Auch wenn es Griechenland gelingen sollte, seinen Haushalt zu sanieren, stehen dem Land harte Herausforderungen bevor. Die wichtigen Wirtschaftsbereiche Tourismus und Schifffahrt müssen neu aufgestellt werden. Aber am schlimmsten steht es um das griechische Bildungssystem.

Es schien eine gute Entscheidung für George Bardis, Branche und Beruf zu wechseln. Mehrere Jahre hatte er an einer neuen Universität im Norden Griechenlands ein Fach studiert, das die griechische Regierung als aussichtsreich und jobsichernd beworben hatte. Doch von mehreren Absolventenjahrgängen fand gerade ein Absolvent einen Job im Staatsdienst - alle anderen mussten umschulen oder sich nach anderen Stellen umsehen.

Bardis (26), dessen Namen geändert ist, weil er Reaktionen staatlicher Vorgesetzter fürchtet, entschied sich für den Tourismus. „Dieses Geschäft läuft bei uns immer“, dachte sich Bardis. Er bewarb sich bei einer der vier griechischen Fremdenführer-Schulen und wurde unter gut 3000 Bewerbern für einen von 140 Plätzen aufgenommen. Der Job ist gut bezahlt, mindestens 130 Euro pro Arbeitstag - in Griechenland immer noch viel Geld. Und wer geschickt ist, kann mit Verkaufsbeteiligungen der Händler zuverdienen, indem er ihnen zahlungskräftige Touristen zuführt

Freilich sind auch die Fremdenführerschulen in Griechenland in Staatshand. Und so kam es, dass Bardos seine zweieineinhalb Jahre dauernde Ausbildung im Frühjahr 2008 mit drei Monaten Verzögerung begann: Zuvor war der Tourismusminister gefeuert, die Anstellung der mit Zeitverträgen arbeitenden Lehrkräfte gestoppt worden. Ein halbes Jahr nach Studienbeginn wechselte der Minister abermals – wieder ruhte der Studienbetrieb für Monate.

Die Stop-and-Go-Ausbildung ist nicht das einzige Handicap, mit dem Bardis kämpfen muss, wenn er seine Ausbildung Ende 2010 abgeschlossen hat.

Griechenlands Tourismus ist in der Krise. Das ist umso folgenreicher, als er dem World Travel and Tourism Council zufolge für 16,2 Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung steht und jeden fünften Arbeitsplatz sichert. Wenn die überschuldete Regierung nun den Haushalt und öffentliche Ausgaben zusammenstreicht, ist Griechenland mehr denn je darauf angewiesen, dass Touristen die Akropolis stürmen und sich an griechischen Stränden aalen.

Das aber ist nicht sicher. Von Januar bis November 2009 nahm Griechenland durch ausländische Touristen 10,8 Prozent weniger ein als 2008. Noch dramatischer ist der Einbruch beim innerländischen Tourismus. Viele Griechen machen im Sommer im eigenen Land Urlaub. Ihr Beitrag steht für die Hälfte des gesamten Tourismus – und ist weit im zweistelligen Bereich zurückgegangen.

Gewiss: Nicht nur in Griechenland ist der Tourismus in der Wirtschaftskrise eingebrochen. Die Regierung in Athen kalkuliert bei ihrem Sanierungskonzept damit, dass der Tourismus wieder stark zulegt. Nicht alle sind so optimistisch. Griechenland ist teuer: Ein Cappuccino kostet in Athen bis zu fünf Euro, ein kleines Bier vier Euro.

Zudem genügen viele griechische Hotels und andere Tourismusanlagen modernen Komfortansprüchen nicht oder sind veraltet. „Die Griechen haben noch nicht begriffen, dass Sonne und Strand nicht automatisch ausreichen“, sagt Wirtschaftsforscher Jens Bastian von der Stiftung für Außen- und Europapolitik (Eliamap) in Athen. „Die Preise sind hoch, der Service oft schlecht. Viele Touristen sagen sich: Da fahre ich lieber nach Kroatien oder in die Türkei. Diesen Trend könnte die Krise noch verstärken.“

Der fragile Tourismus ist die nicht einzige Achilles-Ferse der griechischen Wirtschaft. Auch die Schifffahrtsindustrie, die mit weltweiten Transporten 2008 noch knapp zehn Milliarden Euro zum Bruttoinlandsprodukt von 326 Milliarden Euro beitrug, ist schwer abgestürzt: Von Januar bis November 2009 verzeichnete sie ein Minus von 35,8 Prozent und einen Umsatzrückgang auf 6,5 Milliarden Euro.

Auch andere Indikatoren sind alarmierend: Der Einzelhandelsumsatz stürzte um zehn Prozent ab, Investitionen in Produktionsmittel gar um 25 Prozent. „Griechenland ist eine sehr kleine Wirtschaft und kann seine Wachstumsdynamik durch den Export von Waren und Dienstleistungen wie Tourismus und Schifffahrt (nur) in einer Weltwirtschaft, die einen robusten Wachstumspfad einschlägt, wiedergewinnen“, urteilen die Ökonomen der Alpha-Bank in Athen.

