Die Experten in der Hamburger Kirchenallee können sich vor Anfragen kaum retten. Ging es früher vor allem um Rat bei Fehlkäufen, fürchten die Menschen heute oft um den Verlust ihrer Ersparnisse.
Hamburg. Dass er einmal hier landen würde, hätte der Mann mit der schwarzen Lederjacke und der Plastiktüte nicht für möglich gehalten. Wer jedoch sein gesamtes Erspartes auf einen Schlag verloren hat, sucht allerorten Hilfe. Vor allem bei der Verbraucherzentrale Hamburg (VZHH), Kirchenallee, direkt am Hauptbahnhof. Warteraum Hochparterre. Auslegeware, fest installierte Stühle. Moderne, schlichte Einrichtung. Stimmung wie beim Zahnarzt. Nur bedrückter. Morgens kurz nach zehn. Stumm sitzt der Mann mit der Lederjacke und dem wettergegerbtem Gesicht in der Ecke. In der linken Hand lässt er eine Plastiktüte baumeln, darin ein Stapel Akten und Papiere. Erst das Versprechen, seinen Namen nicht zu nennen, macht ihn gesprächig. "Ich habe mein gesamtes Erspartes verloren", presst er leise hervor, "praktisch über Nacht, wie vom Winde verweht." Was tun? Er hofft auf Rat.
Eine junge Frau zwei Plätze weiter wartet seit Monaten auf das bestellte und versprochene Auto. Hat sie ein Rücktrittsrecht? Die nächste ist in eine Internetfalle getappt: 64 Euro für einen kurzen Klick. Gibt's Geld zurück? Und der Vierte hat sein komplettes Vermögen auf Rat seiner Bank in einen hoch spekulativen Fonds gesteckt. Wackelig hoch drei. Nun fürchtet er um seine Altersversorgung.
Ist alles verloren? Verärgerte oder angstvolle, überwiegend hilflose Gesichter dominieren in den Wartezonen. Das gemeinsame Warten, die kollektiven Nöte verbinden: Nach und nach kommt man ins Gespräch. Als der alte Mann mit der Plastiktüte und dem verlorenen Vermögen sein persönliches Drama erzählt, kehrt wieder Schweigen ein. Keiner kann ihm Hoffnung machen, auch später in der persönlichen Beratung nicht.
Eine Wartezone weiter harrt Marius Benesch (52) aus Reinbek. Wutentbrannt und lautstark erklärt er sein Dilemma. An der Haustür hat er drei Probeausgaben einer Zeitschrift bestellt. Dachte er. Nun soll er ein Zweijahresabo bezahlen. Viel Geld für einen, der jeden Euro umzudrehen pflegt. Ausgestattet mit handfesten Informationen über sein Rücktrittsrecht vom Kaufvertrag und einem Infoprospekt zu diesem Thema verlässt er wenig später die Zentrale. Ein anderer fühlt sich von einer Partnervermittlung übers Ohr gehauen. Drei Kleinanzeigen, so berichtet er, hätten ihn über 1000 Euro gekostet. Der Studentin neben ihm wurde eine DSL-Leitung für das Telefon aufgeschwatzt - plötzlich erhält sie hohe Rechnungen von einer anderen Gesellschaft.
Sorgen über Sorgen. Schon vor zehn Uhr hatte sich eine große Traube vor der Drehtür gebildet; im Minutentakt kommen neue Ratsuchende hinzu. Nummern werden gezogen. Wer Glück hat, wird sofort an den Beratungstisch gebeten, andere müssen bis zu zwei oder drei Stunden warten. Geht es nicht um alltägliche Verbraucherrechte bei Einkauf, Reise, Handwerkerrechnungen oder Dienstleistungen, werden Termine vereinbart. Anders ist dem aktuellen Ansturm nicht mehr Herr zu werden. Herrschte im siebenstöckigen Haus schon früher die Betriebsamkeit eines Bienenstocks, so haben die Turbulenzen auf dem Finanzmarkt zum Ausnahmezustand geführt.
Viele haben einen Teil ihres Vermögens verloren, einige alles. Andere bangen um die Sicherheit ihrer Spareinlagen. Fünf Aufklärungsabende mit insgesamt 1200 Geschädigten wurden in den Großen Saal des Rudolf Steiner Hauses am Mittelweg und in die Aula der Hochschule für Angewandte Wissenschaften am Berliner Tor verlagert. Sie sind längst ausgebucht.
Persönliche Beratungen zum Anlegerschutz sind bis Februar vergeben. 45 feste und 60 freie Mitarbeiter der Verbraucherzentrale haben zu tun wie noch nie seit der Gründung vor 51 Jahren. In der Regel werden drei Termine je Stunde angesetzt.
"Beratungsbedarf und Verunsicherung sind enorm", sagt die Juristin Edda Castelló (59), seit 1982 im Team. "So viel Andrang wie jetzt habe ich nie erlebt." Nepp bei Kaffeefahrten oder Gewinnspielen seien Langzeitthemen, neuer sind Kredite, Finanzdienstleistungen allgemein, Geldanlage, Immobilien, Energiefragen und, drastisch gestiegen, Abofallen im Internet. Die Leiterin der Abteilung Verbraucherrecht und Finanzdienstleistungen ist besorgt: "Klassische Verbraucherfragen geraten ins Hintertreffen - Abwehr von Betrug gewinnt an Gewicht."
