Im Seemannsheim Hamburg treffen sich ehemalige Matrosen und Offiziere aus vielen Nationen. Manch einer findet hier ein Stück Heimat.
Hamburg. Heimat, das ist für Enrico Stirli dort, wo er gerade steht und geht. Sein Geburtsland, die Schweiz, hat er 1978 verlassen. Er sah die Welt und kehrte nach Hause nicht zurück. "Ich habe die Schweiz nie vermisst", sagt der 58-Jährige. Mit den Eltern überworfen, mit der Schwester nicht mehr in Kontakt, so lösten sich familiäre und auch andere Bande über die Jahre auf.
Heimat, soweit er eine solche für sich braucht, ist für den früheren Seemann Stirli heute das Seemannsheim Hamburg im Krayenkamp. Seit 2003 ist er in Hamburg gemeldet. Mit seinem Mitbewohner Abdul Affan, 64, aus dem Libanon steht er im Gesellschaftsraum bei einer Partie Billard, freut sich auf das Abendessen und überhaupt seines Lebens. "Wenn man hart gearbeitet hat, sollte man doch auch noch Zeit zum Genießen haben, oder?", sagt er und setzt seinen Queue zum Stoß über dem grünen Filz an. Insgesamt 23 Jahre lang fuhr er zur See, unter anderem für die Hamburger Rederei Claus Peter Offen. Doch das ist lange her.
+++ Ein Logenplatz in 54 Meter Höhe +++
+++ Tunnel und Seilbahn - Eine Hafenvision +++
+++ Neue Groß-Containerschiffe werden deutlich effizienter +++
1996 heuerte Stirli zum letzten Mal an. Mittlerweile bezieht er eine kleine Rente. Die Seefahrt fehlt ihm so wenig wie die Schweiz. "Die Containerschifffahrt von heute ist mit der Stückgutfahrt zu meiner Zeit nicht zu vergleichen, viel zu hektisch. Wir lagen manchmal Wochen in den Häfen, bevor die Schiffe gelöscht und beladen waren. Heute dauert das doch höchstens mal ein, zwei Tage." Eine nette Bekanntschaft in einer Hafenstadt? "Hatten wir früher", sagt Stirli, "aber dafür ist ja heute gar keine Gelegenheit mehr."
Das Heim der Deutschen Seemannsmission ist vieles zugleich: unter anderem eine Herberge für Touristen, die hier ein Zimmer für 36 Euro bekommen können. Vor allem aber ist es Anlaufstelle für Seeleute, die ein paar Tage oder Wochen in Hamburg bleiben wollen, um an Elbe und Alster Urlaub zu machen, Arbeit zu suchen, alte Kollegen aus der Schifffahrt wiederzutreffen. Und es ist Heimstatt für jene, die ihr Leben lang über die Meere fuhren und nun keinen Grund mehr haben weiterzuziehen. Zwölf Euro kostet das Zimmer für Gäste mit Seefahrtsbuch. Wer monatsweise mietet, bekommt es billiger. 83 Zimmer hat das Seemannsheim, 45 sind für Langzeitgäste reserviert. Rund 23 000 Übernachtungen zählte das Heim im vergangenen Jahr.
Manche der Gäste müssen sich eine Zeit lang in Deutschland niederlassen, auch dafür ist der Krayenkamp die richtige Adresse. "Ein Seemann, der auf einem Schiff unter deutscher Flagge gefahren ist, hat Anspruch auf eine Rente", sagt Inka Peschke, die Geschäftsführerin des Heims. "Sie wird mit 55 Jahren fällig. Wer zuvor aus Deutschland weggeht und nicht aus einem Land der Europäischen Union stammt, verliert seinen Anspruch." So schlagen sich manche Seeleute, die im Heim wohnen, mit Arbeitslosengeld oder Jobs an Land bis zur Altersgrenze durch.
