Das Handwerk werde derzeit von Lehrstellen-Anfragen aus Ländern wie Polen oder Tschechien „überschüttet“ und sieht die Entwicklung als Chance.

Warschau/Prag. Ab dem 1. Mai wird der deutsche Arbeitsmarkt uneingeschränkt für Migranten aus osteuropäischen Mitgliedstaaten geöffnet .Angesichts des freien Zugangs bemühen sich offenbar viele junge Menschen aus Osteuropa um einen Ausbildungsplatz in Deutschland. Das Handwerk werde derzeit von Lehrstellen-Anfragen aus Ländern wie Polen oder Tschechien „überschüttet“, zitierte „Bild.de“ am Montag den Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Dieser betrachtet den Trend äußerst positiv.

ZDH-Generalsekretär Holger Schwannecke sagte am Montag in Köln, dass die Arbeitnehmer-Freizügigkeit für das Handwerk vor allem Chancen berge.. Gerade die Handwerkskammern in den neuen Bundesländern wollten diese nutzen, weil der Rückgang bei den Ausbildungsbewerbern wegen des Bevölkerungsschwundes besonders drastisch sei. In Ostdeutschland blieben demnach 2009 und 2010 insgesamt rund 5000 Lehrstellen im Handwerk unbesetzt. Bundesweit konnten 2009 und 2010 insgesamt rund 18.000 Lehrstellen nicht besetzt werden.

„Unsere Betriebe haben in einzelnen Regionen und Branchen bereits Probleme, qualifizierte Fachkräfte und geeignete Auszubildende zu finden“, sagte der ZDH-Generalsekretär. Schon jetzt erhielten interessierte Betriebe Unterstützung, um ihre Ausbildungsplätze auch Jugendlichen aus den östlichen Nachbarländern anzubieten. Das große Plus einer Handwerkerlehre in Deutschland sei das „in Europa bekannte und bewunderte“ duale Ausbildungssystem.

Schon 2010 stieg laut ZDH im Handwerk der Anteil von Lehrlingen mit ausländischer Staatsangehörigkeit um drei Prozent auf 26.074. Junge Leute aus Polen suchen Stellen demnach nicht nur in der Grenzregion. Sie nutzen dem Verband zufolge zunehmend auch Kontakte zu Verwandten, um in Westdeutschland eine Lehrstelle zu finden. Auch in anderen EU-Ländern, vor allem in Spanien, wachse erkennbar das Interesse an einer Ausbildung in Deutschland.

Angesichts der guten Konjunktur und der stabilen Beschäftigungslage sehe das Handwerk der Entwicklung durch die seit dem 1. Mai geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit „ohne Angst“ entgegen, betonte Schwannecke in Köln. Die hohe Qualität des deutschen Handwerks brauche den Wettbewerb mit den osteuropäischen Nachbarn nicht zu scheuen. Der ZDH lege aber Wert auf faire Wettbewerbsbedingungen. Insofern dürften die für deutschen Handwerksbetriebe geltenden Arbeits- und Sozialstandards nicht durch ausländische Anbieter unterlaufen werden.

Dieser Sorge trat Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen entgegen. Trotz der großen Chancen durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU sei nun auch eine stärkere Kontrolle nötig, sagte sie der Onlineausgabe der „Deutschen Handwerkszeitung“. „Wir müssen konsequent die schwarzen Schafe identifizieren, damit die Freizügigkeit nicht in Verruf gerät“, sagte von der Leyen. Die Bundesregierung werde von Beginn an darauf achten, dass die in Deutschland geltenden Regeln und Gesetze auch tatsächlich eingehalten würden.

Seit dem 1. Mai haben Arbeitnehmer aus acht neuen EU-Staaten freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Bürger aus Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien und der Slowakei sowie aus den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen können sich dann ohne Einschränkungen eine Arbeit in Deutschland suchen. Ausgeschlossen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit bleiben vorerst Rumänien und Bulgarien.

Mehr Chancen für Migranten

Ab 1. Mai wird der deutsche Arbeitsmarkt uneingeschränkt für Migranten aus osteuropäischen Mitgliedstaaten geöffnet. Zuvor hatte Polen jahrelang für eine schnelle Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gefordert. Heftig kritisiert das EU-Land, dass Deutschland die sogenannte Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus osteuropäischen Mitgliedstaaten nach deren EU-Beitritt zunächst aussetzte. Die letzten Schranken fallen nun und viele Menschen auf beiden Seiten der Grenze haben plötzlich ein mulmiges Gefühl. Denn wieviele Arbeitsmigranten aus Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas tatsächlich nach Deutschland kommen, weiß so richtig niemand.

