Heute Mittag, so gegen zwei, sagt Schubert, ist es ihm wieder eingefallen. Die ganze Geschichte. Als er in der Mittagspause die Pommes bezahlte. Er legt der dicken Blonden an der Kasse ein paar Münzen in die Hand, und auf einmal, wie aus dem Nichts, habe er plötzlich alles haarklein vor sich gesehen, so, als wär's schon immer da gewesen. Dabei war es über neun Jahre nicht da gewesen. Er hatte nämlich vergessen, was mit ihm passiert war an diesem Tag. Ein kleines Mädchen, ganz schüchtern und mit Schlitzaugen, hatte ihn auf dem Schulweg im Morgengrauen gefunden, er hing über einem Zaun, und sie hat die Polizei gerufen. Wenn er nicht überlaut geschnarcht hätte, hätte sie ihn wohl für tot gehalten, wie er dort schlaff hing, die Hände in der Lache seines käsigen Erbrochenen. Er war über einen Tag lang verschwunden gewesen und konnte sich an nichts erinnern. Schubert konnte immer ganz genau die Stelle sagen, an der die Erinnerung abbrach, das wusste er alles ganz exakt, kein Wunder, er hat jahrelang daran herumerinnert. Nur die Stunden danach, davon hatte er angeblich keinen Schimmer. Bis heute Mittag, so gegen zwei.

Häh, sagt Schubert und guckt mich an, als hätte ich was wirklich Unglaubliches gesagt, dabei habe nicht ich was gesagt, sondern er. Nämlich, dass er jetzt wieder genau weiß, was damals alles passiert ist. Häh, sagt Schubert nochmal, wie kann das sein, und wieder guckt er, als wüsste ich die Antwort, dabei weiß ich gar nichts, außer dass Schubert angeblich wieder Bescheid weiß. Ich kapier das nicht, sagt Schubert und reibt sich die Augen. Wo war das die ganze Zeit, und wieso ist es ausgerechnet jetzt zurück. So kennt man Schubert nicht, so aus dem Häuschen, Schubert, den alten Sortierer, den Saubermann. Plötzlich aufgeregt und wirr. Er stammelt, das habe ich noch nie erlebt. Nur Hähs und halbe Sätze, abgebrochen und vernuschelt. Wo ist der Schubert, den ich kenne und nicht leiden kann? Dieser Schubert, der Streichfett sagt und Butter meint, der alles sammelt, Kerzen, Kreuzworträtsel, Pappkartons, und nichts gebrauchen kann; er lebt allein und ernährt sich von Fischstäbchen, Nudeln und Ketchup, so einer ist das. Schuhe mit Klettverschluss, Hosen mit Gummizug, Funktionswäsche, Hauptsache praktisch. Dazu sein ewiges Schulterzucken, worum geht's denn sonst, bitte sehr? Keine Freunde, nie gehabt, keine Frauen, da wette ich. Heute benimmt sich dieser Kauz wie ein Mensch. Plötzlich Sympathie für Schubert, das ist mir ganz neu.

