Berlin. 24 Jahre alt, eine queere Frohnatur und musikalisch: hochbegabt. Nemo ist in aller Munde – ein nonbinärer Mensch hat den ESC gewonnen.
Der Eurovision Song Contest hat dieses Jahr eine Person aufs Siegespodest gestellt, wie sie Europa und die Welt so noch nicht oft gesehen haben: Nemo Mettler, 24 Jahre alt, aus der Schweiz – und jetzt ein nonbinärer Star. Ein „Niemand“ war Nemo freilich längst nicht mehr, zumindest bei den Eidgenossen, die Nemo bei den Energy Music Awards 2017 als „Bester Schweizer Künstler“ feierten und bei den Swiss Music Awards unter anderem als „Best Talent“. Von da an ging es für Nemo erst bergauf, und dann nach Berlin.
1999 kommt Nemo zur Welt, in Biel, einer weltoffenen Kleinstadt an den Schweizer Sprachgrenzen, in einem freisinnigen Elternhaus – die Mama ist Journalistin, der Papa „Ideenerfinder“ – das dem Kind die Ungreifbarkeit schon in den Namen legt. „Meine Eltern dachten, wenn ich niemand bin, kann ich alles werden“, erklärt Nemo den lateinischen Namen, der „niemand“ bedeutet, in Schweizer Zeitungen. Da identifiziert sich Nemo noch als Mann, nicht als nonbinär, also keinem sozialen Geschlecht zugehörig, vereinfacht gesagt.
ESC 2024 gewonnen: Nemos Bühne kann auch die Straße sein
Die Eltern legten Wert auf eine musikalische Erziehung. Geige schon im Alter von drei, Schlagzeug lernt Nemo mit acht, dazu Tanz. Schon als 13-Jähriger steht er in Musicals auf der Bühne. Helikopter-Eltern, die das Kind auf die Bühnen zwingen? Eher nicht, Nemo will einfach Dinge ausprobieren, Tausende Ideen im Kopf. Die Bühne kann eine Straße sein oder eben eine Konzerthalle und dass es mit dem Singen einmal klappen würde, das war nicht ausgemacht. Die Stimme war ungewöhnlich hoch, schreibt der „Tagesanzeiger“ in einem dieser Tage viel zitierten Magazinbeitrag, „bis sie brach“.
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Aber auch mit Stimmbruch bleibt die Musikkarriere keine Selbstverständlichkeit, warum auch, Erfolg kommt selten von allein. Nemo arbeitet hart am Erfolg, die ersten Songs sind noch im Schwyzerdütschen verfasst. Zu Schlagzeug und Geige kommt Klavier, zum Gesang der Rap und mit 18 hagelt es Auszeichnungen: fünf Swiss Awards – alles etwas schnell, zu schnell vielleicht: Zweifel nagen an Nemo und ein Drang, sich zu verändern. Die Person sein zu dürfen, die Nemo sein will. Es folgen: ein Rückzug und das Comeback, als „Not Nemo“. Das Schwyzerdütsche weicht dem Englischen, der Sound wird weicher, poppiger.
Das Not vor dem Nemo verschwindet bald wieder und der Wohnort wechselt, wechselt oft und schnell. Zürich folgt auf Bern, Berlin weicht Los Angeles, das 2021 wieder Berlin Platz macht. Und das Reisen bildet, prägt, Nemo findet langsam zu sich selbst, trägt Röcke und lackierte Fingernägel. Um sich selbst zu gefallen, nicht anderen, probiert Nemo pinke Hüte. Bis Nemo dem SRF sagen kann: „So will ich sein und so fühle ich mich wohl“, das Outing ist da noch ein bisschen weg.
Nemos lange Reise zu sich selbst
Die Reise zu Nemo ist nicht nur eine musikalische, sie ist, natürlich, auch eine persönliche. Sie beginnt früh und füllt den Kleiderschrank, das „Chleiderchäschtli“, das sehr farbig sei. Das sagt Nemo in einem Interview, voller Kleidungsstücke mit persönlichem Bezug, Pullover mit Schachbrettmuster, Crocs, ein Tüllrock, überhaupt Röcke. Und der Schrank spiegelt wohl wider, was Mann heute darf und Frau sowieso. Oder vielleicht, was Mann sich trauen darf.
