Wenn Kollegen zum Wochenend-Golf gehen, schnallt Dr. Matthias Angrés sein Notfallgepäck um und fliegt nach Kabul. Er behandelt dort verletzte und todkranke Kinder - und nimmt dafür einiges Risiko auf sich. Für viele ist der deutsche Arzt die letzte Hoffnung.

Wann die Scheiben rausgeschossen wurden, daran kann sich keiner mehr erinnern. Ewig schon kleben die gelblichen Folien an den Fensterrahmen im Operationssaal des Indira-Gandhi-Kinderkrankenhauses in Kabul. 15 Eingriffe pro Tag werden hier auf der schmalen Pritsche abgearbeitet. Wer sich eine Stunde lang im einzigen OP der 1973 von Indern aufgebauten Klinik aufhält, ist von oben bis unten in grauen Staub gehüllt. Sterile Instrumente gibt es kaum. Wer die Operation überlebt, darf sich in eines der 400 Metallbetten legen.

Meist wimmert darin bereits ein Häuflein Mensch. Essen oder trinken kann nur, wer von Angehörigen versorgt wird. Ihre Exkremente müssen die Kinder in Erdlöchern verbuddeln. Etwa 600 kleine Patienten nimmt das Krankenhaus auf. Hier liegen sie mit schwersten Verbrennungen, Brüchen, fehlenden Armen, abgerissenen Beinen, zerfetzten Hüften, heraushängenden Gedärmen, schweren Herzfehlern.

Wenn die Helfer am Morgen wieder 20 Bündel aus dem Haus tragen, konnte selbst Dr. Matthias Angres (49) nicht mehr helfen. Der Ärztliche Direktor des Hamburger Albertinen-Krankenhauses nimmt alle paar Monate die Route Hamburg- Kabul auf sich. Andere brausen zum Wochenend-Golfen, er schnallt sein Notfallgepäck um. Bis 120 Kilo hat der Anästhesist dabei: Verbandsmaterial, Instrumente, Schmerzmittel. "Bei Emirates Airlines winken sie mein Übergepäck einfach durch", sagt Angres. Man kennt ihn.

Wenn er mit 16 todkranken afghanischen Kindern zurückfliegt, die er in Deutschland operieren lässt, kann es sein, dass wie zuletzt zwölf von ihnen sich die Seele aus dem Leib spucken. Angres musste auch schon "richtig eingreifen", als ein verletztes Kind über den Wolken dem Himmel ganz nah schien. Eine Fluggesellschaft, die auch Sauerstoff transportieren würde, hat er noch nicht gefunden.

Seit Jahren knallt es dort, wo der Rucksack-Doktor mit dem lebensrettenden Besteck hinfliegt. Erst besetzten die Sowjets das einst schillernde Afghanistan, dann kamen die Taliban. Auch unter den Augen westlicher Soldaten geht das Terrorisieren, Explodieren, Massakrieren weiter. "Wir glauben ja, Afghanistan ist ein Schurkenland und alle Islamisten sind Selbstmordattentäter", sagt Angres. "Aber eine afghanische Mutter weint genauso um ihr Kind wie eine Deutsche."

Sie strecken dem Doktor aus Deutschland die Kinder entgegen. In wenigen Tagen 200 Jungen und Mädchen ansehen, operieren, versorgen und nebenbei den fünf, sechs sogenannten Ärzten der Unfallchirurgie zeigen, wie man besser narkotisiert und steril arbeitet - das ist sein Pensum pro Einsatz.

Zehn Millionen Landminen und Blindgänger liegen nach Einschätzung der Uno noch in Afghanistan. Zwei Millionen von ihnen stecken als Modell "Schmetterling" in der Erde. Bunt wie Spielzeug. Deshalb fehlen so vielen afghanischen Kindern Füße, Hände, Arme, Beine. Manche werden bei Explosionen vom Kinn abwärts verbrannt, andere fallen in die Feuerstellen ihrer Großfamilien. "Das kann bei zehn Kindern, die spielen, schon einmal passieren", sagt Angres.

Drei- bis viermal mehr Kinder als in Deutschland haben angeborene Herzfehler - Löcher in der Herzkammer, Fehlanlagen der Gefäße oder gefährlich entzündete Klappen. In Europa werden solche Kinder in den ersten Lebensjahren operiert und vollständig geheilt. In Afghanistan gibt es keine Herzchirugie.