Während deutsche Arbeitnehmer Billigkonkurrenz aus dem Osten fürchten, herrscht auf der polnischen Seite Angst vor der Abwanderung bester Köpfe in den Westen. Deutschland galt seit dem 19. Jahrhundert als Hauptziel polnischer Arbeitsmigranten, bis heute nennen Polen jede Saisonarbeit im Ausland "saksy“ (Sachsen).

"Die Regierungen haben keinen Einfluss auf die Migrationsströme“, gab Polens Arbeitsministerin Jolanta Fedak vor kurzem im Parlament zu. Angesichts vieler Fragezeichen bemühen sich Regierungsvertreter und Experten an der Weichsel aber, die Gemüter zu beruhigen. Eine Massenauswanderung ins westliche Nachbarland werde es nicht geben, lautet der offizielle Standpunkt. So rechnet das Arbeitsministerium in Warschau mit maximal 300.000 bis 400.000 Migranten in den nächsten drei Jahren.

"Die meisten Wirtschaftswissenschaftler teilen diese optimistische Einschätzung. Pawel Kaczmarczyk von der Warschauer Universität rechnet damit, dass die Zahl der polnischen Arbeitnehmer in Deutschland von derzeit 350.000 bis 400.000 auf maximal 600.000 wächst. Nur eine tiefe Wirtschaftskrise in Polen könne die Ausreisewelle wesentlich verstärken, sagt der Wissenschaftler, der auch Regierungschef Donald Tusk berät.

Die private Arbeitsagentur Work Express in Katowice (Kattowitz) beobachtet zwar bei ihren Kunden ein steigendes Interesse an einem Arbeitsplatz in Deutschland. "Wöchentlich gibt es rund hundert Nachfragen, doppelt so viele wie im vergangenen Jahr“, berichtet Artur Ragan. Doch er prophezeit, dass mancher Auswanderer in einigen Monaten aus Deutschland enttäuscht zurückkehren wird – nicht zuletzt mangels Sprachkenntnis.

Fachkräfte wählten sowieso eher die USA oder Großbritannien als Auswanderungsland, meint der Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Plociennik von der Universität Breslau. Für Spitzenkräfte sei Deutschland nicht attraktiv genug.

In Tschechien ist das Interesse an einer Auswanderung nach Deutschland noch geringer. "Die meisten sind hier nicht sehr mobil“, sagt Bernard Bauer von der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer in Prag. Arbeitnehmer wechselten selbst innerhalb des Landes ungern von einer Stadt in die andere, die Lohnunterschiede zu Sachsen seien nicht sehr groß. Arbeitsminister Jaromir Drabek sagt: "Die meisten Leute, die in Deutschland arbeiten wollten, haben das bereits in die Tat umgesetzt.“

Tatsächlich gibt es bereits jetzt viele Möglichkeiten zur Arbeit in Deutschland. Seit zwei Jahrzehnten sind polnische Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und entsandte Bauarbeiter an deutschen Baustellen tätig. Für IT-Spezialisten, Akademiker und Selbständige ist der deutsche Markt seit Jahren offen. "Alle, die kommen wollten, sind schon längst am Rhein“, sagt der Chef der polnischen Dienstleistungsbetriebe in Deutschland, Julian Korman. Er bisher illegal gearbeitet habe, werde nun seinen Status legalisieren.

Als eine der wenigen ihrer Zunft warnt Krystyna Iglicka vom Institut für Internationale Beziehungen (CSM) vor einer Ausreisewelle aus Polen. Sie verweist auf geografische Nähe, Lohngefälle und ein Netzwerk von Bekannten als Faktoren, die für eine Abwanderung nach Deutschland sprechen.

Polen hatte bereits nach dem EU-Beitritt 2004 einen empfindlichen Arbeitskräfteverlust erlebt. Damals waren zwei Millionen Polen vor allem nach Großbritannien und Irland gegangen – Länder, die als erste ihre Märkte für osteuropäische Arbeitskräften öffneten.

Überblick

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zählt zu den vier Grundfreiheiten des gemeinsamen Binnenmarktes der Europäischen Union (EU). Bislang war der Arbeitsmarkt für Osteuropäer in Deutschland eingeschränkt, um den Zuzug von Billiglöhnern zu verhindern.

Vom 1. Mai an haben mit der Freigabe der Arbeitnehmerfreizügigkeit nun auch die Bürger aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Ungarn uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.

Rumänen und Bulgaren können die neue Freizügigkeit jedoch erst von 2014 an nutzen.

Deutsche Firmen dürfen künftig junge Menschen aus den oben angeführten acht EU-Staaten unbeschränkt ausbilden.

425 000 Bürger aus Osteuropa leben und arbeiten derzeit bereits in Deutschland. Rund drei Viertel von ihnen kommen aus Polen. Sie sind nach den Italienern mit 365 000 die zweitgrößte Gruppe der aus der EU stammenden ausländischen Arbeitnehmer. (HA)