Eigentlich sei diese Frage nach dem, was für die Geschlechter erlaubt sein soll, ermüdend, findet Nemo und führt aus: „Jeder und jede soll das tragen können, womit er oder sie sich identifizieren kann“ – und das sei auch eine ganz persönliche Entscheidung. „Mode muss für mich in erster Linie einfach Freude machen.“ Das Gesellschaftliche, das Politische, das kommt nachrangig.
Weder Mann noch Frau – „einfach Nemo“
Im November 2023 kommt dann das raus, was Nemo in den Jahren zuvor über Nemo gelernt hat, was Freundinnen schon wissen, was Nemos Partnerin als Erste erfuhr. Es findet einen Ausdruck, auf Instagram, und der Ausdruck ist: pansexuell und nonbinär. Weder noch, nicht Mann, nicht Frau, und fühlt sich von allen Geschlechtern angezogen, emotional, sexuell. „Ich bin einfach Nemo“, soziales Geschlecht, Gender, das sei für Nemo wie eine Galaxie, „darin bin ich ein kleiner Stern“, schwebend.
Die Außenwahrnehmung habe nicht gepasst zu dem, wie Nemo sich fühlte, nicht zu Nemos echtem Selbst. Geschichten anderer Genderqueers hätten geholfen, das Puzzle zusammenzusetzen, bis es Klick machte, wo die Erkenntnis wartete, „dass da ein Platz für mich ist außerhalb des Binären“. Und was für eine Erkenntnis das war, die „befreiendste Erfahrung meines ganzen Lebens“, und wer sich selbst als nonbinär identifiziert, wird diesen Satz unterschreiben, es stimmt, ist echt und nicht abgeschlossen, eine Reise. Wie die von Nemo.
Nemos Reise führt nach dem Coming-out nach Malmö, den Song „The Code“ im Gepäck, entstanden in einem Workshop wenige Monate vor dem Instagram-Post vom November 2023, der sagt, meine Pronomen sind „they/them“. Aber im Deutschen, da passe auch einfach Nemo, ohne Pronomen. Klar, so einfach ist das mit den nonbinären Pronomen im Deutschen gar nicht, sie gibt es nicht – und „Dhey/Dhem“ ruft am Ende nur Söders Sprachpolizei auf den Plan.
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ESC in Malmö: Nemo knackt den „Code“
Zurück nach Malmö, „The Code“ knackt das ESC-Halbfinale, bei den Buchmachern steht Nemo hoch im Kurs, etwas höher als Eden Golan, die für Israel sang. Ein Politikum, dem sich auch Nemo nicht zu entziehen vermochte: Ein Statement zusammen mit anderen queeren Teilnehmern formuliert eine Solidaritätsadresse mit den Unterdrückten, den Wunsch nach Frieden, nach der Rückkehr aller Geißeln, ein vereintes Einstehen gegen alle Formen des Hasses – einschließlich Antisemitismus und Islamophobie.
Aber, beim ESC geht es ja nicht um Politik, nein, nie, sondern um Musik. Und musikalisch überzeugt Nemo. Überzeugt vor allem die Jurys, 365 Punkte von der Fachwelt, 226 aus dem Publikum, knapp 100 Punkte weniger als Eden Golan. Nemo gewinnt, mit 591 Punkten, gewinnt mit Abstand, die kroatischen Rammstein-Rocker von Baby Lasagna schaffen es auf 547 Punkte. Und damit gewinnt den ESC erstmals ein nonbinärer Mensch.
Das ist historisch und nicht nur für Nemo und die Schweiz ein riesiger Sieg und ein Grund zur Freude, sondern auch für alle nonbinären Personen. Denn über Nonbinäre war in Europa wohl selten so viel zu lesen, wie jetzt. Nie waren Nonbinäre so sichtbar – und Sichtbarkeit ist wichtig. Sie zeigt, was echt ist. Wir existieren.