Heute vor 100 Jahren revolutionierte der Hamburger Apotheker Oscar Troplowitz mit Nivea die Hautpflege. Die Creme wurde rasch zur Weltmarke.
Hamburg. Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Damen der feinen Gesellschaft flanieren mit großen Hüten über den Jungfernstieg. Breite Krempen schützen vornehm blasse Haut vor zu viel Sonne. Wer etwas auf sich hält, verwendet außer den obligatorischen Pudern und Parfüms eine Fettcreme. Die zieht jedoch nicht in die Haut ein, sondern legt sich nur als dünner Film über Arme und Beine. Doch die Cremes verderben schnell und verströmen dann statt eines betörenden Dufts nur noch einen ranzigen Geruch.
In seinem Labor in Eimsbüttel brütet etwa zur gleichen Zeit der Chef der Firma P. Beiersdorf & Co. über einem Produkt, das die Hautpflege revolutionieren soll. Zusammen mit dem Dermatologen Paul Gerson Unna sucht Oscar Troplowitz, ein gelernter Apotheker mit mächtigem Schnurrbart, nach einer Möglichkeit, Wasser, Öl, Glycerin, Zitronensäure und weitere Inhaltsstoffe zu einer stabilen Creme zu verbinden. Die Lösung finden die beiden Männer 1911 in einer Entwicklung des Chemikers Isaac Lifschütz. Dieser hatte einige Jahre zuvor aus dem Wollfett von Schafen einen Emulgator namens Eucerit ("das schöne Wachs") gewonnen und ihn sich patentieren lassen.
Lange experimentieren die beiden Männer, bis sie die perfekte Mischung gefunden haben. Rosen- und Maiglöckchenöl verleihen der reinweißen Paste einen angenehmen Duft. "Nivea" nennt Troplowitz die neue Creme, nach dem lateinischen Wort "nix", Genitiv nivis. Das bedeutet "Schnee". Es ist die Geburtsstunde einer Weltmarke.
100 Jahre später ist Nivea die umsatzstärkste Hautcreme der Welt. Die Marke hat nach Angaben des Marktforschungsunternehmens Interbrand einen Wert von 2,6 Milliarden Euro. Von der klassischen Creme werden jährlich 123 Millionen Stück in mehr als 200 Ländern verkauft, der größte Teil davon wird nach wie vor in Hamburg hergestellt. 500 verschiedene Produkte umfasst die gesamte Markenpalette - die Japaner zum Beispiel schwören auf spezielle Nivea-Cremes, die die Haut weißer machen sollen.
"Anfang des 20. Jahrhunderts stellte eine Creme, in der sich Fett und Wasser dauerhaft miteinander verbinden, eine wirkliche Neuerung in der Hautpflege dar", sagt der Historiker Sven Tode vom Hamburger Institut für Firmen- und Wirtschaftsgeschichte. Schließlich war es nur so möglich, dass Feuchtigkeit in die Haut einzog und sie auf diese Weise vor Austrocknung schützte.
Auch sonst erweist sich der Apotheker Troplowitz, der die Firma Beiersdorf 1890 vom Gründer übernommen hatte, als ein Unternehmer neuen Stils. Sein Großneffe und späterer Beiersdorf-Vorstandschef Georg W. Claussen erinnert sich an ihn als besonders kunstsinnigen und sozialen Menschen. "Er war der erste Mann, der in Deutschland einen Picasso kaufte", erzählt der 98-Jährige. Als kleiner Junge war Claussen noch in der Villa des Firmenpatriarchen zu Gast. Auch habe Troplowitz schon früh einen Betriebskindergarten und eine Pensionskasse für die Mitarbeiter eingeführt.
Nivea ist anfangs jedoch kein großer Erfolg. Größter Umsatzgarant der Firma sind medizinische Pflaster, Salbenstifte und eine Zahnpasta namens "Pebeco". Den mäßigen Start der späteren Weltmarke führt Historiker Tode auf das Design der ersten Cremedosen zurück: Mit ihrem gelblich-grünen Look, mit üppigen Ornamenten überfrachtet, entsprachen sie zwar dem Geist des Jugendstils. "Manche Konsumentinnen mögen mit den Farben jedoch eher Krankheit assoziiert haben als eine pflegende Creme", glaubt Tode, der die Geschichte des Kosmetikkonzerns erforscht hat.
Das Erscheinungsbild von Nivea ändert sich radikal, als der ehemalige Fregattenkapitän Juan Gregorio Clausen 1925 das Ruder in der Werbeabteilung übernimmt. Es ist wohl die Liebe zum Meer, die den Leiter der Reklameabteilung die Farben Blau und Weiß für den neuen Markenauftritt wählen lässt. Die Entscheidung erweist sich als goldrichtig. "Der Vorschlag, Nivea in Blau zu hüllen, hat sich damals fabelhaft bewährt", sagt Ex-Vorstandschef Claussen, "denn von da ab lief das Geschäft."
Der international renommierte Hamburger Designer Peter Schmidt bewundert auch heute noch den Mut der damaligen Manager: Stilistisch habe sich der gravierende Relaunch an die Schlichtheit des Bauhauses angelehnt, das in den 20er-Jahren in Design und Architektur die Avantgarde darstellte. "Die blau-weiße Dose war gewissermaßen die ehrliche deutsche Antwort auf die aufwendigeren Produkte von internationalen Herstellern wie Helena Rubinstein oder Elizabeth Arden", sagt Schmidt, der selbst Flakons für Jil Sander und Gucci entworfen hat.
