Zehn Jahre nach der Wende gibt es sie tatsächlich, die vom Einheitskanzler Kohl heraufbeschwörten blühenden Landschaften. Eine Bilanz.
Berlin. Ostdeutschland, 20 Jahre nach dem Mauerfall: Eine größere Industriedichte als in den USA und ein kräftigeres Wachstum als in den alten Bundesländern – aber auch eine hohe Arbeitslosigkeit und eine starke Abwanderung junger Fachkräfte. „Es gibt zwischen Rügen und Erzgebirge blühende Landschaften, und es gibt viele Brachen“, sagt Ostexperte Udo Ludwig vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Die Industrie ist nach einem Radikalumbau wieder konkurrenzfähig. Doch ob der Osten jemals das Wohlstandsniveau des Westens erreichen wird, bezweifeln viele Experten.
Glanz und Elend der ostdeutschen Wirtschaft werden an der A4 sichtbar. Entlang der Autobahn zwischen Eisenach und Dresden haben Konzerne moderne Werke hochgezogen – von Opel und Bosch über Fujitsu Siemens bis VW. Milliarden wurden hier investiert, Zehntausende Arbeitsplätze geschaffen. Dank solcher Leuchttürme ist die Wirtschaft in den neuen Ländern zwischen 2000 und 2008 doppelt so schnell gewachsen wie die westdeutsche, hat sich die Wirtschaftsleistung je Einwohner seit der Wiedervereinigung mehr als verdoppelt, ist der Industrieanteil größer als in den USA, Großbritannien und Frankreich. „Die einst marode Industrie hat Anschluss an die internationale Spitze gefunden“, sagt Ludwig.
Vielleicht ist das der Grund dafür, warum die neue Bundesregierung den wichtigen Bereich Aufbau Ost vom Verkehrs- ins Innenministerium verlagert. Offenbar wird der Osten nicht mehr mit ökonomischen Problemen verbunden, sondern als Sicherheitsrisiko eingestuft, wie Spötter meinen.
Zuwenig Jobs für Hochqualifizierte
Doch entlang der A4 werden auch die wirtschaftlichen Probleme sichtbar, mit denen der Osten zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer kämpft. Egal ob Opel oder VW: Forschung und Entwicklung wird weiter in den westdeutschen Konzernzentralen betrieben – viele der Vorzeigebetriebe sind nur deren verlängerte Werkbank. „Vor allem fehlt es an höherwertigen Arbeitsplätzen“, beklagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann. Es mangelt an zukunftsträchtigen Branchen, sieht man von Ausnahmen wie der Solar- und Windenergiebranche ab. Es gibt viel zu wenig große Unternehmen, die sich Forschung und Innovation leisten können.
Schlecht sieht es auch bei den Dienstleistern aus. „Hier gibt es einen eklatanten Mangel an höherwertigen Aktivitäten - wie Software-Entwicklung, Unternehmensberatung oder Werbung“, sagt DIW-Chef Zimmermann. Junge Fachkräfte und Hochqualifizierte wandern deshalb der besseren Karrierechancen wegen gen West ab. „Der Osten blutet großflächig aus“, warnt Wissenschaftler Harald Uhlig von der University of Chicago. „Jedes Jahr verschwindet etwa ein Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 29 Jahren.“
Das Problem wird sich in den kommenden Jahren verschärfen. „Es droht ein akuter Fachkräftemangel, denn jetzt kommen die geburtenschwachen Jahrgänge“, warnt Klaus-Heiner Röhl vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Seit der Wende hat sich der Zahl der Schulabgänger mehr als halbiert. Wird nicht gegengesteuert, ist bald nicht mehr die hohe Arbeitslosigkeit das größte Problem im Osten, sondern das Fehlen von Fachkräften.
"Bildung ist die Lösung"
Was tun? Mehr als 1000 Milliarden Euro sind seit 1990 netto von West nach Ost geflossen. Auf ähnliche Finanzspritzen kann der Osten nicht mehr hoffen. Die Investitionszulage etwa, mit der die Ansiedlung der Industrie großzügig gefördert wird, läuft 2013 aus. „Die Zeiten großer Sonderprogramme sind vorbei und auch unnötig“, sagt Röhl. „Jetzt geht es um das Feintuning.“
Ökonomen halten die Bildung für die wichtigste Stellschraube, um die Zukunft des Ostens zu sichern. „Drei Dinge sind notwendig: erstens Bildung, zweitens Bildung, drittens Bildung“, sagt IWH-Experte Ludwig. Da es nicht zuletzt wegen der Finanzkrise kaum noch zu größeren Neuansiedlung kommen dürfte, muss die Wirtschaft aus sich selbst heraus wachsen, indem sie bessere Produkte anbietet. Das geht nur mit qualifizierten Mitarbeitern.
Ökonomen trauen Ostdeutschland zu, den Abstand zum Westen weiter zu verringern. Ganz schließen lässt sich die Wohlstandslücke aber auch in den nächsten 20 Jahren nicht, womöglich sogar nie. Dazu fehlt es an Ballungszentren wie in Baden-Württemberg, wo Hunderte Weltmarktführer zu Hause sind und hohe Löhne gezahlt werden. Auch ein Finanzplatz wie Frankfurt oder ein Wirtschaftszentrum wie München mit dem Stammsitz von Weltkonzernen wie BMW, Allianz und Siemens ist nicht in Sicht. „Niemand kann erwarten, dass der Bayrische Wald bei der Wirtschaftskraft zu München aufschließen kann“, sagt DIW-Chef Zimmermann. „Dasselbe gilt für große Teile Ostdeutschlands.“