Mülltonne von oben, ich weiß nicht, wie oft er mir das erzählt hat, Mülltonne von oben ist das Letzte, an das Schubert sich erinnern kann. Das ist jetzt nicht die Überraschung schlechthin, Schubert ist Müllmann, wie ich, er hat jeden Tag Mülltonnen in der Hand, 183,4 im Schnitt, er hat's gezählt und ausgerechnet. Er fasst sie an, er schiebt sie rum, er leert sie aus, er rollt sie zurück. Genauso auch an diesem Tag im April, Schubert weiß sogar noch die Straße, die Hausnummer, Theodorstraße drei, er weiß noch das Wetter, leichter Nieselregen, grauer Himmel, gefühlte neun Grad. Schubert war, das hat er hundertmal erklärt, in keiner besonderen Stimmung, leichter Durchfall in der Nacht, er hat ein paar Mal rausgemusst und nicht besonders geschlafen, er war grummelig. Aber davon, sagt Schubert dann immer, verliert man doch nicht das Bewusstsein, das leuchtet mir nicht ein, warum da plötzlich nichts mehr ist. Schubert nahm also die schwarze Tonne, die vor der Hofeinfahrt stand, und schob sie zum Müllwagen, hängte sie ein, und sie ruckelte hoch und kotzte Müllbeutel, Papierschnipsel und einen alten Fahrradschlauch in den stinkenden Mülltanker. Es suppte etwas bräunliche Flüssigkeit hinterher, darüber ärgerte Schubert sich, über die Flüssigkeit und dass die Mülltonne von unten ganz dreckig war, das interessiert ja keinen normalen Menschen, nicht mal, wenn der normale Mensch Müllmann ist, aber Schubert schüttelte enttäuscht den Kopf und machte ein Kreuz in sein Notizbuch. Schubert betreut die Tonnen, so sagt er das, er ist Dienstleister in der Abfallwirtschaft. Dann rumpelte die Tonne wieder runter und Schubert rollte sie zurück und hörte, wie der Müllwagen schon um die Ecke bog. Und wie er auf den Deckel der Tonne guckt, bricht die Erinnerung ab, mittendrin und ohne Vorwarnung.

Schubert sieht Rasen und etwas Kotze, gelblich, dünn und nah. Vogelperspektive, sagt Schubert und legt die Stirn in Falten, also kopfüber über den Zaun hängend. Wirklich spitze Latten, wie kann man da eigentlich schlafen, guck mal, diese Löcher und wieder hebt er seinen Pullover und zeigt mir seine Narben, da sind natürlich keine Löcher, und Schubert ist so was von froh, dass er seinen guten Lederhut nicht aufhatte, der wäre doch sonst sicher in seiner Whiskey-Käse-Lache gelandet. Na ein Glück, sage ich, der gute Hut. Das kleine Mädchen, ganz aufgeregt, hat immerzu nur dünne kurze Töne von sich gegeben, und Schubert hat auch kein Wort gesagt, sie haben sich angesehen, Schubert hat geächzt und sich gesammelt, und irgendwann ist der Krankenwagen gekommen.

Achtzehn Stunden und ziemlich genau vierunddreißig Minuten, in der die Welt nicht ohne Schubert, aber Schubert ohne die Welt auskommen musste. So sagt er das, wenn er sich wichtig machen will, meistens hat er dann ein, zwei Bierchen drin.

Zaun, wieso Zaun, hat Schubert die ganzen Jahre über immer wieder gesagt, als wäre die ganze Geschichte ein kniffliges Rätsel, über das er nur lange genug nachdenken müsste. Ich träume von einem gelben Anorak und Frauenbeinen, seit Wochen, hat Schubert in der ersten Zeit gemeint. Ich hab dann immer nur die Schultern gezuckt und gesagt, nicht unbedingt beängstigend. Nein, aber das soll mir doch etwas mitteilen! Und dann hat Schubert verbissen und ernst geguckt wie ein schlechter Privatdetektiv, nur Zaun, ich meine: Zaun, das ergibt doch keinen Sinn! Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß, habe ich gesagt und vielleicht hat dein Hirn einfach mal aussortiert, Frühjahrsputz sozusagen. Vielleicht war dein Gehirn einfach gelangweilt von deinem scheiß immergleichen Tag und hat sich gedacht, so, schwups, einfach mal die Lichter aus und mal sehen, was dann mit dem Schubert passiert.

Schubert hat gemeint: Klappe halten, ob ich denn nicht verstehen kann, dass es einem Angst macht, dass es einen misstrauisch gegen sich selbst werden lässt, wenn man plötzlich und ohne Vorwarnung das Bewusstsein verliert und Stunden später, eine ganze Nacht später, im Morgengrauen von einem kleinen Mädchen gefunden wird, wie man im Halbkoma über einem Zaun hängt, dreißig Kilometer entfernt von dort, wo man zuletzt gesehen wurde. Dann wieder die Narben: Schubert hebt das Shirt hoch und zeigt mir kommentarlos seine Narben, zum hundertsten Mal. Da muss doch was dahinterstecken, ich bitte dich, Schubert macht die Lippen spitz, ich vermute, das soll besonders ernst wirken. Immerhin hat er seit neun Jahren ein Gesprächsthema. Seit neun Jahren war Schubert jemand. Der Typ, von dem keiner wusste, was mit ihm passiert ist, an diesem Tag. Der Typ mit der Lücke.