In den kommenden Jahren erweist sich die Marke Nivea als Trendsetter, Werbechef Claussen entwickelt gar einen Vorläufer heutiger Castingshows: Zunächst zeigt er auf Plakaten drei Hamburger Jungen als Werbestars. Nach dem großen Erfolg werden daraufhin die passenden "Nivea-Mädels" per Annonce gesucht - mit gigantischem Erfolg. Während des Dritten Reichs sorgt dann eine Frau dafür, dass die Werbeaussagen von Nivea weitgehend frei von nationalsozialistischer Ideologie bleiben. Es ist Elly Heuss-Knapp, eine Frauenrechtlerin, selbstständige Reklame-Fachfrau und die Ehefrau des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss. Für Beiersdorf entwickelt sie Rundfunkwerbung, die erstmals mit eingängigen Melodien als "Jingles" arbeitet. In einem solchen Spot namens "April, April" hat der spätere Bundespräsident einen Gastauftritt. Als brummelnder Vater ärgert sich Theodor Heuss darüber, dass seine Kinder die Familienkutsche mit Nivea-Creme eingeschmiert haben ...
Für die rund 1400 Mitarbeiter des Beiersdorf-Konzerns gibt es während der Zeit des Dritten Reichs allerdings nur wenig Grund zur Freude. Vorstandsmitglieder mit jüdischem Glauben müssen zurücktreten, Vorstandschef Willy Jacobsohn geht zunächst nach Amsterdam und führt von dort bis 1938 die ausländischen Tochtergesellschaften, bevor er in die USA emigriert. Der Konzern wird als "jüdisches Unternehmen" verunglimpft, die Konkurrenz startet Hetzkampagnen wie "Kauft keine Juden-Creme!".
Der Zweite Weltkrieg trifft das Hamburger Unternehmen besonders hart. Nahezu alle Auslandsgesellschaften werden beschlagnahmt, die Nivea-Markenrechte gehen in den vielen Ländern, die sich mit Deutschland im Krieg befinden, verloren. Nach dem Krieg sind die Produktionsstätten zerstört, es fehlt an Rohstoffen. "Exportgeschäfte konnten trotz aller Versuche noch nicht getätigt werden", heißt es in einem Bericht an den Aufsichtsrat aus dem Jahr 1947. Stück für Stück erwirbt der Konzern die Rechte an seiner wichtigsten Marke zurück. Der letzte Rückkauf erfolgt erst 1997 in Polen - 52 Jahre nach Kriegsende.
Das Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit sorgt dann dafür, dass die Umsätze des Beiersdorf-Konzerns rasch wieder steigen. "Bodymilk" und Sonnenschutzprodukte kommen neu auf den Markt. "Die Menschen begannen, ins Ausland in den Urlaub zu fahren und sich etwas zu gönnen", sagt der Leiter des Beiersdorf-Firmenarchivs, Thorsten Finke. "Dazu passte die Marke Nivea."
Immer weiter dehnt der Konzern seine Dachmarke aus, traut sich in den 1990er-Jahren sogar ins Geschäft mit dekorativer Kosmetik. Auch Lippenstifte und Make-up gibt es nun von Nivea. Doch der Angriff auf Luxusmarken wie L'Oreal oder Chanel erweist sich als Rohrkrepierer: So recht will man Nivea das hochpreisige Image nicht abnehmen. Noch heute versucht Beiersdorf dieses Geschäftsfeld wieder zurückzufahren und sich ganz auf die Hautpflege zu konzentrieren.
Trotz der wachsenden Internationalisierung ist der Nivea-Hersteller Hamburg als Stammsitz immer treu geblieben. Nur einmal gerät die Eigenständigkeit des Konzerns in Gefahr, als sich im Jahr 2003 der Versicherungskonzern Allianz von einem 44 Prozent großen Aktienpaket an dem Unternehmen trennen will und Procter & Gamble, der amerikanische Hersteller von Produkten wie "Pampers" oder "Meister Proper", sich die Weltmarke Nivea einverleiben will. In der Hansestadt läuten die Alarmglocken.
Der Hamburger Kaffeekonzern Tchibo, damals bereits zweitgrößter Beiersdorf-Aktionär, bietet ebenfalls für den Traditionskonzern. Doch zunächst ist der Familie Herz der Kaufpreis von fünf Milliarden Euro zu hoch. Im Herbst 2003 schaltet sich daher die Stadt Hamburg ein, erwirbt vorübergehend ein zehn Prozent großes Aktienpaket an Beiersdorf und ermöglicht es Tchibo so, die eigenen Anteile auf knapp 50 Prozent aufzustocken. Die Unabhängigkeit von Nivea ist damit gesichert.
Doch wie stehen die Chancen, dass die blaue Dose auch in 100 Jahren noch aus Hamburg kommt? "Gut", meint der ehemalige Beiersdorf-Chef Claussen, der mit seinen 98 Jahren fast so alt ist wie die berühmte Creme: "Dadurch, dass Nivea sich immer wieder erneuert, bleibt diese Marke sehr lebendig."