In den 70er-Jahren übernahm der Stuttgarter Autobauer Daimler die ehemalige Vidal & Sohn mit dem legendären Transporter Tempo.
Hamburg. Reimer Schultz erinnert sich noch genau an den Tag, als Mercedes nach Harburg kam. An den 2. Januar 1978, als das tonnenschwere Logo der Luxusmarke unter den rauchenden Schornsteinen der Arbeiterstadt erwartet wurde. Das Ereignis stand nicht gerade unter einem guten Stern. "Wir hatten für diesen Tag die Pressekonferenz zur Gründung eines eigenständigen Daimler-Werkes in Harburg einberufen. Ich war dafür zuständig, dass der Fünf-Meter-Stern aufs Dach kommt. Und dann streikte der Hersteller in der Schweiz", sagt der ehemalige Automanager. Die drohende Peinlichkeit wurde verhindert, indem Daimler ein für Düsseldorf bestimmtes Logo zur Harburger Autofabrik umleitete und in letzter Minute provisorisch auf der Halle befestigte, sodass alle Beteiligten an dem wichtigen Tag auf wenig Wind hofften.
Reimer Schultz, weiße Haare, roter Pullover, sitzt in seinem Wohnzimmer in Barsbüttel, das Buch über den legendären Tempo vor sich auf dem rustikalen Holztisch. Der heute 75-Jährige hat sein gesamtes Berufsleben bei dem Harburger Fahrzeugwerk verbracht. Er hat miterlebt, wie Vidal & Sohn, der Hersteller der anfangs dreirädrigen Tempo-Vehikel schon vor Jahrzehnten weltweite Bedeutung erlangte. War dabei, als die Fabrik zweimal den Besitzer wechselte und beendete seine berufliche Laufbahn als Führungskraft bei dem Hersteller, der lange Jahre Daimler und Benz in seinem Namen führte, die Erfinder des ersten Automobils, das übrigens ebenfalls ein Dreirad war.
"Das war schon was, Daimler", erinnert sich Schultz an die Tage, als sich die Belegschaft des Tempo-Werkes bewusst wurde, bald zu einem Weltkonzern zu gehören. Schon im November 1968 hatten die Schwaben eine erste Abordnung in die Fabrik nach Hausbruch geschickt, "alles war top secret". Schultz, der für das Museum der Arbeit in Barmbek Zehntausende Dokumente des Autobauers für das Archiv aufbereitet hat, kann sogar aus dem Geheimbericht der Delegation zitieren: "Hamburg wirkt veraltet und überbelegt", heißt es da wenig schmeichelhaft über die Fabrik im hohen Norden.
Doch die "hohe Ausbringung" trotz kläglicher Investitionen sei schon eine "gute Leistung", urteilten die Schwaben letztlich gönnerhaft. Die durchwachsene Bewertung führte 1969 zu einer ersten Beteiligung Daimlers an der Tempo-Fabrik. Offenbar ein lohnendes Engagement, denn es gipfelte in den 70er-Jahren in einer 100-prozentigen Übernahme durch die Stuttgarter. Zuvor hatte das Tempo-Werk in einem kurzen Zwischenspiel unter dem Dach von Rheinstahl-Hanomag 25 000 Transporter im Jahr produziert.
Familie Vidal wollte mit dem Tempo den Kohlentransport komfortabler machen
Warum funktionierte die Ehe von Tempo und Daimler besser als die Hochzeit im Himmel mit Chrysler? Für Schultz ist die geglückte Nord-Süd-Beziehung kein Zufall: "Wir hatten den Tempo gebaut. Er war das Wirtschaftswunder-Lastauto. Und Daimler hatte mit dem Mercedes 170 V den Wirtschaftswunder-Luxuswagen erfunden."