Alternativen hat Griechenland bisher nicht, stellt der auf Griechenlands Wettbewerbsfähigkeit spezialisierte Robert McDonald von der Economist Intelligence Unit fest. Es gibt so gut wie keine griechischen High-Tech-Produkte. „Das Land unternimmt minimale Forschung und Entwicklung, um neue Produkte zu entwickeln.“

Bei Industrie- und Konsumgütern, wie Griechenland sie in ehemalige Ostblockländern wie Rumänien oder Bulgarien verkauft, begännen die Käufer, sich für hochwertige Waren eher bei nordeuropäischen Produzenten umzusehen - und für preiswerte Grundprodukte in China oder Dritte-Welt-Ländern. „Kurzum – sie sehen sich nach mehr Gegenwert für ihr Geld um. Griechenland ist an beiden Enden des wirtschaftlichen Spektrums wenig wettbewerbsfähig“, urteilte McDonald.

Um dies grundlegend zu ändern und seine Wettbewerbsfähigkeit mittel- und langfristig zu erhöhen, muss Griechenland Spezialisten der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung (OECD) zufolge vor allem eines tun: sein Bildungssystem modernisieren. Die Lehrpläne in Schulen, Universitäten und Fachhochschulen sind veraltet, sie bekommen wenig Geld vom Staat - und sind oft Geisel der beiden großen Parteien. Schon griechische Gymnasiasten können nicht mit denen anderer Länder mithalten. Beim PISA-Bildungsvergleich 2006 leisteten griechische Schüler bei Mathematik, Lesen und Wissenschaft deutlich weniger als der OECD-Durchschnittsschüler. Und Griechenland gibt von allen OECD-Ländern am wenigstens für die Bildung aus.

Staatliche Versäumnisse werden privat kompensiert

Griechische Eltern geben schon während der Schulzeit oft ein Vermögen aus, damit ihre Kinder es überhaupt auf die Universität schaffen. Der Unterricht ist in vielen Schulen so schlecht, dass Privatlehrer Abiturienten fit für die Aufnahmeprüfungen der Universitäten machen. Anastasia Iliopoulo, eine schöne Frau mit roten Haaren zum nachtblauen Kleid, arbeitet in einem Athener Schönheitssalon und verdient gut 1000 Euro. Auch ihr Mann hat einen Job. Von ihren drei Kindern will die älteste Tochter in diesem Jahr auf die Universität. „Wir geben jeden Monat allein für ihre Nachhilfe 150 Euro aus – und so geht es fast allen griechischen Familien.“ Die OECD schätzt, dass Griechen allein für die privaten Uni-Vorbereitungen eine Milliarde Euro im Jahr ausgeben – mehr als für die ebenfalls notorisch verbreiteten Bestechungsgelder für Staatsdiener.

Die Probleme enden nicht mit der Aufnahme in die Hochschule. Andreas Andreanopoulos, langjähriger Minister und Parlamentarier, unterrichtet heute als Dozent am Institut für Diplomatie und Weltpolitik in Athen. „Ich bekomme oft Studenten selbst renommierter Universitäten, die unfähig zum selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten sind. In Griechenland dominiert immer noch stumpfsinniges Auswendiglernen in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Das verhindert im 21. Jahrhundert, als Gesellschaft wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Das Shanghai Jiao Tong-Universitätsranking sieht unter den weltweit 500 besten Hochschulen nur zwei aus Griechenland; der Höhere Bildungsindex der englischen Times sieht die Universität von Athen auf dem letzen Platz von 200 Top-Universitäten. Wohlhabende Griechen schicken ihre Kinder deshalb oft ins Ausland – Andrianopoulos’ Sohn lernt an einer englischen Schule.

Das akademische Niveau wird nicht nur durch veraltete Lehrpläne gesenkt. Die Universitäten werden von den sich an der Regierung abwechselnden zwei großen Parteien kontrolliert: den konservativen Neuen Demokraten und den Sozialisten der PASOK. „Die Kontrolle funktioniert über ihre allgegenwärtigen Studentenvereinigungen“, schildert Ex-Student Bardis. „Sie verteilen Mitschriften von Vorlesungen, ermuntern ihnen nahestehende Professoren, ‚unsere Leute’ durch die Prüfungen zu bringen und gut zu benoten. Oder sie verteilen gleich die Fragen der bevorstehenden Examen.

Die Studentenvereinigungen entscheiden auch über Beförderungen von Professoren mit – und sie sind das klassische Trainingslager für Griechenlands Gewerkschafter und Politiker.“ Auch Reformideen haben an den Universitäten wegen der politischen Lagerbildung einen schweren Stand: „Will die Regierung etwas ändern, ruft die Studentenvereinigung der anderen Partei gleich zu Gegendemos auf – oder besetzt gleich ganz die Uni“, erinnert sich Bardis an seine Erfahrung in vier Jahren Studium.

Ob an den Hochschulen oder in anderen Bereichen von Wirtschaft und Politik: Griechenland wird nicht um eine regelrechte Kulturrevolution herumkommen. „Als Individuen können Griechen sehr wettbewerbsfähig sein, wie unsere Karrieren in Europa oder den USA beweisen“, sagt der Chef von Transparency International Griechenland, Konstantin Bakouris. Bakouris arbeitete selbst jahrzehntelang für den US-Konzern Union Carbide und andere Unternehmen, bevor er in Griechenland die Olympischen Spiele 2004 mitorganisierte und vor drei Jahren die Leitung von TI Griechenland übernahm. „Im eigenen Land haben wir Griechen die Politiker nie gezwungen, einen effektiven Staat aufzubauen. Damit müssen wir nun beginnen, wenn wir wieder wettbewerbsfähig und aus der Krise herauskommen wollen.“

Quelle: Welt Online