Eine Rentnerin aus Osdorf nimmt im Warteraum Platz. Sie ist den Verlockungen eines eloquenten Verkäufers einer Telefongesellschaft erlegen. "Ganz schnell, völlig unkompliziert, viel billiger", hatte dieser garantiert. Und jetzt ist alles langsamer, komplizierter, teurer. Die Frau blickt sorgenvoll, hilflos. Wie viele an diesem Vormittag. "Firma anschreiben und widerrufen", meint Rechtsanwältin Maja Kreßin (31). Zwei Tage in der Woche ist die Juristin für die Verbraucherzentrale aktiv, die restlichen in einer Kanzlei. Schwerpunktgebiete: Versicherungs- und Verbraucherrecht. Mal berät sie persönlich in Einzelgesprächen, mal am Telefon.
Der Hamburgerin Dajana Köppel (29), die im Mai einen VW Polo bestellte, weitgehend bezahlte, ihn jedoch nie geliefert bekam, rät sie, dem Autohaus eine Frist von 14 Tagen zu setzen. Notfalls bliebe der Rücktritt vom Vertrag. "Jetzt weiß ich Bescheid", sagt die Operationstechnische Assistentin beim Abschied. Alle Briefe und Anrufe waren vom Verkäufer ignoriert worden. Sie gehört zu jenen Ratsuchenden, die kampfeslustig fortgehen. Anderen ist schwerer zu helfen.
Einer älteren Dame, die gleichfalls ungenannt bleiben möchte ("Wegen der Nachbarn..."), wurde "häppchenweise" Geld vom Girokonto abgebucht. 5000 Euro in zwei Jahren. Möglichkeiten, so die Information: zurückbuchen, Strafanzeige und vielleicht Klage. Die VZHH steht mit vorgefertigten Musterbriefen zur Seite, aber auch ganz konkret mit Rechtsvertretung. Oft jedoch, weiß Beraterin Kreßin, reichen einfach ein dickes Fell und die Beförderung einer unberechtigten Rechnung für nie erbrachte Dienstleistungen in die "Ablage P", den Papierkorb. Dubiose Inkassobüros, so die Erfahrung, stellen ihr dreistes Tun dann meist ein. Und suchen sich für ihre Abzocke neue, wehrlose Opfer. Auch hier ist die Tendenz steigend. "Erschütternd, wie Leute blauäugig in Produkte reinrennen und gar nicht wissen, was sie eigentlich unterschreiben - manchmal für sehr viel Geld", gibt Maja Kreßin ihre Erfahrung wider. Dreiste Geschäftspraktiken und "legaler Betrug" seien üblich. Dass der nette Berater aus der Bankfiliale nicht unbedingt objektiver Freund und Helfer sein muss, sondern auch an seine Provision denkt, dämmert manchem erst bei sinkenden Kursen. Oder Totalverlust.
Ganz so weit ist es bei Wladimir P. (60) noch nicht. Der Busfahrer bangt um 40 000 Euro, die er "auf guten Rat" in einem windigen Fonds platziert hatte, der zuletzt um mehr als 50 Prozent einbrach. "Ich kann nachts nicht mehr schlafen", sagt der Mann, Schweiß von seiner Stirn tupfend. Dabei nestelt er an seinem gelben Pappordner mit den Unterlagen. "Ich habe bei der Bank nach einem sicheren Papier gefragt, dessen Absicherung garantiert ist. Unterschrieben habe ich für einen hoch spekulativen Risikofonds." Und das nicht bei irgendeiner Bank, sondern einem der namhaften Kreditinstitute der Stadt...
Sein erspartes Polster für einen Teil des Lebensabends ist gefährdet. Beraterin Gabriele Schmitz (54), ebenfalls Rechtsanwältin, beruhigt. Ihr Rat: Nerven bewahren. Die Erfahrung habe gezeigt, dass die Kurse "irgendwann" wieder nach oben gehen. Juristische Schritte seien praktisch unmöglich. Gabriele Schmitz weiß, dass sich in den vergangenen Wochen weit mehr als tausend Hamburger bei der Zentrale meldeten. Ihre bittere Erkenntnis: Alles ist weg!
Die Anforderungen an die VZHH werden immer größer. Im vergangenen Jahr suchten 1,56 Millionen Verbraucher Fakten auf den Internetseiten www.vzhh.de . Im gleichen Zeitraum wurden 66 866 persönliche Beratungen organisiert, ein Plus von zehn Prozent zum Jahr davor. Hinzu kamen im vergangenen Jahr 105 000 telefonische Kurzauskünfte oder Beratungen. Tendenz ebenfalls zunehmend.
"Auch wenn wir eigentlich gut aufgestellt sind, können wir der jetzigen Nachfrage kaum Herr werden", sagt Günter Hörmann (58), seit 1992 Geschäftsführer der Verbraucherzentrale Hamburg. "Die Nachfragen haben sich in den letzten Jahren verzehnfacht", weiß er. Und stellt eine rhetorische Frage: "Für die Banken wird ein Schutzschirm von 480 Milliarden Euro aufgespannt, wo aber ist der Schirm für die Verbraucher?" Aus Mitarbeiterbefragungen wie persönlicher Beratung weiß er um die Nöte vieler ausgetrickster oder insolventer Bürger. Oftmals trifft es jene, die sich ohnehin nicht gut wehren können.
Deprimiert verlässt der Mann mit der Plastiktüte, der sein gesamtes Vermögen verloren hat, kurz vor 13 Uhr das Gebäude. Es gab Trost, sagt er, Hilfe allerdings nicht - sein Erspartes ist und bleibt weg. "Einmal im Leben habe ich einen Fehler gemacht", flüstert er, "und dann gleich einen so entscheidenden." Langsam geht er von dannen. Draußen setzt Sprühregen ein.