Einkommens-Schere in Deutschland geht laut OECD-Studie immer weiter auseinander. Obere zehn Prozent verdienen achtmal so viel wie untere.
Berlin/Paris. Reichtum und Armut in Deutschland driften immer weiter auseinander. Die obersten zehn Prozent der deutschen Einkommensbezieher verdienten 2008 mit 57.300 Euro jährlich etwa achtmal so viel wie die untersten zehn Prozent, wie eine am Montag veröffentlichte Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ergab. Deutschland, das vor der Jahrhundertwende noch zu den ausgeglichensten Gesellschaften der OECD gehörte, rutschte damit ins Mittelfeld ab.
In Europa hätten nur Finnen und Schweden einen größeren Schub in Richtung Ungleichheit erlebt, hieß es in der Studie. Allerdings gehörten beide Länder noch immer zu den ausgeglichensten in der OECD.
Die Untersuchung widerlegt die Annahme, dass Wirtschaftswachstum automatisch allen Bevölkerungsgruppen zugutekommt und Ungleichheit soziale Mobilität fördert. Im Gegenteil: „Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschaftskraft eines Landes, sie gefährdet den sozialen Zusammenhalt und schafft politische Instabilität“, wurde OECD-Generalsekretär Angel Gurría zitiert.
Im OECD-Schnitt stiegen die verfügbaren Haushaltseinkommen in den beiden Jahrzehnten vor der Finanz- und Wirtschaftskrise um 1,7 Prozent jährlich. Die größten Gewinne machten dabei den Erhebungen zufolge meist Gutverdienerhaushalte. In Deutschland sei diese Entwicklung besonders ausgeprägt: Die realen Haushaltseinkommen seien zwar um 0,9 Prozent jährlich gestiegen, bei den Niedriglöhnen seien davon allerdings lediglich 0,1 Prozent angekommen, während die oberen zehn Prozent ihr Einkommen um 1,6 Prozent steigern konnten.
Entscheidend sei die Entwicklung der Löhne und Gehälter, die laut Studie etwa 75 Prozent des Haushaltseinkommens ausmachen. In den vergangenen 15 Jahren habe sich in Deutschland die Lohnschere oben und unten bei den Vollzeitarbeitenden um ein Fünftel erweitert.
Aber auch zunehmende Teilzeitbeschäftigung trage zur Einkommensungleichheit bei. Seit 1984 sei der Anteil der Teilzeitarbeiter in Deutschland von 11 auf 22 Prozent gestiegen, also von knapp drei auf mehr als acht Millionen Menschen. Dazu sei eine Verringerung der Arbeitszeiten gekommen: Deutsche Geringverdiener hätten vor 20 Jahren im Durchschnitt noch 1.000 Stunden pro Jahr gearbeitet; 2008 seien es 900 Stunden gewesen. Menschen aus den oberen Einkommensklassen hingegen arbeiteten weiter rund 2.250 Stunden. Auch sozialer Wandel, etwa hin zu Alleinerzieher- und Single-Haushalten oder zu immer mehr Paaren in der gleichen Einkommensgruppe, vergrößere die Kluft.
Die umverteilende Wirkung von Steuern und Sozialtransfers sei in Deutschland mit 29 Prozent (OECD-Mittel: 25 Prozent) zwar groß, konnte aber das Auseinanderdriften nicht komplett verhindern, wie die Wissenschaftler ermittelten. Sie erläutern verschiedene Wege, die den Trend zu größerer Ungleichheit stoppen und sogar umkehren können. Mehr Menschen in Lohn und Brot zu bringen und hochwertige Arbeitsplätze mit echten Karriereaussichten zu schaffen, verspreche die größten Erfolge. Voraussetzung seien Investitionen ins Potenzial der Arbeitskräfte. (dapd/abendblatt.de)