Wie ein Film, sagt Schubert und schüttelt den Kopf, ich seh das alles plötzlich wie einen Film vor mir, wo kommt das plötzlich her? Ich zucke mit den Schultern. Und wie ist der Film, frage ich. Ja, sagt Schubert, das ist es ja: langweilig. Wie, sage ich, neun Jahre lang denkst du an dieser Story rum, und es kommt nichts dabei raus? Da muss doch was drin sein, sage ich, so langweilig kann man doch gar nicht sein! Wie meinstn das, fragt Schubert, meinst du etwa, ich denk mir den ganzen Quatsch aus? Ich schüttele den Kopf, aber das ist eine Lüge. Eigentlich denke ich das schon. Eigentlich bin ich die ganzen neun Jahre davon ausgegangen, dass Schubert einfach keinen Bock mehr hatte auf Mülltonnen ausleeren und seinen neonorangenen Anzug, auf die ewigselben Straßen, Türen, Tonnen und Tage. Und dann hat er einfach bei irgendeiner Mülltonne gedacht: So, das war's, ich gehe. Und dann ist er gegangen, mitten bei der Arbeit, der Müllwagen bog um die Ecke und Schubert drehte um und verpisste sich und machte den Rest des Tages einfach, worauf er Bock hatte, langweiliges Zeug, wie ich Schubert kenne, aber anderes langweiliges Zeug als sonst. Davon bin ich ausgegangen. Und dann hat er sich im Morgengrauen über den Zaun gehängt, keine dämliche Idee: einfach das Ende einer Geschichte in die Welt zu stellen, das so abgefahren ist, dass man gerne wissen möchte, wie die ganze Geschichte geht. Und dann sagt Schubert einfach: Häh? Ich verstehs selbst nicht, kann mich an nichts erinnern - das ist die einfachste Ausrede überhaupt und sie ist geheimnisvoll noch dazu, und Schubert, seien wir mal ehrlich, hat sich doch schon immer nach einem Geheimnis in seinem Leben gesehnt, wenigstens nach einem kleinen. Schubert ist einfach nicht der Typ für Geheimnisse, nie gewesen, und das hat ihn selbst gewurmt, da ist es doch keine schlechte Idee, sich selbst eins hinzubauen. Und da muss ich auch einfach mal sagen: Respekt, Schubert, das hätte ich dir nicht zugetraut, dass du auf so eine Idee kommst, dass du das tatsächlich durchziehst. Neun Jahre sind ne lange Zeit. Schubert, würde ich am liebsten sagen, Schubert, ich habe dich unterschätzt, aber natürlich kann ich das nicht sagen, denn Schubert besteht ja darauf, dass alles genau so gewesen ist, wie er sich angeblich nicht erinnern kann. So und nicht anders.

Aber dass er jetzt behauptet, er könne sich wieder erinnern, und im Grunde sei damals einfach nichts passiert, das passt nicht. Das kann nicht sein Ernst sein: neun Jahre Geheimniskrämerei und wildeste Fantasien, und dann die totale Langeweile. Ich verstehe Schubert nicht. Nicht, dass ich vorher dachte: Ah, so tickt der Schubert!, so sehr hat er mich nie interessiert, dieser trübe Kerl, Schubert hat schon in der Schule die Trinkpäckchenstrohhalme aus den Papierkörben gepickt und nach Farben sortiert, Schubert hat eben einfach nichts vom Leben, er macht unbezahlte Überstunden und bessert die Stellen im Lack des Müllwagens aus, er setzt sich hin und isst schnaufend Graubrot und hält es für eine Freude des Daseins. Da schüttelt man den Kopf und ist froh, dass man ein eigenes Leben hat, das ein vollkommen anderes Leben ist.