Die Albertinen-Stiftung unterstützt Angres' Arbeit, wenn er mal wieder zwei Mädchen ausfliegt und von seinen Kollegen ohne Honorar operieren lässt. Auch die Medizin-Industrie spendet bisweilen künstliche Herzklappen. "Ich schäme mich nicht zu fragen", sagt Angres. "Darin bin ich richtig hemmungslos geworden." Er arbeitet eng mit seinem Kollegen Mehraban Mehrain vom Verein "Kinder brauchen uns" zusammen. Mehr als 250 afghanische Kinder hat der Verein in Deutschland operieren lassen.

Auf sein vier, fünf Personen starkes Team kann er sich bei seinen Hilfstrips verlassen. Ansonsten betont Angres seine Unabhängigkeit. Die geht so weit, dass er ohne Schutzweste durch Kabul und selbst in die Provinz fährt. Mit westlichen Soldaten hat er keinen Kontakt. "Die ziehen das Unheil an." Politisch will er nicht sein. "Wir sind als Menschen für Menschen da." Trotzdem rutscht es ihm dann doch raus: "Wir wären schon scharf drauf, dass uns mal die Bundeswehr mit den Kindern rausfliegen würde, die wir in Deutschland operieren lassen."

Dafür kennt er in vielen deutschen Kliniken Chefärzte, Direktoren, Spezialisten. In Angres' Netzwerk nimmt mal der eine, mal der andere Kollege ein paar Kinder, operiert sie, päppelt sie auf, schickt sie vielleicht versehrt, aber gesund und lebensfroh nach Afghanistan zurück. "Die Leute dort brauchen was zu essen und Bildung. Wer keinen Hunger mehr hat, unterstützt auch die Taliban nicht mehr."

An die Stromausfälle im Operationssaal hat er sich gewöhnt. Dass die meisten Kabuler sich ihr Wasser aus Brunnen holen, scheint sechs Jahre nach Kriegsende schon dramatischer. Reguläre Rettungswagen hat er in der Dreieinhalb-Millionen-Stadt noch nicht gesehen. "Wer verletzt ist, wird von Angehörigen ins Krankenhaus gebracht. Vielleicht hat man auch Glück, dass die Polizei einen mitnimmt." Von 3000 Ärzten in Afghanistan bekommt kaum einer ein regelmäßiges Gehalt. Mit dem Taliban-Regime sank das Ausbildungsniveau drastisch. Seinen freiwilligen, unbezahlten, seit drei Jahren mit Enthusiasmus betriebenen Nebenjob sieht Angres auch als Aufbauhilfe.

Weil es an Antibiotika fehlt, ist auch er gegen die hohe Zahl von Infektionen machtlos. Medikamente werden oft nur auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Und selbst wer für diese Pillen tief in die Tasche greift, ist vom Tod bedroht. "Da kriegt man einen Beutel und kann von Glück sagen, wenn die Tabletten einen nicht umbringen."

Der deutsche Arzt muss bei Einladungen zum Essen wachsam sein: "Die Afghanen sind sehr gastfreundlich. Man muss mit ihnen essen." Das bedeutet: Speisen und Getränke sind so zubereitet, dass der gewöhnliche Europäer Schlimmstes befürchten muss. "Aber man findet Wege, das wieder loszuwerden."

Bedrohlich ist bereits die Anreise. Angres fliegt meist mit Emirates über Dubai. Dort geht es vom glitzernden Terminal 1 per Bus in den schmucklosen Terminal 2. Hier checkt man nach Bagdad, Peschawar, Kabul ein. "Kham Air" knattert mit einer uralten Boeing 707 oder einer gleichfalls betagten DC 10 Richtung Hindukusch. Über Kabul fliegen die Oldies aus Sicherheitsgründen in engen Spiralen abwärts Richtung Landebahn.

Auf einem dieser Himmelfahrtkommandos nahm Angres ein Mädchen zur Operation nach Deutschland mit. Am Tag des Abschieds öffnete die Mutter ihre Burka - trotz aller religiösen Vorschriften - und sagte: "Ich möchte dem Mann einmal richtig in die Augen schauen, dem ich meine Tochter anvertraue."

"Man kann von Glück sagen, wenn die Tabletten einen nicht umbringen."

DR. MATTHIAS ANGRÉS