Dobova. “Als kein Holz mehr da war, verbrannten sie Plastikflaschen, Tüten und Pullover.“ Christian Unger begleitet Flüchtlinge an der Grenze.
Das Morgengrauen in Dobova riecht nach verbranntem Plastik. Der junge Salman lehnt in seiner braunen Lederjacke am schweren Stahlgitter. „Fucking cold“, sagt er. Kinder hocken hinter ihm um das Feuer, das Männer in einer Ecke zwischen Zaun und Fabrikmauer angezündet haben. Und als in der Nacht kein Holz mehr da war, verbrannten sie Plastikflaschen, Tüten und Pullover.
Auf der Wiese räumen Männer und Frauen die Decken zusammen, manche bauen ihre kleinen Iglu-Zelte ab, andere werfen Pappkartons ins Feuer, auf denen sie in der kalten Nacht gelegen hatten. Der Plastikgestank sei gar nicht so schlimm, sagt Salman. „Die Helfer haben uns Dosen mit Sardinen zum Abendessen gegeben.“ In den Ecken und an Bäumen liegen noch die leeren Fischkonserven. „Und dann schlafen alle mit offenem Mund“, sagt Salman. „Bah!“ Europa schmeckt nach Brot mit Sardinen. Er kann darüber noch lachen.
Es ist kurz nach sieben Uhr in dem slowenischen Dorf an der Grenze zu Kroatien. Salman, der junge Mann aus dem Libanon, hat in dieser Nacht nie richtig schlafen können, die Temperatur war gerade noch über dem Gefrierpunkt. Gemeinsam mit 300, vielleicht 350 anderen lag er unter freiem Himmel, weil die Feldbetten in der Fabrik alle belegt waren. Jetzt wischt Salman mit dem Finger über sein Handy, er sucht Netzempfang. Ein neuer Tag auf der Flucht, vielleicht bringt er endlich eine Verbindung nach Hause, in die Heimat, wo ein Teil seiner Familie ausharrt. Vielleicht kann er eine Nachricht schicken. „Mir geht es gut.“ Mehr muss nicht. Vielleicht kommen alle gleich weiter, mit dem Bus oder Zug. Aus dem Lager an der slowenisch-kroatischen Grenze Richtung Österreich und Deutschland. Eigentlich ist es Salman egal, wohin. Hauptsache weiter. Hauptsache weg. Aber erstmal geht hier gar nichts.
An diesem Morgen ist die Welt von Stahlgittern, Polizisten mit Helmen und Soldaten eingezäunt – für Salman und die anderen Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, Irak und Afghanistan, aus Pakistan, Libanon und Albanien. Rotkreuzhelfer schenken heißen Tee in Plastikbechern aus und verteilen Äpfel. Kameraleute aus Deutschland, Frankreich und Slowenien filmen im Lager.
Leitartikel: Recht auch anwenden
Die andere Welt bündeln Politik und Medien in dem Schlagwort der „großen Flüchtlingskrise“. Aktuell ist Slowenien, das kleine Alpenland zwischen Österreich, Adria und Kroatien mit gut zwei Millionen Einwohnern der europäische Fluchtpunkt dieser Krise. Am Freitag sollen 14 000 Flüchtlinge durch Slowenien gereist sein. Die meisten transportierten die Behörden in Bussen und Zügen zur österreichischen Grenze, andere kamen aus Kroatien neu an der slowenischen Grenze an. Wieder andere, wie Salman, hocken in Camps.
Schon am Vortag zählte Slowenien 12 000 Flüchtlinge. Jedenfalls sind das die offiziellen Zahlen. Klar ist: Zigtausende Menschen aus Kriegen und Krisen in Nahost ziehen über den Balkan. In Syrien oder Irak beginnt ihre Flucht, sie erreichen die Türkei, bezahlen Schlepper für einen Platz in einem Schlauchboot nach Griechenland. Dann geht es weiter über die sogenannte Balkanroute. Kürzlich führte sie noch über Mazedonien, Serbien und den EU-Staat Ungarn. Doch seit Ungarns Regierung einen Stacheldrahtzaun an der Grenze bauen ließ, fliehen die Menschen über Kroatien und Slowenien.
Es ist eine Flüchtlingskrise, aber es sind zwei Welten. Die große, mit täglich aktualisierten Rekordzahlen derer, die ankommen, und mit Statements der Politiker der Europäischen Union. Sloweniens Regierung bat die EU um 60 Millionen Euro Hilfe in den kommenden sechs Monaten. Manche fordern Grenzzäune, andere sagen, das alles sei zu schaffen.