Und dann plötzlich Unsicherheit, wer verarscht hier eigentlich wen? Ich dachte immer, ich mache mich lustig, aber vielleicht lacht Schubert auch, bloß zwei Etagen höher. Wir trinken nichts, so viel wollte Schubert nun auch wieder nicht springen lassen, er braucht nur einen, dem er das alles erzählen kann, und wen gibt es da schon außer mir? Wir sitzen also im Stadtpark auf einer etwas nassen Bank und essen die Pommes, die ihm den Kopf wieder aufgemacht haben.

Wie jetzt, sage ich, erzähl mal, was war da jetzt mit Frauenbeine und Anorak. Ja, sagt Schubert, nichts!, jetzt, wo ich alles vor mir sehe, ist da gar kein Anorak mehr. Ich stell also diese Tonne ab und kram in meiner Hüfttasche und mache sie wieder zu und lauf so die Straße runter und bieg um ein paar Ecken, da war so ein kleines Cafe, und ich setz mich rein und hau mir einen Kaffee nach dem andern rein und lese in der Zeitung, bestimmt ein paar Stunden, und dann zahle ich und gehe und steige in einen Bus, einfach nur, weil zufällig einer neben mir hält. Im Bus gucke ich einer Frau auf den Busen, bis sie aussteigt und ich auch, sie hinten und ich vorne, sie geht rechts, ich links und dann laufe ich und kaufe mir im Edeka Whiskey und einen Brie. Ich sitz so auf dem Parkplatz vor dem Markt und trink und ess und guck so rum. Schubert holt tief Luft und sieht mich entsetzt an, als wollte er sagen, das kann doch nicht sein, da verliere ich das Gedächtnis, und einmal im Leben wäre alles, aber auch wirklich alles möglich gewesen. Und was mache ich? Whiskey saufen, Brie essen, auf einem Zaun schlafen. So eine Chance und dann das!

Nee, sagt Schubert und schüttelt den Kopf. Er setzt sich etwas auf, wir glotzen auf den Rasen vor uns, da kullern ein paar junge Hunde herum, ihre Frauchen lachen, es nieselt, alles wie immer. Und dann weint Schubert, leise, aber sichtbar. Schubert weint, denke ich und sage: Was weinste, und Schubert zuckt die Schultern. Scheiße, sagt er mit richtig Zittern in der Stimme, wenn ich mich bloß nicht erinnert hätte, warum ist mir das bloß wieder eingefallen. Das macht doch keinen Sinn. Schubert, sage ich, was redest du da?

Was hat Schubert eigentlich geglaubt, also wenn er wirklich keinen Scheiß erzählt hat, die ganzen Jahre, und er tatsächlich nicht wusste, was gelaufen ist an diesem Tag. Dass er plötzlich ein wildes Tier war, nur weil sein Hirn mal für ein paar Stunden nicht auf Sendung war? Dass ihm plötzlich die krassen Geschichten unterlaufen sind, dass sein Leben plötzlich unfassbar und verrückt war? Warum? Woher? Whiskey saufen und Brie fressen und sonst gar nichts tun, das passt eigentlich ganz gut.

Jetzt bin ich wieder alleine, sagt Schubert, das ist doch Scheiße. Scheiße, schreit Schubert laut, so laut als würde man alles, was Schubert in seinem Leben bisher so zusammengegrummelt hat, lautstärkemäßig zusammenaddieren und auf einmal loslassen, so laut. Und ich gucke ihn an, und Schubert steht auf und rennt weg, er tritt gegen einen Baum und schreit, weil er sich dabei offenbar wehtut, und rennt weiter. So habe ich Schubert noch nie gesehen. Und ich denke: enorm, so ein Ausbruch. Wild und schön.


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