Ohne LESEKOMPETENZ kann niemand in der mulitmedialen Gesellschaft bestehen. Viele Kinder sind nicht ausreichend vorbereitet. Die größte Verantwortung tragen die Eltern.
Vorfreude auf ein neues Buch. Dem Geruch, der den Seiten entströmt, nachspüren, das Papier zwischen den Fingerkuppen fühlen, neugierig sein auf den ersten Satz, eintauchen in die Szenerie, die der Autor entwickelt: Lesen kann ein sinnliches Vergnügen sein für alle, die emotional beteiligt sind. Wörter und Bilder entstehen dabei im Kopf. Rund zehn Prozent der Bundesbürger gehören zum Kern der besonders aktiven Leser. "Vielleser sind kompetent wie nie zuvor, doch ein großer Teil der Deutschen ist immer noch nicht ausreichend auf die Anforderungen des Informationszeitalters vorbereitet", sagt Bodo Franzmann von der Mainzer Stiftung Lesen. Den Viellesern gegenüber steht eine wachsende Zahl von Nichtlesern. Lesekompetenz ist in unserer Informationsgesellschaft wichtiger denn je. Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie der Stiftung Lesen über das "Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend" hat ergeben, dass die Menschen, die den Computer nutzen, auch am meisten lesen. Nur wer lesen kann, weiß den Computer sinnvoll einzusetzen. "Die Wissenskluft wird immer größer. Die Menschen am unteren Ende der Skala haben keinen Gewinn durch neue Informationsmöglichkeiten, die anderen profitieren immer stärker", sagt Franzmann. "Lesefähigkeit und ausgeprägte Lesepraxis sind unabdingbare Voraussetzungen, um in einer multimedial geprägten Gesellschaft mithalten zu können." Lesen - und dazu zählt auch die Lektüre von Zeitungen und Sachbüchern - ist ein aktiver Prozess, der den Rezipienten fordert. Damit Lesen von einer Anstrengung zum Erlebnis werden kann, bedarf es gut ausgebildeter Lesekompetenz, deren Fehlen spätestens nach den Ergebnissen der Pisa-Studie in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist. Nachdenklich machen die Erkenntnisse der Forscher rund ums Buch. Zwei Drittel der Jugendlichen lesen gern oder sehr gern, aber nur ein Viertel greift täglich zum Buch; ein Drittel der Jugendlichen liest fast gar nicht. Lesemedien haben es in dem Maße schwerer, in dem elektronische Medien in die Kinderzimmer vordringen. 55 Prozent der Jugendlichen verfügen über einen eigenen Fernseher, jeder Zweite zu Hause über einen Computer, der von 51 Prozent mehrmals wöchentlich genutzt wird. Aber 37 Prozent der acht- bis 13-Jährigen haben zu Hause weniger als 20 Bücher und nur zehn Prozent mehr als 50. Der Zugang zum Buch ist nach wie vor ein Problem und steht meistens in Zusammenhang mit den Strukturen des sozialen Umfelds. Entscheidend ist auch der Einfluss der Bildung: Bei Gymnasiasten gibt es mit 47 Prozent fast doppelt so viele Vielleser wie bei Hauptschülern, umgekehrt sind 44 Prozent der Hauptschüler Wenigleser, aber nur 22 Prozent der Gymnasiasten. Leseerziehung bereitet auf das vor, was später in der Schule verlangt wird. Wer als Kind einen Zugang zum Lesen gefunden hat, kommt beruflich weiter als andere. Entscheidend für das Leseverhalten ist die Leseerziehung durch die Eltern; sie prägen am nachhaltigsten das Medienverhalten. Einfluss nehmen und verstärkend wirken können aber auch Kindergarten und Schule. "Ein Kind muss die Erfahrung machen, dass Lesen eine eigene Erlebnisqualität hat, dass Bilder im Kopf entstehen", so Franzmann. "Diese Kinder werden immer wieder zum Lesen zurückkehren." Eine sinnvolle Nutzung aller Medien nennen Fachleute Medienkompetenz. Sie muss heute wichtiges Erziehungsziel sein. Eine große Verantwortung liegt bei den Eltern. Sie haben lange besonderen Einfluss auf das Leseverhalten ausgeübt: Befragte der Studie, deren Eltern gelesen haben, gehören zu 52 Prozent zu den Viellesern, nur sechs Prozent sind Kaumleser. Wenn beide Eltern nicht lesen, gehören nur neun Prozent zu den Viellesern, und 47 Prozent lesen kaum. Aber gerade der Einfluss der Eltern ging in den vergangenen Jahren zurück. Jeder Vierte zwischen 14 und 19 Jahren gab an, dass zu Hause auf die Qualität der Bücher geachtet wurde, 1992 waren es noch 46 Prozent. Wie können Eltern Lesekarrieren fördern? Leseerziehung beginnt schon im Säuglingsalter. Die Sprache und ihre Entwicklung sind wichtige Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb. Förderlich sind ein Ansprechen der Sinne und Kommunikation mit dem Kind (nicht in der Babysprache). Das Anschauen von Bilderbüchern ist ein weiterer Schritt in die Welt der Sprache. Schon Kleinkindern vermitteln Eltern ihren Umgang mit Literatur. Vorlesen und das Nacherzählen komplexer Geschichten in einfachen Worten beim Betrachten der Bücher gehören ebenso zur frühen Leseerziehung. Kinder sollen sich Lektüre aussuchen und Eltern den Büchern einen angestammten Platz zuweisen, der ihre Wertschätzung widerspiegelt, rät die Stiftung Lesen. Vorlesen sollte früh als tägliches Ritual installiert werden; Eltern geben ihrem Kind gleichzeitig Aufmerksamkeit, Zuneigung und Anlass zu einem Gespräch. Viele Eltern und Pädagogen fordern eine Förderung in Kindergärten. Nicht erst Donata von Elschenbroich hat mit ihrem Buch "Weltwissen der Siebenjährigen" den Ruf nach mehr Lehre in Kinderjahren bekräftigt. "Nach allem, was man weiß, müssen die Erziehungspersonen je qualifizierter sein, desto jünger die Kinder sind", sagt Franzmann. Und auch Professor Jürgen Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und wissenschaftlicher Leiter des deutschen Pisa-Projekts, kritisiert, dass hier erst mit zunehmendem Alter von Kindern und Jugendlichen mehr Geld für Bildung ausgegeben wird, während in Ländern, die in der Pisa-Studie gut abgeschnitten haben, vor allem im Vor- und Grundschulbereich investiert werde. Durch den Übergang zur multimedialen Gesellschaft hat sich das Leseverhalten verändert. "Die Buchlektüre hat sich vom täglich eingeplanten Ritual zu einer Nischenbeschäftigung gewandelt. Man liest in einem Buch, wenn man Zeit hat und sich entspannt fühlt", so Franzmann. Wie auch der Kölner Leseforscher Erich Schön festgestellt hat, haben Jugendliche teilweise ihr Fernsehverhalten auf das Lesen übertragen. Sie zappen durch die Buchlandschaft. Während Anfang der 50er-Jahre noch etwa die Hälfte ein Buch vollständig gelesen habe, beschränkte sich im Jahr 2000 knapp ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen darauf, die Seiten zu überfliegen oder gezielt zu lesen. Der Leser passt sein Verhalten an das Informationsüberangebot an. Konsequente Leseerziehung wird somit immer wichtiger.