Hillary Clinton zu sehen.

Gegenwärtig hat er sogar einen direkten Draht ins Weiße Haus. Bradley, sein jüngster Sohn, arbeitet für Barack Obama, als „Advance Man“ ist er vor Auftritten und Reisen des US-Präsidenten für die Logistik zuständig. Bradley Becnel hat auch mitgeholfen, Obamas jüngste Besuche an der Golfküste zu organisieren. Hätte Becnel senior dabei den Präsidenten treffen können? „Ja.“ Und? Hat er? „Nein.“ Dem Kläger-König ist klar, dass es besser ist, wenn die Öffentlichkeit über seine Kontakte nicht so genau Bescheid weiß.

Doch wenige Tage nach der Explosion der BP-Plattform hat eine Mitarbeiterin des Weißen Hauses Becnel nach den Namen renommierter Experten gefragt. Es ist unwahrscheinlich, dass der Anwalt ihr Fachleute genannt hat, die nicht in seinem Sinne argumentieren.

„Die politische Arbeit ist ebenso wichtig wie die öffentliche Meinung“, sagt Becnel. Daher ist er seit Tagen damit beschäftigt, Interviews zu geben und seine Experten im Fernsehen und den Zeitungen unterzubringen. Erst das letzte Drittel sei dann tatsächlich die juristische Arbeit.

„Genaue Planung und harte Arbeit“ machten ihn so erfolgreich, sagt er. Sein Büro ist voll mit Büchern über technische Details, die Eigenschaften bestimmter Materialien, das Ingenieurswesen. Becnel hat sie alle gelesen, mit Textmarkern bearbeitet und Zettel daran geklebt. Er liest sie sozusagen auf Vorrat. Denn irgendwann kommt der Moment, an dem er genau dieses Wissen brauchen kann.

Sein Wohnhaus ist nur ein paar Minuten mit dem Auto vom Büro entfernt. Es wurde von demselben Architekten gestaltet, der auch für Bill Gates arbeitet. Becnel hat ein Schlafzimmer für den Sommer und eines für den Winter. Der begehbare Kleiderschrank seiner Frau, die als Richterin arbeitet, birgt so viele Schuhe, Taschen und Kleider, dass man damit eine mittelgroße Boutique füllen könnte. Acht Hunde und 17 Mercedes-Limousinen besitzt das Ehepaar.

Und Becnel macht immer weiter, ihm reichen, wie er sagt, vier Stunden Schlaf. Seine Freizeit verbringt er nur mit „produktiven Hobbys“: Tiere jagen, im Garten arbeiten, Möbel bauen. Einen Golfschläger dagegen hat er noch nie in die Hand genommen: „Das ist reine Zeitverschwendung.“

Quelle: Welt Online