Und es gibt die kleine Welt in den Camps. Salman fragt: Wann kommen wir weiter? Wie weit ist es bis Österreich? Warum können wir nicht raus und uns im Supermarkt Zigaretten oder Käse kaufen? Polizisten und Helfer haben keine Antworten darauf. „Wir wissen nicht, wann es weitergeht. Es ändert sich dauernd. Vielleicht gleich, vielleicht in ein paar Stunden, vielleicht erst heute Abend“, sagt ein Helfer. „Tut mir leid.“ Er zuckt mit den Schultern und reicht Zigaretten durch den Zaun. „Vielleicht“ ist ein wichtiges Wort im Flüchtlingslager. Das Vage sagt sehr viel darüber aus, wie eine zerstrittene EU vor dem Organisationschaos steht. Am Sonntag soll ein europäischer Politiker-Gipfel in Brüssel Lösungen bringen. Vielleicht.
Ein slowenischer Polizist sagt, dass man sehr gut mit den Kollegen aus Österreich und Deutschland zusammenarbeite. Aber Slowenen und Kroaten reden nicht miteinander. „Die laden die Menschen in Zügen an der Grenze ab und winken sie nur in unsere Richtung.“ So sehen sie das in Slowenien. Und in Kroatien schimpfen sie zurück. Und alle sind offenbar noch immer überrascht, dass es so viele sind, die über den Balkan fliehen. Vergangene Nacht, berichten Polizisten, seien einige aus Kroatien durch den Grenzfluss nach Slowenien gewatet. Das Wasser der Save ist eiskalt. Aber niemand habe ihnen gesagt, dass es wenige Kilometer weiter eine Brücke gibt. Die Menschen kamen völlig durchgefroren an.
Masyon ist mit ihrem Mann und ihren vier Kindern aus Syrien geflohen. Vor ein paar Stunden sind sie über die kroatische Grenze nach Slowenien gekommen. Über die grüne Grenze, die herbstlich golden schimmert, durch Wälder und Wege, nachdem die kroatische Polizei sie im Zug bis zum Grenzbahnhof begleitet hatte. Sie haben die Brücke über die Save gefunden.
Auf dem Balkan haben Staaten das Schleusergeschäft übernommen
Jetzt warten sie auf einem Feld neben dem Fluss. Wieder sind es viele Hundert. Doch weil in den Lagern in Dobova kein Platz ist, dürfen sie nicht weiter. Soldaten und Polizisten bewachen sie, neben dem Transporter stehen gepanzerte Fahrzeuge, über ihnen kreist ein Hubschrauber, vor der Absperrung steht ein Trinkwassertank.
Auf dem Balkan haben Staaten das Schleusergeschäft übernommen. Es geht wie durch Schleusen von Land zu Land, von Lager zu Lager. Mal stockt der Marsch, mal werden sie weitergereicht. Mal gibt es ein Lager mit Zelten, Betten und Essen. Mal schlagen Polizisten auf Flüchtlinge ein, mal nicht. So erzählen es die Geflohenen in Dobova.
Auf einmal bringt sich vor dem Feld an der Save die Polizei in Stellung. Ein Mann macht eine Durchsage auf Arabisch. Alle jubeln. Ein paar Minuten später setzen sie sich in Bewegung, langsam, in Reihen, wie ein Demonstrationszug durch eine deutsche Innenstadt. Polizisten laufen vorweg. Es geht ins nächste Auffanglager.
Es gibt in der Grenzregion den Ausnahmezustand. Und das ist der Alltag. Schulkinder passieren Straßen, wo vorher noch Hunderte Flüchtlinge liefen. Ein Mann mäht seinen Rasen. Vor 20 Jahren haben sie hier Flüchtlinge aus Bosnien, Serbien oder Kroatien aufgenommen, als der Balkan im Krieg zerbrach. „Die Menschen hier kennen das noch“, sagt ein Polizist.
Masyon aus Syrien trägt einen Rucksack, an der Hand hat sie ihre Tochter. Sie laufen vorbei an Spitzdachhäusern der slowenischen Provinz. In einem Garten steht eine Rutsche, am Zaun ein Schild. „Vorsicht vor dem Hund“. Masyons Familie hat ihr Haus in Deir ez-Zor, einer Stadt im Osten des Landes, zurückgelassen und das Geschäft, in dem ihr Mann Kleidung verkauft hat. Sie war Mathelehrerin, sagt sie, die älteste Tochter studierte im dritten Jahr Chemie. Dann begann der Krieg, irgendwann kam der Terror des „Islamischen Staates“ dazu.