Seit acht Jahren leitet Peschke, die aus einer Reederfamilie stammt, das Seemannsheim. Gemeinsam mit festen und ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut sie die Gäste. Vieles hat das Haus gemein mit früheren Arbeitsplätzen der gelernten Hotelfachfrau: die Zimmer, der Speisesaal, der Gemeinschaftsraum mit der Bar und der kleinen Kapelle. Doch die Lebensumstände der Bewohner unterscheiden sich deutlich von denen konventioneller Herbergsgäste. "Wir sind für viele hier eine Art familiärer Mittelpunkt", sagt Peschke in ihrem Büro. Das Heim ersetzt dem einen oder anderen die fehlende Geborgenheit von Heimat und Familie, von Freunden und Bekannten. Mit einer Reihe von Veranstaltungen, darunter auch mal Skurriles wie einem Wettbewerb im Gummistiefelweitwerfen, mit Sport oder mit Wandertagen schaffen Peschke und ihre Mitstreiter einen Rahmen für die Bewohner. Das ist eine multikulturelle Aufgabe: Fast 50 Nationen umfasst der Besucherkreis in der Regel.
Ende des 19. Jahrhunderts legte eine Initiative in Hamburg das Fundament für das spätere Seemannsheim. Reeder beteiligten sich daran, auch die Kirche und mancher Bürger in Sorge um das Gemeinwohl. Die Seefahrt war ein Massenberuf und Hamburg eine der wichtigsten Hafenmetropolen der Welt. In der Stadt registrierte man wachsende Verwahrlosung und Sittenverfall bei vielen der wackeren Hochseeschiffer, deren Frachter oft wochenlang im Hafen lagen. Verdruss, Alkoholismus und Kriminalität mischten sich mehr und mehr in das Treiben an der Hafenkante.
Das heutige Arbeitsprofil des Seemannsheims hat damit nichts mehr zu tun. Die Zahl der deutschen Seeleute, die noch auf Schiffen unterwegs sind, ist auf unter 8000 gefallen. Auch international kommt dem Beruf keine bedeutende Größenordnung mehr zu, obwohl der Welthandel stetig wächst und damit auch die Zahl der Frachtschiffe. Doch riesige Tanker oder Containerfrachter werden heutzutage mit minimalen Besatzungen gefahren, mitunter sind weniger als 20 Menschen an Bord - auf einem Stückgutfrachter wie der "Cap San Diego" waren es gut dreimal so viele.
Vor allem aber fahren die Containerschiffe nach straffem Fahrplan und unter hohem Zeitdruck. In den Häfen werden die Schiffe mit Großtechnik in kürzester Zeit ent- und wieder beladen. Der schunkelnde Seemann mit Quetschkommode auf der Reeperbahn - heute reiner Postkartenkitsch. Wenn die Seeleute in Hamburg mal von Bord gehen können, besuchen sie gern das bekannte Duckdalben nahe dem Eurogate-Terminal in Waltershof, vertreiben sich bei Billard oder Musik einen Nachmittag oder Abend, telefonieren mit Angehörigen oder schreiben E-Mails.
Wer aber aus dem ewigen Strom des Welthandels herausgespült wurde, wer nicht mehr mitfahren kann, darf oder will, der landet im Zweifelsfall im Krayenkamp. Und dort wartet nicht selten die Einsamkeit. Besonders zu Weihnachten tut sie weh, besonders dann, wenn es vielleicht doch irgendwo eine Liebste oder eine Familie gibt. "An Heiligabend machen wir ein gemeinsames Essen, es gibt einen Weihnachtsbaum, am ersten Feiertag ein kleines Unterhaltungsprogramm", sagt Peschke. "Und viele Seeleute gehen an den Festtagen gern in die Gottesdienste."
Bei Enrico Stirli und Abdul Affan am Billardtisch ist von Schwermut an diesem Abend keine Spur. Allmählich füllt sich der Gemeinschaftsraum mit anderen Bewohnern, Gespräche heben an. Stirli spinnt gerade ein bisschen Seemannsgarn darüber, wie es so war damals an Bord. Aber sein Freund will die Partie vor dem Abendessen noch gewinnen. "Erzähl nix, Enrico", sagt er, "und mach endlich deine Kugeln rein."
Morgen: Ein Tag mit Hafenchef Jens Meier
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