Den Grundstein für die Fabrik hatte 1935 die Familie Vidal gelegt. Sie verfolgte mit dem Fahrzeugbau die Idee, den Kohlentransport komfortabler zu gestalten. Obgleich auch die Borgwards aus Bremen bereits brauchbare motorisierte Dreiräder wie den Goliath herstellten, hatten die Vidals mit dem Tempo Erfolg. Schon wenige Jahre später hörte man in Harburg auf die Frage "Wo ist ihr Mann beschäftigt?" meist: "Der ist auf die Tempo", erinnert sich Schultz schmunzelnd. Er selber begann dort 1953 als einer von 2000 Mitarbeitern seine Lehre, vervollständigte die Ausbildung durch ein Studium im Kfz- und Flugzeugbau und leitete zuletzt die Instandhaltung bei Daimler in Harburg, die bis heute als Komponentenwerk vorwiegend Achsen an andere Standorte des Autobauers liefert.
Schon während der Lehrjahre des Ingenieurs war der Erfolg des Tempo-Lieferwagens auf seinem Höhepunkt angelangt. Bis 1950 hatte die Fabrik bereits 100 000 Fahrzeuge ausgeliefert.
In den 1950er-Jahren war Tempo Marktführer bei kleinen Transportern
1955 waren mehr kleine Nutzfahrzeuge von Tempo auf den Straßen unterwegs als von jedem anderen Hersteller. "Das Besondere an dem Auto war die unglaubliche Vielfalt an Nutzungsmöglichkeiten", sagt Schultz. Da der Motor vorne eingebaut war, konnten hinten alle möglichen Aufbauten montiert werden. So dienten die Laster aus Harburg als Transporter, Abschleppwagen oder als Omnibus.
Aber nicht nur die Variabilität der Produkte, sondern auch der Unternehmergeist der Gründerfamilie Vidal galt als Motor des Aufstiegs der Marke. Die Gründer wohnten anfangs auf dem Werksgelände. "Wir bauten als Kinder ganze Dörfer aus den Holzkisten, in denen die Motoren geliefert wurden", erinnert sich Edmund Vidal, der heute 80-jährige Sohn des Mitgründers Oscar Vidals. Zwar wurde so mancher Lehrling in der Unternehmervilla beim Teppichklopfen gesehen. Grundsätzlich galten die Vidals, die wenig später an die Außenalster zogen, allerdings als sehr sozial: "Als ich in den Betrieb kam, gab es einen Chor, eine Bücherei, eine medizinische Versorgung", sagt Schultz. Nicht nur das: "Die Haare wachsen im Betrieb, dort sollen sie auch abgeschnitten werden", meinte Oscar Vidal und beschäftigte für die Mitarbeiter einen eigenen Friseur. Der Verkauf des Unternehmens war schließlich Folge der Einsicht, die immer teurere Entwicklung von Fahrzeugen als Familienfirma nicht mehr allein stemmen zu können. "Konkurrenten wie der VW-Transporter, im Volksmund Bulli genannt, machten uns das Leben schwer", so Vidal. Sein Vater machte bei dem Verkauf zur Bedingung, dass Rheinstahl die komplette Belegschaft übernehmen musste.
Eines konnte er allerdings nicht verhindern: Der Friseur wurde unter dem neuen Arbeitgeber abgeschafft. "Da die Haare aber weiter wuchsen, wurden sie auch weiter im Betrieb geschnitten", so Schultz. Heimlich, in einem Versteck im Tempo-Möbelwagen.
So wie in Harburg unter den neuen Eignern das Leben seinen Lauf nahm, ging es 10 000 Kilometer weiter östlich mit dem Tempo weiter. Die Vidals schlossen ein Joint Venture mit der indischen Firma Bajaj und verschifften die Produktionsanlagen 1962 komplett auf den Subkontinent. Die Tempo-Dreiräder wurden dort noch bis 2000 gebaut. Zum Dank schickt der indische Unternehmer bis heute jedes Jahr ein Paket baumfrische Mangos an die Adresse der Vidals an der Alster.