Vor drei Wochen floh die Familie. 7000 Dollar hatten sie gespart. 900 Dollar pro Person zahlten sie dem Schlepper, der sie im Boot in die Türkei brachte. „Wir wären für das Geld gerne nach Europa geflogen. Aber das geht ja nicht.“ Dann ging es weiter über Griechenland und den Balkan. 900 Dollar haben sie noch übrig.
Masyon spricht leise, aber ihr Englisch ist gut. Und sie fragt: Werde ich in Deutschland arbeiten können? Wird meine Tochter studieren? Ist Deutschland gut? Besser als Schweden?
Wer mit den Menschen spricht, hört diese Fragen oft. Die meisten wollen nach Deutschland, viele nach Schweden, manche nach England oder Belgien. Frieden, Arbeit, Leben – das ist der Dreiklang ihrer Hoffnung. Dafür haben sie viel riskiert, viel bezahlt. Sie zeigen Fotos auf ihren Handys von wackeligen Fahrten im Boot über das Meer, von den Nächten im Wald. Mahmot, ein junger Syrer, erzählt, dass er drei Versuche über das Meer gebraucht habe. Immer hätten die Schlepper gesagt, das Boot sei sicher, mit 20 Menschen an Bord. Dann waren es doppelt so viele. Zweimal streikte der Motor mitten auf See. „Wir wären fast ertrunken.“
Nach einer halben Stunde ist der Marsch für Masyon, Mahmot und die anderen vorbei. Es beginnt das Warten vor dem Tor zum Lager. Wieder übersetzen Männer mit Megafonen die Anweisungen der Polizisten ins Arabische. „Bleiben Sie ruhig! Es geht gleich weiter! Inshallah!“ Masyon steht mit Mann und Kindern weit vorne. Hinten in der hundert Meter langen Schlange sitzen Frauen, Kinder und Männer auf der Straße, andere auf dem Fußweg. Manche liegen auf dem Asphalt, lehnen den Kopf an ihren Rucksack, nicken weg. Ein Junge muss sich übergeben, die Mutter beugt sich über ihn, ein Polizist reicht Wasser. Ein Mann fragt: Wie lange müssen wir bleiben? Sechsmal schlägt die Kirchturmuhr.
Der kleine Ort Dobova liegt in der slowenischen Grenzgemeinde Brezice. Vor ein paar Tagen geriet Brezice in die Schlagzeilen, als in einem der Lager Zelte brannten. Manche sagen, Flüchtlinge hätten sie aus Protest gegen schlechte Bedingungen angezündet. Andere sagen, die Zelte hätten Feuer gefangen, ein Unfall. Egal welche Version stimmt – geblieben ist Verunsicherung bei der slowenischen Polizei und den Menschen im Camp.
Eine Helferin von Amnesty International berichtet, dass es nicht nur an Schlafplätzen im Lager fehle, sondern auch an Essen. Weder die Soldaten noch das Rote Kreuz würden nach dem Vorfall mit den brennenden Zelten das Camp betreten. „Also haben sie Brot und Flaschen mit Wasser über den Zaun geworfen.“ Das hätten aber nur die kräftigen Männer in den ersten Reihen abbekommen.
Trotz Chaos und der Kälte bleiben die meisten Menschen ruhig
Manchmal gibt es Streit in den Camps. Man hört dann nachts laute Rufe und das Bellen der Dorfhunde. Syrer schimpfen über Afghanen. Manche würden sich nur als Syrer ausgeben, andere hätten falsche Papiere. Gerüchte machen die Runde. Afghanen schimpfen über Pakistaner. Viele tragen die Konflikte ihrer Heimat mit in ihren Rucksäcken. Manchmal gibt es Streit vor Eingängen oder den wenigen Dixi-Klos. Und doch, trotz Chaos und der Kälte bleiben die Menschen ruhig.
Ein neuer Tag, ein neuer Treck. Wieder sind Hunderte angekommen auf dem Feld neben der Save. Österreich, heißt es heute, nehme nur noch langsam neue Flüchtlinge aus Slowenien auf. Und deshalb stöhnt der Syrer Mohammed. Sieben Kilometer müssen die 500 Menschen bis zum Lager in Brezice noch laufen. Jetzt machen sie eine Pause, hocken auf einer Decke und rauchen eine Zigarette. Viel könnte man jetzt reden über Syriens Diktator Assad, über den Terror des „Islamischen Staates“ oder über ihre Träume, in Europa Arbeit zu finden. Aber Pause heißt auch Pause von der Flucht. So reden wir lieber über Fußball. Über die Zaubertore von Messi beim FC Barcelona und die Weltmeister von 2014 um Schweinsteiger und Müller. Dann ruft ein Polizist: „Go! Go! Go! Pause machen könnt ihr im Camp!“